Leipzig – Hertha BSC: Quo vadis?

von Sep 24, 2021

Es ist ruhig geworden an der Spree. Dem gruseligen Saisonstart mit drei Niederlagen aus den ersten drei Partien folgten nun zwei Pflichtsiege gegen die Aufsteiger aus Bochum und Fürth, dank derer man verhindern konnte, schon früh dem weiteren Teilnehmerfeld hinterherlaufen zu müssen. Die Hoffnung besteht, dass dieser so unausgeglichene Kader, der sich erst noch finden muss, nun über diese Ergebnisse das dringend nötige Selbstvertrauen geholt hat, um auch gegen qualitativ hochwertigere Gegner bestehen zu können. Den ersten Beweis für diese These tritt das Team von Pal Dardai am Samstag in Leipzig an.

In Vorbereitung auf das Spiel haben wir mit Leipzig-Experte Kai gesprochen, der uns die Hintergründe zum missratenen Saisonauftakt erklärt.

Der Nächste bitte

Viele staunten nicht schlecht, als in der Saison 2016/2017 plötzlich ein neuer Bayern-Jäger die Liga in Aufruhr versetzte. Der Aufsteiger aus Leipzig schaffte es in der Debütsaison, mit Hochgeschwindigkeits-Pressingfußball auf Platz Zwei vorzustürmen. Mit Ausnahme des zweiten Jahres stand seitdem am Ende jeder Saison ein Champions League-Platz zu Buche, letztes Jahr gar erneut die Vizemeisterschaft. Da man sich im selben Zeitraum darauf verlassen konnte, dass der natürliche Verfolger Dortmund es regelmäßig fertigbrachte, gegen Vereine wie Augsburg oder Freiburg zu verlieren, schien Leipzig – mit freundlicher Unterstützung eines zahlungskräftigen Österreichers – die einzige Mannschaft, die die Dominanz aus München brechen könnte. Jener Gedanke dürfte seit diesem Sommer obsolet sein.

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Insbesondere der Abgang von Trainer Nagelsmann hinterlässt eine große Lücke in Leipzig. (Foto: Tim Rehbein RHR FOTO, imago images via Getty images)

Hat der Branchenprimus aus dem Süden bislang die Finger von Spielern aus der Messestadt gelassen, wurde in diesem Sommer wieder die altbewährte Hoeneß-Taktik aus der Schublade geholt, die auch schon Mannschaften wie Werder Bremen, Borussia Dortmund oder Bayer Leverkusen zu spüren bekamen: Sobald dem FC Bayern jemand auf nationaler Ebene zu nahe kommt, wird er eben leergekauft.

War man beim BVB immerhin noch so großzügig, die drei wichtigsten Akteure (Hummels, Götze, Lewandowski) über drei Saisons verteilt nach München zu lotsen, ging man bei den Leipzigern etwas rabiater vor und holte in einem Sommer den Trainer, den Kapitän sowie den Abwehrchef an die Isar.

Und so sehr man die Bayern dafür kritisieren kann, den nationalen Wettbewerb auf Spitzenebene seit Jahren faktisch außer Kraft zu setzen, so sehr zeigt der Blick auf die aktuelle Tabelle: Es funktioniert.

Die Rückkehr zum alten Weg

Nach der großen Abwanderung gen Süden war Leipzig also zum Handeln gezwungen und reagierte auf etwas ernüchternde Art und Weise. Denn nach harten Verhandlungen mit der Zweigstelle aus Salzburg besetzte man die vakante Trainerstelle mit Jesse Marsch, der vor seiner Versetzung in die Mozartstadt bereits in Leipzig als Co-Trainer unter Ralf Rangnick arbeitete. Sowohl den Abgang von Nagelsmann als auch dessen Nachfolgebesetzung sieht Kai sehr kritisch:

„Ehrlich gesagt kann ich den Schritt des Vereins nicht nachvollziehen. Der erste Fehler war, Nagelsmann inklusive seines gesamten Staffs vor Vertragsende und ohne Ausstiegsklausel zum größten sportlichen Wettbewerber ziehen zu lassen.

Marsch war dann aufgrund seiner vorherigen Stationen im RB-Fußballkosmos in Salzburg, New York und Leipzig sicher eine naheliegende Lösung. Aber aus meiner Sicht nicht die beste. Man hatte Nagelsmann geholt, um das Team taktisch zu einem europäischen Spitzenklub weiterzuentwickeln und einen Titel zu holen. Die Mission wurde unerfüllt abgebrochen und jetzt soll es eine Art „Zurück in die Zukunft“-Move richten. Ich halte das für eine Sackgasse.“

Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis

Was sicherlich für Marsch gesprochen hat, ist, dass man weiß, was man bekommt. Als Mitarbeiter, der seit 2014 im Konzern tätig ist, kennt er die Methoden in-und auswendig und hat sie bereits an den Standorten New York und Salzburg erfolgreich implementiert. In Leipzig indes stößt er damit bislang noch auf Widerstände: „In der Theorie steht Jesse Marsch für den klassischen RB-Stil mit einem starken Fokus auf Gegenpressing, Zentrumsorientierung sowie schnellen, vertikalen Kombinationen nach Ballgewinn. Aktuell ist davon – mit Ausnahme des Stuttgarts-Spiels – nur in Ansätzen etwas zu sehen. Das Team scheint noch sehr im Niemandsland zwischen dem Ballbesitz-System von Nagelsmann und der neuen, alten Spielidee von Marsch gefangen.“, ordnet Kai ein.

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Neu-Coach Jesse Marsch leidet noch unter Startschwierigkeiten (Foto: imago images via Getty images)

Insbesondere die für Leipzig eigentlich völlig untypische defensive Anfälligkeit bereitet Kai zudem Sorgen: „ […] Im Ergebnis lässt Leipzig, das unter Rangnick und Nagelsmann die stärkste Defensive der Liga hatte, aktuell die zweitmeisten Großchancen zu. Gleichzeitig setzt sich die schlechte Chancenverwertung auch in dieser Saison fort. Ganze sechs Tore aus 96 Torschüssen sind mit 6,3 Prozent die schlechteste Quote aller Bundesligisten.“

Ein wesentlicher Grund für die aufgezeigten Schwächen ist neben den noch nicht greifenden, taktischen Anpassungen sicherlich auch auf personeller Ebene zu finden. So wurde neben Dayot Upamecano in Ibrahima Konaté der zweite hochveranlagte Innenverteidiger verkauft. Aus Kais Sicht ist das „zusammen mit dem geplatzten Transfer von Lacroix aus Wolfsburg ein klares Manko der Transferperiode. Die fehlende Geschwindigkeit in der Innenverteidigung ist ein Grund für die aktuell katastrophale Restfeldverteidigung und die Gegentorflut gegen Bayern und ManCity.“

Dennoch ist es keineswegs so, als würde Hertha am Samstag auf ein Team aus Hobbykickern treffen. Auch in diesem Sommer gelang es Leipzig wieder, einige hochveranlagte Spieler in die Messestadt zu lotsen: „Mit Gvardiol, Simakan, Brobbey und Moriba hat man spannende junge Spieler mit viel Wertsteigerungspotenzial verpflichtet. Etwas aus der Rolle fällt da die Verpflichtung von André Silva aus Frankfurt, einem gestandenen Stürmer, der mit 28 Toren in der vergangenen Saison seine Qualitäten bereits auf Bundesliganiveau unter Beweis gestellt hat.“

Mit halber Kraft zum Angstgegner Leipzig

Blickt man auf die Situation in Leipzig, ist man also geneigt, zu resümieren, dass ein Sieg für Hertha wohl selten wahrscheinlicher war als an diesem sechsten Spieltag. Wäre da nur nicht die Verletztensituation. Neben Stefan Jovetic stehen auch Lukas Klünter. Dedryck Boyata, Jordan Torunarigha sowie Nezugang Myziane Maolida nicht zur Verfügung.

Wie lange es für Krzystof Piatek und Marton Dardai reichen wird, wollte Trainer Dardai bei der Pressekonferenz am Donnerstag noch nicht preisgeben. Ob die Statistik von acht Niederlagen in zehn Spielen gegen die Leipziger aufgehübscht werden kann, ist also einmal mehr zumindest fraglich.  

Titelbild: imago images via Getty images

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Alexander Jung

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