Neues Geld, alter Alptraum? Durch das 777-Partners Investment ist Herthas Zukunft gesichert. Aber zu welchem Preis? Beginnt jetzt der Ausverkauf der Bundesliga. Nein. Der ist nämlich schon längst abgeschlossen
New money, old problems
Es ist vollbracht. Die Ära Windhorst ist beendet. Doch zu welchem Preis? Auch, wenn der „Big City Club“ inzwischen offiziell zu Grabe getragen wurde: Der Einstieg von 777 Partners vermag es nicht die Zeit zurück zu drehen. Mit dem Verkauf von weiteren Anteilen, einer kräftigen Finanzspritze, und der Einbettung in ein internationales Vereinsnetzwerk, scheint Hertha Pest gegen Cholera getauscht zu haben. Lauert auf der anderen Seite des Atlantiks die finale Transformation zum viel geschimpften Investoren-Club?
Tweets wie der von Netzwerk-Partner Genoa CFC, lassen nichts Gutes erahnen.
Die Turbulenzen um Hertha und Lars Windhorst scheinen wie eine Entblößung der dysfunktionalen Maschinerie des kommerziellen Profifußballs. Es zeigt sich einmal mehr, dass Geld keine Tore schießt. Nur Tradition und Nachhaltigkeit bringen Erfolg. Der Sport hat gesiegt; das Kapital verloren. Durch das frische Geld von 777 Partners droht allerdings das Rematch.
Wie so oft lohnt sich eine differenzierte Betrachtungsweise. Zunächst die Fakten: Hertha hat trotz Millioneninvestment keinen sportlichen Erfolg. Das Geld wurde ohne Strategie verpulvert. Aus diesem Blickwinkel haben die Kritiker:innen recht. Man darf aber nicht den Fehler begehen, das fehlgeschlagene Investment als Beweis einer Fußballromantik zu sehen, die nur Bier, Bratwurst, und keine Montagsspiele kennt. Das fehlgeschlagene Hertha-Investment wurde von vielen Seiten mit Häme und Genugtuung aufgenommen. Das vom Himmel herabfallende Geld hatte das Potential, disruptiv zu sein, die Wettbewerbsfairness zu attackieren und das Fundament des Sports ins Wanken zu bringen. Alles wahr. Wenn es nicht schon längst so wäre.
Objektiv subjektiv gesehen
Der Standpunkt, von dem aus Herthas Scheitern goutiert wird, steht nicht außerhalb des Kommerzes. Im Gegenteil. Er liegt mittendrin. Ist sogar auf ihn angewiesen. Dabei scheint es doch so einfach! Auf der einen Seite der größenwahnsinnige alte Dame, die sich einen monetär potenten, aber sportlich impotenten Investor angelacht hat. Dem gegenüber steht die unschuldige Bundesliga, die Tradition des Vereins und des Sports, das sich von den Arbeitervierteln Englands in die ganze Welt ausgebreitet hat.
Auch wenn die Tennor-Millionen einen Einblick in die kommerziellen Abgründe des modernen Fußballs gewährt haben: Diese Abgründe taten sich nicht einfach so vor Hertha auf. Stattdessen steht der Fußball seit Jahrzehnten auf einer allzu dünnen und bunt bemalten Spanholzplatte, die Marketingprofis und Funktionäre sorgsam über das ausgehöhlte Fundament des schönen Spiels gelegt haben.
(Photo by Cathrin Mueller/Getty Images)
Das sich die Kapitalinteressen an Hertha die Zähne ausgebissen haben, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es die gleichen Interessen sind, die ein vermeintlich homogenes Feld konstituiert haben, aus dessen Perspektive heraus das Scheitern des Kommerzes, aber nicht der Kommerz selbst empörend ist. Einfach gesagt: Eine Verwirbelung der Wasseroberfläche wird nur dann als störend erlebt, wenn es Kräfte gibt, die das Wasser ruhig und an Ort und Stelle halten.
Diese Gedanken gehen zurück auf die Ausführungen des Philosophen Slavoj Žižek zum Thema Gewalt:
„Subjektive Gewalt wird als solche vor dem Hintergrund einer Nullebene erfahren, auf der es keine Gewalt gibt; als Störung der »normalen«, friedvollen Ordnung der Dinge. Objektive Gewalt wiederum ist unsichtbar, da sie gerade diese Nullebene aufrechterhält, vor der wir etwas als subjektiv gewalttätig erfahren. Demzufolge verhält es sich mit der systemischen Gewalt wie mit der berüchtigten »Dunklen Materien in der Physik. Sie ist das Gegenstück zur nur allzu sichtbaren subjektiven Gewalt. Sie mag zwar unsichtbar sein, muss aber trotzdem berücksichtigt werden, will man verstehen, was sonst nur als »irrationaler« Ausbruch subjektiver Gewalt erschiene.“ – (Žižek, 2011, S. 10)
Tradition hat ihren Preis
Weil es Gefahr läuft, sich an der Tradition des Fußballs zu versündigen, ist das Tennor/777-Investment, durchaus als ein „subjektiver“ Gewaltausbruch zu werten. Der entscheidende Punkt ist aber, dass diese krass zu Tage tretenden finanziellen Interessen vor dem Hintergrund der systemischen und „objektiven“ Gewalt bewertet werden müssen. Es ist eben genau diese strukturelle Ebene, die aus dem Fußball und seiner Tradition ein gewaltiges Hochglanzprodukt erschaffen haben.
Sponsoren, Rechtevermarktung, Fremdkapital, und Marketing. Das sind die Faktoren, die den modernen Fußball mit Schmiermittel versehen, sodass das Produkt wohlgeölt und geräuschlos an die Fans verkauft werden kann. Was das Geschehen um Hertha also offen legt, ist nichts Besonderes, sondern die Regel. Außergewöhnlich ist lediglich die Konzentriertheit und die öffentliche Friktion mit dem das Kapital fließt.
Die traurige Wahrheit ist, dass sich der große sportliche Erfolg an die Tradition nur dann hängen kann, wenn der Weg durch objektive finanzielle Gewalt bereitet wurde. Vereine wie Dortmund, Liverpool oder Bayern sind über jeden Zweifel erhaben Traditionsvereine zu sein. Selbige Vereine machten aber 2021/22 zwischen 350 und 700 Millionen Euro Umsatz. Konkurrenzfähigkeit hat ihren Preis.
(Photo by Stuart Franklin/Getty Images)
Hinzukommt, dass selbst Vereine, die sich bewusst anti-kommerziell geben, diese Gegenpositionierung geschickt zu Marketingzwecken einsetzen. Das soll keine moralische Äquivalenz herstellen, verdeutlicht aber, dass die Idee eines urtümlichen und “echten” Fußballs vor allem dann kommerziellen Erfolg hat, wenn sie als Gegenthese zu den aktuellen Ereignissen gespielt wird. Das es sich ab einer gewissen Spielklasse eigentlich nur um zwei Seiten der gleichen Medaille handelt, wird gerne vergessen. So wirkt Hertha einerseits als mahnendes Beispiel, aber eben auch Bestätigung der eigenen Strategie.
Würden engagierte Fans die Seilschaften der finanziellen Abhängigkeiten nicht stets aufs neue thematisieren, das Geld würde nicht weiter auffallen. Es liegt in der Ironie der Sache, dass die perfekte Illusion, in der Geld in anonymen Konferenzräumen per Handschlag verteilt wird, gewaltvoll die Gestalt konstituiert, deren gewaltvolle Störung negativ aufgenommen wird. Anders gesagt: Die gewaltvolle Aneignung des Sports, immunisiert sich gegen sich selbst, indem sie eine Harmonie erschafft, die es auf gar keinen Fall zu stören gilt.
Nur Bernstein kann nach China gehen
Sollten wir also alle Hoffnung fahren lassen, uns angewidert abwenden oder blind ins Vergnügen stürzen? Natürlich nicht. Vielmehr müssen wir uns unserer Widerstandsmöglichkeiten und ihre kontextuelle Einbettung gewahr werden. Dass der 777-Deal zu diesem Zeitpunkt kommt, kann aus zweierlei Hinsicht als Glücksfall gesehen werden. Zum einen sichert das frische Geld die Spiellizenz. Das führt Hertha zwar in die bereits erwähnte Paradoxie, dass nur harte Kapitalinteressen die Tradition weiter bewahren kann, dem steht allerdings ein entscheidendes Hindernis entgegen: Kay Bernstein.
(Photo by Maja Hitij/Getty Images)
Das bezieht sich weniger auf die Person des aktuellen Präsidenten, sondern auf ihn als historische Figur. Wem glaubt man es eher, 50+1 verteidigen zu können? Einem windigen Politiker aus dem Berliner Klüngel, oder jemandem, der wie kein zweiter das Selbstverständnis und die Außenwirkung des Vereins beeinflusst hat? Vor diesem Hintergrund ist das 777-Geld notwendig, damit Tradition weiterbestehen kann, Kay Bernstein ist es aber auch, da er eben die individuelle und greifbare Verkörperung dieser Tradition ist.
Das bedeutet nicht, dass Herthas Fangemeinschaft keine Tradition leben würde. Es geht vielmehr darum, einen Fokuspunkt zu schaffen, jemanden der für das alles und damit zwar an der Spitze, aber auch hinter dem Verein steht. Somit ist Kay Bernstein einerseits Bremser, andererseits fällt ihm aber auch die Rolle des Möglichmachers zu. Denn ohne die Funktion des Moderierens und Abwägens, müsste der 777Partners-Deal entschieden zurückgewiesen werden.
Wer könnte da schon Nein sagen?
Dort wo die Dialektik aus Person und Geld gerade nicht zur Synthese kommt, zeigt sich das Establishment des modernen Event-Fußballs. Ist die Wahl Bernsteins nicht genau die Erfüllung des Wunsches nach einem authentischen Fußball, der den Fans gehört? Wer könnte also dagegen sein? Vielleicht eben jene Funktionäre und Meinungsmacher, denen es nur darum geht, ein bestimmtes Bild des Fußballs zu erhalten. Nämlich das, was für den Höchstpreis die Besitzer wechselt. Die tendenziöse Berichterstattung der BILD über die Vorgänge um Bobic-Günstling Axel Kruse zeigen, dass es der Fraktion, die Sonntags im Doppelpass laut nach den „echten Typen“ schreit, gerade nicht um Authentizität geht.
Es ist ein Offenbarungseid, dass Bernstein als Bedrohung für den Sport und den Verein dargestellt wird. Anstatt zu fragen, ob jemand, dessen Fansein und –engagement nicht zur Debatte steht, eine Bedrohung für den Fußball sein kann, muss man der Fragen nachgehen, welcher Fußball denn gemeint ist. Der partizipative, ehrliche, vollends im Sinne der Fans gestaltete kann es schon mal nicht sein. Welche Version bleibt noch übrig außer die, die im Verkaufsprospekt beworben wird?
Geld und Bauchschmerzen
Wie tief Tradition, Ideologie, und Kapital miteinander verwoben werden können, sieht man beim FC Bayern. Jahrelang von ehemaligen Spielern professionell und erfolgreich geführt, könnte man an der Säbener Straße die größten aller Fußballromantiker vermuten. Doch in der Hochglanz Amazon-Dokumentation spiegeln sich nur Rolex, Gas-Geld und Artikel 1 des Grundgesetzes.
München sollte deshalb eine Warnung für (ganz) Berlin sein. Der Grad zwischen Tradition durch Geld und Geld durch Tradition ist schmal und verlangt sorgsame Navigation. Bauchscherzen wegen des 777 Investments sind nachvollziehbar und gerechtfertigt. Herthas Fangemeinschaft hat in der Vergangenheit durch klare Bekenntnisse gegen Lars Windhorst gezeigt, dass sie sich nicht so einfach kaufen lässt. Fans von anderen Vereinen sollten aber vorsichtig sein, in Herthas Situation die Ausgeburt des modernen Fußballs zu sehen. Unzweifelhaft treten die negativen Seiten in Berlin gerade sehr deutlich hervor. Diese Deutlichkeit setzt aber Entwicklungen voraus, die über Jahre auf fruchtbaren Boden gewachsen sind.
Und dieser Boden wird nicht nur Olympiastadion, sondern in ganz Deutschland erfolgreich und meist geräuschlos bewirtschaftet.
Der Investor hat einen Abnehmer für seine Anteile gefunden. Ist das das Ende von Herthas Flirt mit dem großen Geld und eine Chance für eine Rückbesinnung? Durchaus, nur dass das schon längst stattgefunden hat; Dank des Investors.
Trauma
Es besteht keine Notwendigkeit das Chaos, dass Hertha seit dem Einstieg des Investors erlebt hat, en detail Revue passieren zu lassen. Wer sich trotzdem dafür interessiert, sei auf den Twitter-Thread unseres Chefredakteurs Marc Schwitzky verwiesen.
Windhorst-Einstieg, Big City Club, Covic beerbt Dardai, Covic kurz danach weg, Klinsmann übernimmt, bringt Friedrich & Köpke mit, spannendstes Projekt Europas, Rekordtransferwinter, Facebook-Aus, Tagebücher, Nouri-Intermezzo, Kalou-Stream, Lehmann kommt, Labbadia, Neuanfang, 1/3
Weniger das Dazwischen als der Anfang und das vermeintliche Ende, der unrühmlichen Causa Blei-Else soll Gegenstand dieses Textes sein. Nachdem der Investor zuletzt verkündet hat, einen Käufer für seine Anteile gefunden zu haben (Es ist wahr), scheint es, dass sich die letzten drei Jahre endlich in die Gesellschaft der Erinnerung an die Relegation von 2012 oder des 0:4 gegen den KSC von 2009 begeben könnte; Als albtraumhaftes Engramm des „Was-Wäre-Wenn“.
Das Ende?
Der angeblich bevorstehende Verkauf der Anteile stellt aber mitnichten das Ende da. Er ist lediglich der Epilog. Eine Fußnote einer Geschichte, die bereits am 26. Juni 2022 ihren Abschluss fand. Am Tag als die Mitglieder Kay Bernstein zum Präsidenten von Hertha BSC wählten.
Nun müssen wir uns doch in das Trauma des Dazwischen wagen. Nachdem der Investor eine Summe in Hertha investiert hat, die in etwa dem Bruttoinlandsprodukt von Mikronesien entspricht, wurde die Alte Dame von den jüngeren Mitgliedern der Bundesliga kritisch beäugt. Sollte sich hier ein Traditionsklub etwa mit der entrückten Welt des Event-Fußballs gemein machen? Als dann noch die sportlichen Erfolge ausblieben, war der Ruf vollends ruiniert, was dazu führte, dass die Verantwortlichen ihre Fehde ungeniert in der Öffentlichkeit auslebten.
(Photo by Cathrin Mueller/Getty Images)
Der investorisch-fußballerische Komplex schien schließlich mit dem Rücktritt von Alt-Präsidenten Werner Gegenbauer in sich zusammenzufallen. Das schrille Kandidaten(!)feld löste sich schnell auf. Ein Zweikampf zeichnete sich ab. Dort der Politiker, von Geruch des West-Berliner Filzes umwoben, und im dringenden Verdacht stehend ein Kandidat von Investors Gnaden zu sein. Ihm gegenüber ein Ex-Ultra. Einer, der Pyrotechnik im Stadion erlauben will. Ein Chaot. Einer, der nicht mal studiert hat und bei dem man sich nicht entscheiden kann, was die größte Leistung war: Als Jugendlicher im Osten der Stadt nicht zum Union-Fan geworden zu sein oder als Verantwortlicher Eventplaner tausende Jugendliche zu einem überschätzten Musikfestival an den Wannsee gelockt zu haben. Geld gegen Tradition. Beziehungen gegen Basis. Das Leben schreibt eben nur die schönsten Geschichten, weil der Fußball außer Konkurrenz antritt.
Ein verwundeter und gepeinigter Verein entschied sich für den Verein. Für jemanden, der die Fußballkultur Herthas nachhaltig geprägt hat. Jemanden, der von seiner Vergangenheit eingeholt wurde. Für den sie sogar zur historischen Notwendigkeit wurde. Was führte zu dieser Wahl. Es war der Investor. Es war das Scheitern des Projekts „Big City Club“. Im Ursprung des Chaos, fand sich die Lösung.
Nur eine Waffe taugt
„Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug“ sing Parsifal in der gleichnamigen Oper von Richard Wagner.
Ohne den Umweg und Wandeln am Rande des Investorentums, wäre die Wahl eines Ex-Ultras in das höchste Amt des Vereins undenkbar gewesen. Es ist das altbekannte Muster: Um Hertha zu heilen, verschreibt sich Hertha eine Dosis Hertha. Ein Vorgang, der nur möglich wurde, weil das vergiftete Geschenk des Investments eine tiefe Wunde im Verein hinterlassen hat. Es war aber eben auch jenes Geld, das einen Vorgang in Gang gesetzt hat, der dazu führte, dass nun jemand an der Spitze des Vereins sitzt, dem eines sicher nicht vorwerfen kann: Das es ihm nicht um Hertha ginge.
Prä-Investor noch als graue Maus verschrien, ist Hertha zwar nicht sportlich erfolgreicher, aber in Sachen Fußballkultur Vorreiterin. Aus diesem Grund ist alles, was nach der Wahl Bernsteins folgte, lediglich Makulatur. Ja, dass die vermeintlichen konspirativen Machenschaften des Investors sogleich ans Licht kamen, war nicht einmal überraschend. Der finale Ausstieg? Die logische Konsequenz.
Hertha ist wieder arm, aber endlich wieder sexy. Gerade in Zeiten, in denen die Faust des Kommerzes erbarmungslos auf das entstellte, aber immer noch schöne Spiel eindrischt, bis es brach in der Wüstensonne liegt, tut das gut. Obschon sportlicher Erfolg immer noch in weiter Ferne zu liegen scheint, das Kapitel Investor hat sein notwendiges Ende gefunden. Ruhige Zeiten voraus? Nein. Hertha wäre nicht Hertha, wenn sie sich nicht auch in Zukunft selbst ein Bein stellen würde. Aber Hertha wäre eben auch nicht Hertha, wenn nicht echte Herthaner das Sagen hätten. Ob von den Rängen des hoffentlich baldigen neuen Stadions oder den Räumlichkeiten der Hanns-Braun-Straße 2.
Mit der WM in Katar zeigt sich der Fußball von seiner hässlichsten Seite. Unser Autor erläutert, warum ein Boykott für ihn das Richtige ist.
Ich bin ein Planungsmensch. Dass ich zu Monatsbeginn noch keine konkrete Vorstellung habe, mit welchen Aktivitäten ich die kommenden vier Wochenenden verbringe, passiert höchst selten. Der Umstand, dass ich Fußballfan bin, kommt dieser Planungsaffinität stark entgegen. So weiß ich, dass in den Wochenenden zwischen August und Mai zunächst einmal der Spielplan zu Rate gezogen wird, bevor andere Dinge ihren Platz im Kalender einfinden. Und obwohl das schon seit meiner Jugend so ist und ich genug Zeit hatte, mich an diesen Rhythmus zu gewöhnen, fühlt sich die spielfreie Episode des Jahres immer wieder an wie kalter Entzug.
Daher bin ich stets dankbar dafür, wenn im Sommer ein internationales Turnier ansteht, das mir die Hertha-freie Zeit erträglicher macht. Auch wenn ich mich emotional schon vor Jahren von der DFB-Elf losgekoppelt habe, so löst insbesondere die Weltmeisterschaft nach wie vor einen besonderen Reiz aus, von dem ich nicht loskomme. Samstag, 13 Uhr, Australien gegen Senegal – ich komm später zum Grillen. Mittwoch, 18 Uhr, Elfenbeinküste gegen Japan – joggen gehen kann ich auch noch morgen.
(Photo by Matthias Hangst/Getty Images)
So sehr ich mir vor Weltmeisterschaften auch vornehme, nicht meinen kompletten Zeitplan auf die Spiele auszurichten, so groß ist die Gewissheit, dass ich am Ende doch 80 Prozent der Partien verfolge. Und warum auch nicht? Es ist die größte Sportveranstaltung der Welt. Vier Wochen, in denen Helden geboren werden und Karrieren ihren Höhepunkt finden. Momente, die sich auf ewig in das Gedächtnis jedes Fußballfans einprägen und Emotionen hervorbringen, die man nie mehr vergisst. Als Mario Götze in der 113. Minute im Maracana den Ball nach Flanke von André Schürrle im Tor versenkte und wenige Minuten später der Abpfiff ertönte, hatte ich minutenlang Freudentränen in den Augen. Auch wenn ich derartige Ekstase auf Länderspielebene nicht mehr empfinden mag – dass ich auf eine WM hinfiebere, steht seit jeher außer Frage. Oder vielmehr: Es stand außer Frage.
Der Tabubruch
Am 2. Dezember 2010 offenbarte der Fußball – an diesem Tag repräsentiert von FIFA-Präsident a.D. Sepp Blatter – sein hässlichstes aller Gesichter. Die Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses zur Vergabe der Weltmeisterschaft 2022 an den Wüstenstaat Katar stellte einen nicht für möglich gehaltenen Tiefpunkt in der ohnehin von Korruption und Geldgier durchzogenen Geschichte des Fußball-Weltverbands dar. Ein Turnier, das von seiner Internationalität und dem Aufeinandertreffen verschiedenster Kulturen und Identitäten lebt, wird in diesem Winter in einem Staat ausgetragen, der das Abweichen von der Konformität, wie sie die katarische Regierung definiert, verbietet. Ein Staat, der Homosexualität und Blasphemie mit Haftstrafen ahndet; Ein Staat, in dem Frauenrechte ein Fremdwort sind; Ein Staat, der im Jahr 2022 Todesstrafen und Peitschenhiebe verhängt; Ein Staat, der bis zum heutigen Tage den Tod von 6.500 Gastarbeitern, die für den Bau der WM-Stadien angestellt wurden, zu verantworten hat. Kurzum: Das komplette Gegenteil eines Orts, dem es gestattet sein sollte, durch die größtmögliche Aufmerksamkeit, die im Sport generiert werden kann, Werbung für sich zu machen.
Kritik an Katars Arbeitsbedingungen für Gastarbeiter (Photo credit should read Andy Buchanan/AFP via Getty Images)
Ein verbandsübergreifendes Versagen
Der Aufschrei ob dieser Vergabe war riesig und bestimmt auch bis heute große Teile der Berichterstattung, wenn es um die WM geht. Doch ist es illusorisch zu glauben, dass die Empörung, sobald der Ball rollt, immer noch aufrechterhalten bleibt. So war es vor vier Jahren in Russland und so war es auch bei den diesjährigen Olympischen Spielen in Peking. Wenn de Bruyne, Mbappé und Messi zu zaubern beginnen, werden es diese Bilder sein, die um die Welt gehen und nicht das Leid von Gastarbeitern. Sportswashing im ganz großen Stil also – und die ganze Welt schaut zu und klatscht Beifall.
Die Heuchelei des DFB in einem Bild (Photo by Alex Grimm/Getty Images)
Natürlich wären hier an erster Stelle die nationalen Verbände gefragt gewesen, dieser Farce ein Ende zu bereiten. Eine Weltmeisterschaft ohne England, Deutschland und Spanien hätte die FIFA ihren zahlungskräftigen-und willigen Sponsoren wohl kaum verkaufen können. Aber dass der DFB bei der Frage nach Anstand oder Kapital schneller entscheidet als der VAR und in Sachen Ethik ohnehin sehr flexibel agiert, ist wahrlich kein Geheimnis. Wer also darauf gehofft hat, dass irgendein Entscheidungsträger inmitten der lila Scheine noch zufällig seinen moralischen Kompass entdeckt, lag weit daneben. Doch was heißt das nun in letzter Konsequenz für uns als Zuschauer*innen?
„Aber die spielen doch sowieso – egal, ob ich einschalte oder nicht“
Wir als Einzelne werden Katar nicht verhindern können. Diese Wahrheit ist unumstößlich. „Also macht es doch eh keinen Unterschied, ob ich einschalte oder nicht.“ So oder so ähnlich verlaufen Diskussionen über die WM in Katar mehrheitlich und erinnern dabei stark an die Debatten in Bezug auf Klimakrise oder Fleischkonsum. Und das soll nicht heißen, dass ich selbst so lebe, wie ich es am liebsten predigen würde. Weder ernähre ich mich konsequent vegetarisch, noch greife ich ausschließlich auf öffentliche Verkehrsmittel zurück. Doch an dieser Stelle ist für mich persönlich der Punkt erreicht, an dem das eigene Gewissen nicht zulässt, mit meinen Einschaltquoten und Beiträgen in sozialen Netzwerken einen Unrechtsstaat zu unterstützen.
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Das Kribbeln ist weg
Und tatsächlich fühlt es sich zum aktuellen Zeitpunkt nicht einmal so an, als würde ich dabei auf etwas verzichten müssen. Denn das Kribbeln, das ich sonst schon lange vor Weltmeisterschaften verspürt habe; die endlosen Debatten darüber, wer denn nun Favorit ist und ob sich der beste Spieler aller Zeiten nun endlich mit dem WM-Pokal krönt – all das, was eine WM schon im Vorfeld so reizvoll macht, verpufft und wird überschattet von dem Gedanken, dass hier etwas ist, das nicht sein darf.
Ob ich diesen Standpunkt so konsequent durchhalte, wenn im Winter die Entzugserscheinungen auftreten und ich feststelle, dass ja gerade ein Fußballspiel läuft? Ehrlicherweise wäre es geheuchelt, diese Frage zu 100 Prozent mit Ja zu beantworten. Was ich jedoch weiß ist, dass mein Kalender für die Zeit vom 20. November bis zum 18. Dezember noch leer ist.
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Am Wochenende startet die 60. Saison der Fußball-Bundesliga. Und diese Jubiläumssaison beginnt natürlich für Hertha BSC mit einem absoluten Kracher. Zum Auftakt geht es nach Köpenick zum Derby gegen den 1. FC Union Berlin. In der Vergangenheit gab es legendäre Spiele im Stadion an der Alten Försterei, genauso im Berliner Olympiastadion. Und auch wenn die letzten Derbys für die Alte Dame alles andere als gut endeten, können auch Hertha-Fans auf tolle Erlebnisse gegen den Stadtrivalen zurückschauen. Zeit, den Protagonisten dieser Spiele unsere Liebe zu gestehen.
Sandro Wagner, Maik Franz und Ronny: Wisst ihr noch damals?
Lieber Sandro, lieber Maik, lieber Ronny,
könnt ihr euch an jene Nacht am 3. September 2012 erinnern? Ja es ist schon zehn Jahre her und doch fühlt es sich noch frisch an. Es waren harte Zeiten. Wir waren zuvor in einem nervenaufreibenden Relegationsdrama in Düsseldorf gescheitert und die ersten Wochen der Saison liefen auch nicht so, wie wir es uns wünschten. Jos Luhukay meckerte gar auf einer Pressekonferenz in Frankfurt. Und nun ging es schon am 4. Spieltag nach Köpenick. Wir hatten Druck. Ihr hattet Druck. Wir Fans hatten Sorgen. Wollten wir doch so schnell es geht, wieder zurück in die Bundesliga. In dem Hexenkessel im Stadion an der Alten Försterei ist es für Gegner niemals einfach. Doch ihr habt gezeigt, wer die Nummer 1 in Berlin ist.
Sandro, mit uns war es nicht immer einfach. Strenggenommen hast du dir nie wirklich was zu Schulden kommen lassen, das müssen wir so festhalten. Doch mit uns hat es nie so richtig geklappt, in den drei Jahren damals konntest du leider nicht oft überzeugen, doch in jener Nacht hast du dich unvergesslich gemacht. Als du den Ball im Strafraum von Peer Kluge zugespielt bekommen hast, hast du all dein Selbstbewusstsein und Mut genommen und gebündelt. Du hast es gemacht wie ein Stürmer, wie ein eiskalter Goalgetter, du hast geschossen, du hast getroffen. Du hast gejubelt, ja du hast auch ein wenig die Heimfans provoziert, aber das war okay, so bist du nun einmal. Wir führten plötzlich in Köpenick und für einen Moment war dieser Teil Berlins mucksmäuschenstill. Nie war unsere Liebe heißer, als in diesem Moment.
Lieber Maik, man, was warst du für ein Kämpfer. Irgendwo da draußen wirst du immer noch sein. Du warst damals oft verletzt und hast uns in vielen Situationen bitter gefehlt, doch an jenem Montag hast du gekämpft. Du warst der heiß geliebte Iron-Maik. Du warst nicht der Ballkünstler, du warst der Mann für das Grobe. Du warst der, den man für ein Derby brauchte. Du warst für Derbys geboren. Du warst das Derby. Bis heute schau ich mir liebend gern die Szenen an, als du Unions Stürmer Silvio an der Eckfahne in den letzten Sekunden des Spiels zusammenschreist. Die gelbe Karte für dich war das Zeichen deines unermüdlichen Einsatzes. Du hast gezeigt, wie viel dir das bedeutet, bis heute zeigst du es. Mit uns hat es gepasst, Maik, wir waren füreinander bestimmt in der damaligen Zeit. Es war wundervoll, es war einzigartig und es war eine goldene Liebe, die ewig brennt.
(Photo credit should read ODD ANDERSEN/AFP via Getty Images)
Geliebter Ronny, es war dieses eine wundervolle Jahr. Es war nicht nur diese eine besondere Nacht, ja, sie war eine der intensivsten, genau wie ein halbes Jahr später im winterlichen Treiben im Olympiastadion. Du und dein linker Fuß, das war Liebe. Das war kraftvolle Liebe, ja fast schon brachiale Liebe. Und wir alle gemeinsam, du und dein linker Fuß und wir Fans, wir waren eine unzerstörbare Gemeinschaft. Wir brauchten einander und wir schenkten einander. Wir genossen, wir feierten, wir hatten heiße Momente. Dieses eine Jahr. Ronny, du hast 18 Tore geschossen, 14 weitere vorgelegt. Erinnere dich an jene Nacht in Köpenick. Der Ball lag genau da, wo du ihn haben wolltest. Vor dem Strafraum, relativ zentral. Mit Wucht zimmertest du das Spielgerät in die Maschen. Und erinnere dich an den folgenden Februar. Wie wir gemeinsam im weiten Rund des Olympiastadions gefeiert haben. Gemeinsam lagen wir schon mit 0:2 gegen die Köpenicker zurück. Und dann bist du zur Ecke angetreten und hast den Ball auf deinen Kumpel Adrian Ramos geflankt, der das machte, was er immer tat. Ein Tor erzielen. Und Ronny, dann sollte ein weiterer Höhepunkt unserer Liebe folgen. Als du in der 86. Minute einen deiner vielen Freistößen mit Kraft und Gefühl verwandelt hast, ist in uns allen etwas explodiert, was mehr als grenzenlose Liebe war. Du feiertest mit uns zusammen. Du jubeltest, wir jubelten, du stürztest im zusammengefegten Berliner Schnee und verletztest dich an der Hand. Für uns, für dich, für Hertha BSC. An diesem Abend, in jener Nacht waren wir nicht nur dein linker Fuß, wir waren nicht nur deine verletzte Hand, wir waren alle eins. Eins mit dir. Geliebter Ronny.
(Photo credit should read JOHN MACDOUGALL/AFP via Getty Images)
Vedad Ibisevic, Matheus Cunha, Krzystof Piatek: Die Erinnerungen bleiben für immer
Oh Vedad, my Vedad. Bzw. Oh Captain, my captain. Denn das warst du. Du warst der Boss, du warst der Anführer, du warst unser Kapitän. Mit dir an unserer Seite fühlten wir uns über Jahre sicher. Du und dein graumeliertes Haar, du und deine spielerische Ruhe, du und deine Lust auf den Krawall mit Gegenspielern und Schiedsrichtern. Du hast dich für uns eingesetzt, du hast alles investiert, du hast so viel gegeben, wir haben versucht dir diese Liebe zurückzugeben. Bis heute gehören wir zusammen und schwelgen in gemeinsamen Erinnerungen. Der damalige Abend. Du warst der Herbergsvater dieser Truppe, die sich nach einer brachialen Sturm und Drang Phase auf dem Transfermarkt gefunden hatte. Du bist geblieben, du wolltest den gemeinsamen Aufstieg, du hättest den gemeinsamen Abstieg mitgemacht. Und an jenem Abend, einem vorsommerlichen Mai-Tag, führtest du uns zu einem fulminanten Derby-Sieg. Du zeigtest, mit wem zu rechnen war. Du wolltest uns zeigen, wie sehr die Liebe und Kraft noch in dir brennt. Du zeigtest den jüngeren den Weg. Du warst es, der uns in der zweiten Halbzeit nach einer langen Geduldsprobe in Führung brachte, du hast deinen Mitspielern die Chancen und Tore aufgelegt. Du hast Dodi Lukebakio geschickt, du hast Matheus Cunhas am Vorabend der Geburt seines Kindes einen Dribbeltanz ermöglicht, gemeinsam habt ihr im leeren Olympiastadion gefeiert. Damals waren wir an den Bildschirmen dabei, wir feierten, wir brannten für euch. Irgendwie waren auch wir dabei. Zumindest in deinem Herzen.
(Photo by STUART FRANKLIN/POOL/AFP via Getty Images)
Matheus Cunha, was war das für eine heiße Zeit mit dir. Du hast Erinnerungen an alte Zeiten mit Marcelinho aufgefrischt. Wir waren verliebt. Nicht nur in die Vergangenheit, vielmehr in die Gegenwart und hoffentlich Zukunft. Du hast uns so viel bedeutet. Du hast eine Form von Spaß nach Berlin gebracht, den wir so lange nicht kannten. Du hast die Gegner zum Tanz aufgefordert, du hast gedribbelt, brilliert, ein Tor erzielt, du hast Spaß gehabt und Liebe verbreitet. Am Abend wurdest du Vater, du wolltest direkt nach deiner Auswechslung ins Krankenhaus zu deiner Frau. Wir wären sofort mitgekommen, hätten wir gedurft. Ein wahres Derby-Baby sollte zur Welt kommen. Doch Matheus, so heiß diese Liebe war, so kurz war sie. Wir waren zu klein für dich. Du wolltest in die weite Welt, du wolltest mehr und Neues kennenlernen. Und Matheus, das war okay. Wir haben dich in positiver Erinnerung, vielleicht denkst du auch ab und an noch an uns. Die Geburt deines Kindes wirst du immer damit verbinden, vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder.
(Photo by Stuart Franklin/Getty Images)
Krzystof, es ist kompliziert mit uns. Aber auch wir schätzen einander. Wir hatten im Winter 2020 große Lust aufeinander. Gemeinsam wollten wir unseren Spaß haben, wir wollten die große weite Welt erkunden, wir wollten einander wachsen und uns lieben. Doch es war schwierig mit uns. Aber lieber Krzystof, auch wenn es nicht immer einfach zwischen uns war, hatten wir diese eine Nacht. Diesen einen besonderen Moment im Olympiastadion. Als wir gemeinsam zu Derbyhelden werden wollten. Wir konnten wieder einmal nicht anwesend sein, doch wir haben dir genau zugeschaut. Wir haben deinen Kampf, deine Leidenschaft und deine Qualitäten bewundert, wir wollten mehr von dir. An jenem Abend hast du uns gezeigt, was möglich gewesen wäre mit uns. Wir haben das gesehen, wofür wir hofften bestimmt zu sein. Du erzieltest zwei tolle Tore. Du machtest uns zu Derbysiegern, du selbst wurdest zur Legende. Deshalb geliebter Krzystof, egal wie das zwischen uns endet, wir bereuen nichts. Du bist in unseren Herzen.
Am Sonntag wählt Hertha BSC einen neuen Präsidenten. Es scheint auf einen Showdown zwischen zwei Kandidaten hinauszulaufen. Namen sind nicht bedeutend. Was zählt, ist der Inhalt und ob der neue Präsident Hertha das geben kann, was die in Jahre gekommene Dame braucht.
Zu allererst ein Disclaimer: Ich bin am Sonntag nicht stimmberechtigt. Trotzdem beobachte ich die Situation von Hertha seit Jahren und mit zunehmender Sorge.
Hertha steht erneut an einem Scheideweg. Werner Gegenbauers Rücktritt nach 14 Jahren an der Spitze des Vereins hat ein Machtvakuum hinterlassen, in das verschiedene Kräfte hineinzuströmen versuchen. Die Nerven liegen blank. Die Kandidaten rechtfertigen sich öffentlich oder schlagen gleich wild um sich. Solch ein Verhalten steht dem, was Hertha jetzt braucht, diametral gegenüber. Am Sonntag sollte es nicht um reine Namen und Geschichten, sondern um Inhalte gehen. Darum, welcher der Kandidaten Hertha befrieden und dem Verein helfen kann.
Hertha braucht … einen Plan
Durchwurschteln ist nicht mehr. Hertha muss planvoll und zukunftsorientiert agieren. Aktionismus muss gegen Strategie getauscht werden. Der neue Präsident muss eine klare Agenda vorlegen, die Mitglieder, Fans, Mitarbeiter:innen und Spieler berücksichtigt. Die nächste Präsidentschaftswahl ist bereits 2024. Bis dahin muss der Verein so ausgerichtet sein, dass finanzieller und sportlicher Erfolg nicht mehr von einzelnen Namen abhängig sind. Dazu muss ein solides Fundament gegossen und nachhaltig darauf gebaut werden. Das nunmehr versandete Projekt „Goldelse“ sollte das in der Profi-Abteilung leisten, hing aber leider zu sehr an der Personalie Carsten Schmidt. Ein neuer Präsident muss darauf hinwirken, dass der Verein sich eigenständig und aus innen heraus stabilisieren und tragen kann.
Ein „Weiter-so“ hat den Verein fast ruiniert. Hertha braucht einen planvollen Wandel.
Hertha braucht … Identifikation
Das Tischtuch zwischen Mannschaft und Fans, es ist gerade so notdürftig geflickt, dass es zum Klassenerhalt gereicht hat. Alle Bestandteile von Hertha müssen miteinander versöhnt werden. Grabenkämpfe, Klüngeleien und Ränkespielchen schaden dem Verein. Der neue Präsident muss das verkörpern, wofür Hertha steht. Er muss Herthaner durch und durch sein. Gleichzeitig muss er klar machen, dass Hertha mehr ist als ein Sportverein. Erfolgreiche Aktionen, wie „Spendet Becher, rettet Leben“, „1892 hilft“ oder „Aktion Hertha Kneipe“ spiegeln die blau-weiße Seele des Vereins wieder. Sie müssen kommunikativ in den Vordergrund gerückt werden. Nicht aus PR-Gründen, sondern um den engagierten Fans die Ehre teil werden zu lassen, die ihnen gebührt. Hertha ist kein Klub von Investors Gnaden, die Fans sind die Stars.
Hertha ist mehr als (Blinden)Fußball, Kegeln, Tischtennis, Boxen oder E-Sports. Hertha braucht jemanden, der das Wesen des Vereins verkörpert.
Hertha braucht … Erfahrung
Mühe allein genügt nicht. Leidenschaft ist das eine, Kompetenz ist das andere. Ein neues Stadion will gebaut werden. Der neue Präsident muss im Gewirr der Berliner Lokalpolitik Herthas Interessen vertreten. Hertha kann es sich nicht leisten wertvolle Zeit zu verlieren. Die Herausforderungen, denen sich der Verein gegenüber steht, müssen sofort angegangen werden. Klar ist aber auch, dass das nur im Team geht. Alle Gremien und Organe müssen an einem Strang ziehen. Ein neuer Präsident muss hier moderieren, darf sich aber nicht von externen Akteuren zu abhängig machen. Ein Auge muss dabei auf dem Geschäft, das andere auf den Mitgliedern und Fans ruhen. Wer eines der beiden nicht versteht, wird keinen Erfolg haben.
Hertha muss schnell geholfen werden. Hertha braucht einen erfahrenden Versöhner.
Eure Wahl
Allen Emotionen zum Trotz, eins sollte klar sein: Am Sonntag entscheiden weder Geld noch Vereinsgremien. Die Fans haben das sagen. Ich bin mir sicher, dass sie im Sinne des Vereins abstimmen werden.
Das erste Mal ins Stadion mitgenommen zu werden, ist für viele der Beginn einer Fan-Beziehung mit Höhen und Tiefen. Die “Taufe” – oft geschlechtsklischeehaft vom Vater übernommen – führt insbesondere bei Hertha nicht unbedingt zu Ektase und Jubel, sondern zu Tränen, Wut und Leid. Unsere Autoren erinnern sich und fragen ihre Väter: “Wie konntest du mir das nur antun?!”
Briefe an die Väter
Johannes
Lieber Papa,
was hast du mir angetan? Was hast du deinem kleinen, unschuldigen und naiven, neunjährigen Sohn angetan, als er damals mit dir die Sportschau sah und diesem blonden und schreienden Torwart von den Bayern bei glanzvollen Paraden zugesehen hat? Oliver Kahn hieß der, oder? Und der kleine Junge wollte den Typen mal live sehen. In so einem Stadion, wo die immer Fußball spielen. Aber der spielte ja damals bei den Bayern und wir lebten in Berlin. Egal, unsere Stadt hat ja sicherlich auch einen Verein. Hertha hieß der oder? Komischer Name, aber eigentlich auch passend, schließlich sind in der Hauptstadt ja immer alle härter. Also fragte ich dich, fast schon beschämt, ob wir nicht einmal in solch ein Stadion gehen könnten, wusste ich doch, dass so ein Besuch sicherlich nicht billig werden würde.
Du sagtest mir zu, dass wir das demnächst sicherlich sehr gerne mal machen könnten. Die nächsten Wochen zogen ins Land und wir haben weiterhin gemeinsam Fußball geguckt und es war der Wahnsinn, wie du dafür gesorgt hattest, dass ich in diesen Bann dieses famosen Spiels gezogen wurde. In der Schule hatte ich damals mit meinen Freunden in den Pausen immer Fußball gespielt, ich wollte so sein wie der Brasilianer von Hertha, der mit den bunten Haaren, dieser Marcelinho, der war toll!!!
Und eines Tages bist du nach Hause gekommen und sagtest mir, du hättest eine Überraschung für mich… Mit großen Augen wartete ich gespannt auf das kleine Päckchen, was du mir überreichen wolltest. Ein Marcelinho-Trikot. Ein Marcelinho-Trikot von Hertha BSC. Dieses berühmte dunkelblau-weiß gestreifte Trikot. Es war fantastisch, bis heute ikonisch.
Direkt am nächsten Tag ging ich damit zur Schule und war der Star meiner Klasse. Man war das cool. In der Pause spielten wir dieses Mal “Weltmeister”. Jeder gegen jeden auf ein Tor. Und ich war gut, ich war richtig gut! Schließlich war ich Marcelinho und die anderen allerhöchstens Francesco Totti von Italien. Ich war hochgradig in diesen Verein verliebt. Ich war der Meinung, Hertha wäre das Nonplusultra im europäischen Fußball. Und du hast zusammen mit mir Tabellen studiert und mir Szenarien erklärt, wie es Hertha in die Champions League schaffen würde. Und dann war es endlich soweit. Du hast dein Versprechen eingelöst und wir sind zum Spiel Hertha BSC gegen den SV Werder Bremen ins Olympiastadion gegangen. Davor durfte ich mir sogar einen Schal aussuchen. Jenen Schal besitze ich selbstverständlich bis heute und wie es das ungeschriebene Gesetz so will, hab ich diesen natürlich bis heute nie gewaschen. Die paar Ketchup-Flecken gelten als schöne Erinnerungen an viele Fanjahre.
(Photo credit should read TOBIAS SCHWARZ/AFP via Getty Images)
Der erste Blick durch den Eingang ins Stadion, in der Ferne sieht man die ersten Fans und dann der Eintritt in eine andere Welt. Dieses laute Toben, die vielen zehntausenden Menschen, ich war wie neugeboren. Und so ging das über viele Jahre. Es wurde nie schlechter. Aber irgendwann distanziertest du dich vom Fußball. Irgendwie hast du mich allein gelassen, du sorgtest dafür, dass ich von nun an alleine leiden musste, du hast die Spiele höchstens noch vorm Fernseher verfolgt. Aber aus dem Neunjährigen war mittlerweile ein Vierzehnjähriger geworden und der hatte Freunde, mit denen er regelmäßig ins Stadion ging. Viele Jahre später – ich war schon weit über 20 – überredete ich dich nochmal mitzukommen. Dieses Mal waren die Rollen also vertauscht. Und es war wunderbar. Ein tolles Vater-Sohn-Erlebnis.
Doch Papa, ich frage dich ein weiteres Mal. Was hast du mir angetan? Hättest du damals dem neunjährigen Jungen einfach gesagt, dass ein Stadionbesuch aus welchem Grund auch immer aktuell nicht möglich ist, wäre es vielleicht nie zu meiner Verliebtheit gekommen und dem alljährlichen Leid. Ich würde nicht jedes Wochenende zittern, ich würde mich nicht unter der Woche leer, wütend oder unrealistisch hoffnungsvoll fühlen. Ich müsste nicht an die Grenzen des Verstands gehen und mir die Nachspielzeit einer hochdramatischen Relegation vorm Fernseher zitternd und mit Hanteln in der Hand zur psychischen Ablenkung, ansehen. Ich müsste mir nicht ständig irgendwelche Sprüche anhören, was denn Die Hertha schon wieder für einen Mist bauen würde. Ich müsste auf der Arbeit gegen die Unioner Kollegen nicht dreimal innerhalb einer Saison der Depp sein, dessen Team sich bis auf die Knochen blamiert. Ich müsste so vieles nicht. Doch nun ist es so und es ist eine Lebenseinstellung. Papa, was hast du mir angetan?
Konntest du ahnen, was 22 Jahre später geschieht? Ich bin zu alt, um nur zu spielen, zu jung, um ohne Wunsch zu sein. Ich gehe nach längerer Pause wieder in Stadion, befasse mich intensiver mit Hertha als je zuvor, doch statt Europa und Traumtoren finde ich nur Schmerz und Verwüstung vor. Du kennst das. Bist schließlich seit fast 50 Jahren Hertha-Fan. In deinem ersten Spiel kickte noch Ete Beer im Blau-Weißen Dress. Du hast die Hertha-Frösche erlebt und eiskalte Spiele mit 8.000 Zuschauern. Hättest du es nicht besser wissen müssen? Ich bin mir sicher, du wolltest damals nur das Beste, doch wurdest du Teil der anti-mephistophelischen Fußball-Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft.
Hertha hat mal wieder gegen den Abstieg gespielt. Emotionen machen zwar den Fußball aus, ich ertappe mich trotzdem dabei neidisch auf die Rot-Weiße Front zu schielen, an der die Valenz-Grenze klar verläuft. Du konntest nicht ahnen, was an diesem Tag im September geschieht. Meine Schwester hat es immerhin nicht so stark erwischt. Für mich war aber seit diesem Tag klar: In Berlin nur Hertha.
Geschah es im erzieherischen Interesse? Emotionsregulation und Belohnungsaufschub sind wichtige Fähigkeiten. Selten werden sie verlässlich eingeübt und auf die Probe gestellt, wie an den 34. Spieltagen der Hertha. „Die Leiden des jungen Niklas“ nach einer Idee seines Vaters.
Vielleicht verhält es sich ja ähnlich wie zur geliebt-gehassten Schullektüre. Frustriert über die Ausgüsse meist älterer weißer Herren, verwarf man das Lesen zwecks subjektiv sinnvollerer Beschäftigungen und beäugte neidisch die Bücher, die andere Klassen vorgesetzt bekamen. Erst Jahre später verstand man dankbar des Pudels Kern.
In diesem Sinne: danke für Nichts und danke für Alles. Lieber mit dir von den Rängen leiden, als im Wachkoma die 10. Meisterschaft in Folge performativ über sich ergehen lassen. Lieber alte Dame statt alter Liebe. Und lieber nicht nach Hause, als nach Köpenick.
Dein Niklas
P.S. Die Mutter wusste es auch nicht besser und bestärkt mich im Fan-Sein immer wieder.
Chris
Lieber Papa,
wie oft man es doch feststellen muss, auch als erwachsener Mensch, dass der Vater am Ende Recht behält … hätte ich bloß auf dich gehört. Dann würde mir der ganze Mist heute egal sein und ich hätte nicht all diese Tränen vergossen.
Dabei hattest du mich vorgewarnt. Nicht umsonst hast du Fußball gemieden, nicht umsonst war vor mir in der Familie kein Mensch auf die Idee gekommen, Fußballfan zu werden. „Alles Vollidioten im Fußball“, sagtest du damals. Außerdem sei es doch gefährlich, bei all diesen verrückten im Stadion. Das letzte was du wolltest, ist dein Sohn da mittendrin zu sehen.
Fast schon gezwungen habe ich dich, mich ins Olympiastadion zu bringen. Widerwillig hast du mich dorthin begleitet. Immerhin brachtest du mich zu richtigen Stadion: als Franzosen in Berlin hatten wir auch falsch abbiegen können, um aus Versehen bei Union zu landen. Doch schon im allerersten Spiel hätte ich es erkennen sollen: gegen den Fußballclub aus Gelsenkirchen gab es direkt eine Niederlage.
Doch dein Herz für dein Sohn war zu groß. Du sahst mich leiden und dachtest dir: zumindest einen Sieg möchte ich ihm schenken. Du nahmst mich also nochmal mit, dieses Mal gegen den Tabellenletzten aus Köln. „Typisch Hertha“ lernte ich an dem Tag, als gegen jede Erwartung Poldis Kölner unsere Hertha komplett auseinandernahmen.
Als es dann endlich soweit war, Auswärts in Frankfurt, Raffael aus spitzem Winkel die Führung erzielte und Marko Pantelic (Fußballgott!) den Sieg perfekt machte, war es schon zu spät. Ich war endgültig in diesem Wahn gefangen, zu tief um wieder herausgeholt zu werden. Für mich sollten noch viele Auswärtsfahrten und Heimspiele folgen, gemeinsam mit neuen Hertha-Freunden.
(Photo credit should read ARIS MESSINIS/AFP via Getty Images)
Du musstest weiterhin aus Liebe zu mir mitleiden. Wir sprachen über die „Flitzpiepen“ bei Hertha und wie sie mich Jahr für Jahr enttäuschten. Du hattest schon vor zehn Jahren gesagt: „Sie müssten eigentlich alle rauswerfen und wieder bei null anfangen!“. Und ich lachte nur und dachte mir, ich wisse es doch besser. Wie stolz und naiv man als Sohn sein kann.
Aber das verrückte an der ganzen Sache ist: ich bereue es nicht. Ich würde jedes Mal nochmal mit dir ins Olympiastadion gehen, diese Treppen hochlaufen und diese Emotionen verspüren. Hertha-Fan zu sein ist viel mehr als das, was auf dem Platz passiert. Eine Leidenschaft zu haben ist eine Bereicherung, egal wie schmerzhaft sie sein kann. Und ich bin mir sicher, dass ich mich in zehn Jahren immer noch mit dir gemeinsam über die „Flitzpiepen“ ärgern werde.
[Vermerk: „Flitzpiepen“ wurde hier als Ersatz für ein politisch nicht ganz korrektes französisches Schimpfwort benutzt, das aber ironisch/liebevoll und keineswegs beleidigend oder gar diskriminierend gemeint ist.]”
Dein Chris
Erinnerung an den Vater
Steven
Vor knapp 25 Jahren, am 8. November 1997, traf mein Vater eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen. Er nahm mich mit ins Olympiastadion. Hertha spielte gegen 1860 und gewann 2:0 nach zwei Standardtoren. Mein Vater sagte damals vor dem 2:0, welches zumindest in meiner Erinnerung nach einem Eckball entstand, dass Ecken immer gefährlich seien. Auch wenn ich aus heutiger Sicht massiv widersprechen würde, so sollte er zumindest an diesem Tag Recht behalten. Andreas Schmidt traf zum 2:0, die Fans tobten auf den damals noch im Olympiastadion verbauten Sitzbänken und ich war das erste Mal in meinem Leben verliebt.
Es hat einen Grund, warum Nick Hornbys Zitat, in welchem er die Entstehung der Liebe zu seinem Fußballverein beschreibt, fast schon inflationär genutzt wird, wenn es darum geht, eben jene Gefühle zu beschreiben.
Und wie auch Nick Hornby verschwendete ich keinen Gedanken an den Schmerz und die Zerrissenheit, die nun mein Leben begleiten sollten.
Mein Vater, das muss man ihm zugutehalten, hat so weit vermutlich gar nicht gedacht. Und auch das passt ja dann irgendwie zu diesem Verein, der fortan ein Teil von mir war.
Er wollte mit seinem Sohn zum Fußball gehen. Was man halt so macht, wenn der Sohn anfängt sich für Fußball zu interessieren und man als Vater, getrennt lebend von der Mutter, jedes zweite Wochenende den Jungen bei sich hat und irgendwas machen will, das klischeebedingt typisch Vater-Sohn ist. Und vermutlich auch die Mutter ein wenig provoziert. „Proletensport. Gefährlich. Die Asis in der U-Bahn.“ Ich liebte es, wenn die U-Bahn wippte, gesungen und gefeiert wurde.
Mein Vater, der eigentlich nicht so wirklich verbunden mit Hertha war, in den 90ern eher das magische Dreieck des VfBs bewunderte, nahm mich wohl auch deshalb mit, weil Hertha damals in die Bundesliga aufstieg. Mein Segen und Fluch. Für Hertha ging es steil bergauf. Champions League, ich sah Chelsea, Porto und Barcelona. Wobei – von Barcelona sah ich aus bekannten Gründen nicht viel. Sebastian Deisler war mein Held, mein erster Spielerflock war von ihm. Ein Glück hielt mein Vater mich davon ab, seine Trikots nach seinem feststehenden Abgang wegzuschmeißen. Meine Enttäuschung war grenzenlos.
Foto: Michael Cooper /Allsport
Dann die erste Dauerkarte mit ihm. Das war in der Saison 2002/03. Hertha hatte gerade Huub Stevens verpflichtet. Ich konnte ihn nicht leiden. Er war Schalker, das genügte damals. In Block P gab es zwei Dauerkarten zum Preis von einer, das war unser Glück. Mein Blick galt nicht nur dem Spielfeld, sondern immer intensiver auch dem Geschehen links von mir. Die Ostkurve faszinierte mich.
Meine Mutter, immer noch alles andere als ein Fan unseres damaligen Wochenend-Rituals, formulierte einen frommen Wunsch: „Bloß nicht in die Ostkurve“. Wie ein Hinweis auf einer Toilettentür: „Bemalen strengstens verboten!“. Wozu soll das bei einem renitenten Jungen führen? Natürlich in die Ostkurve! (Das Malen und Kritzeln habe ich mangels Talents übrigens meistens sein gelassen.)
Also ging ich mit 13 das erste Mal in die Kurve. Mein Vater war damals noch dabei. Irgendwann wollte ich mein eigenes Ding machen. Lernte eigene Leute kennen. Schrieb in den damals angesagten Fanforen im Internet unter Pseudonymen, die aus heutiger Sicht mindestens unangenehm sind, Analysen und Einschätzungen, welche wahrscheinlich ähnlich zur Fremdscham anregten, wie Kai Dittmanns Explosion beim Spiel der Hoffenheimer gegen den FC Bayern. Er stand auf für Dietmar Hopp, ich stand in der Ostkurve. Jetzt ohne meinen Vater, dafür mit Freunden und Leidensgefährten, die für einige Jahre meine Familie sein sollten. Mein Leben drehte sich um Hertha. Und bald auch um das Drumherum. Fahnen malen, Stellung beziehen. Während Hopps Hoffenheimer noch in der Regionalliga tingelten, begann bei mir ein Bewusstsein einzusetzen, sich für den Erhalt des Volkssports Fußball einzusetzen. Argumentativ damals vielleicht noch etwas unterkomplex, dafür mit voller Überzeugung. Fußball muss bezahlbar sein, Pro 15:30 und gegen den modernen Fußball. Mein Vater unterstützte mich. Zu diesem Zeitpunkt wohl weniger aus Zuneigung zu Hertha, sondern eher aus Zuneigung zu mir. Er zeigte mir, wie man Fahnen malt. Ohne Beamer und OH-Projektoren. Mit Rastermethode. Kästchen für Kästchen ein kleines Motiv vergrößern. Hätte ich nur einen Bruchteil meiner Energie und Leidenschaft für den Fußball in die Schule gesteckt, wäre mir wohl viel Ärger erspart geblieben.
Aber so funktionierte ich damals nicht. Ich wollte mehr. Das erste Auswärtsspiel. Heimlich in Rostock mit ein paar flüchtigen Bekannten. Regionalbahn. Es stapelte sich, war heiß. Ich hatte nicht mal eine Karte fürs Spiel. Ich sprach Kay Bernstein an. Den kannte ich. Das war der Typ, der damals mit Megaphon auf der Mauer stand und die Ostkurve anpeitschte. Eine Karte hatte er auch nicht, aber irgendwie regelte sich das. 5€ habe ich für den ermäßigten Stehplatz gezahlt. Vor dem Bahnhof warteten unglaublich viele Polizisten und ein paar Shuttle-Busse. Ich fuhr direkt im Ersten mit. Rostocker beschmissen den Bus mit Steinen, Scheiben gingen zu Bruch. Spätestens hier hätten vermutlich viele 15-Jährige gesagt, dass es das nicht sein muss. Ich wollte immer mehr, keine Ahnung warum. Meine Mutter erfuhr von alldem nichts. Mein Vater auch nicht immer alles. Dafür finanzierte er einen Teil der Fahrten. Es war mir wichtig, das genügte ihm. Auch wenn es dafür sorgte, dass wir immer seltener Zeit miteinander verbrachten.
Doch auch das sollte irgendwann vorbei sein. Sitzengeblieben, von der Schule geflogen und irgendwann in einem Alter, wo man mal klarkommen muss. Die Ausbildung als Hotelfachmann war so ziemlich das Letzte, was sich mit dem Fußball vereinbaren ließ. Vielleicht war das unterbewusst auch so gewollt. Der deutliche Bruch, weil ich alles andere nicht hinbekam. Meine Mutter war erstmal beruhigt. Ich zog es durch, auch wenn ich es teilweise hasste. Leidensfähigkeit hatte ich ja schon mit meinem Verein gelernt. Mein Vater wurde im gleichen Zeitraum schwer krank. Wenn es mein Dienstplan erlaubte, schaute ich fortan die Spiele nicht mehr im Stadion, sondern mit ihm vor dem Fernseher. Anfangs mit miserablen Streams in russischer Sprache auf meinem Röhrenmonitor. Aber da ich für alles, was mir wichtig ist, relativ schnell eine große Passion entwickeln kann, wurde irgendwann auch das Equipment besser. LigaTotal, Beamer und ein paar Kaltgetränke. Hertha war wieder unser Ding, so wie es früher war.
Einmal waren wir noch im Stadion. Luhukay war Trainer. Hertha spielte im kalten, halbleeren Olympiastadion gegen Nürnberg. 4. Minute. Eckball. Ronny auf Ramos, Kopfball, Tor. Logisch. Ecken sind ja gefährlich. Aber Hertha wäre natürlich nicht Hertha, wenn sie das Ding nicht noch in den Sand gesetzt hätten. 1:3 hieß es am Ende. Eine katastrophale Fehlentscheidung gegen Hertha und der Nürnberger Torhüter Raphael Schäfer, zu dem keiner meiner Gedanken abgedruckt werden sollte, komplettierten diesen verkorksten Abend. Meinem Vater war es körperlich zu viel. Es ging nicht mehr.
Wir schauten also die Spiele weiter zu Hause. Ich studierte mittlerweile und die Wochenenden waren wieder mein Highlight, wenn auch anders als früher. Irgendwann konnte er nicht mehr. Ich baute Fernseher und Rechner an seinem Krankenbett auf. Das letzte Spiel, welches wir gemeinsam sahen, war ein 1:4 von Hertha gegen Gladbach. Das war aber ebenso egal, wie die Tatsache, dass an diesem Tag nicht mal die Ecken gefährlich waren.
Seitdem gehe ich wieder häufiger ins Stadion, fahre ab und zu auswärts. Mein Sohn ist seit seiner Geburt Mitglied, wie auch mittlerweile viele meiner Freunde, die vor ein paar Jahren noch kaum was mit Hertha am Hut hatten. „Du bist schlimmer als die Zeugen Jehovas“ sagte letztens jemand, als ich wieder jemanden davon überzeugte, Mitglied bei Hertha zu werden. Wahrscheinlich wissen sie auch, dass es mich nur mit Hertha gibt. Mit allem, was dazugehört. Und bei all der Trauer, Freude, Frust, die damit verbunden sind, kann ich nur mit Dankbarkeit auf den 08. November 1997 zurückblicken. Hertha war unser Ding und es wird immer mein Ding bleiben.
Achja, meine Mutter? Die ist immer noch nicht so ganz begeistert …
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