WM in Katar – Die hässliche Fratze des Fußballs

von Okt 19, 2022

Mit der WM in Katar zeigt sich der Fußball von seiner hässlichsten Seite. Unser Autor erläutert, warum ein Boykott für ihn das Richtige ist.

Ich bin ein Planungsmensch. Dass ich zu Monatsbeginn noch keine konkrete Vorstellung habe, mit welchen Aktivitäten ich die kommenden vier Wochenenden verbringe, passiert höchst selten. Der Umstand, dass ich Fußballfan bin, kommt dieser Planungsaffinität stark entgegen. So weiß ich, dass in den Wochenenden zwischen August und Mai zunächst einmal der Spielplan zu Rate gezogen wird, bevor andere Dinge ihren Platz im Kalender einfinden. Und obwohl das schon seit meiner Jugend so ist und ich genug Zeit hatte, mich an diesen Rhythmus zu gewöhnen, fühlt sich die spielfreie Episode des Jahres immer wieder an wie kalter Entzug.

Daher bin ich stets dankbar dafür, wenn im Sommer ein internationales Turnier ansteht, das mir die Hertha-freie Zeit erträglicher macht. Auch wenn ich mich emotional schon vor Jahren von der DFB-Elf losgekoppelt habe, so löst insbesondere die Weltmeisterschaft nach wie vor einen besonderen Reiz aus, von dem ich nicht loskomme. Samstag, 13 Uhr, Australien gegen Senegal – ich komm später zum Grillen. Mittwoch, 18 Uhr, Elfenbeinküste gegen Japan – joggen gehen kann ich auch noch morgen.

(Photo by Matthias Hangst/Getty Images)

So sehr ich mir vor Weltmeisterschaften auch vornehme, nicht meinen kompletten Zeitplan auf die Spiele auszurichten, so groß ist die Gewissheit, dass ich am Ende doch 80 Prozent der Partien verfolge. Und warum auch nicht? Es ist die größte Sportveranstaltung der Welt. Vier Wochen, in denen Helden geboren werden und Karrieren ihren Höhepunkt finden. Momente, die sich auf ewig in das Gedächtnis jedes Fußballfans einprägen und Emotionen hervorbringen, die man nie mehr vergisst. Als Mario Götze in der 113. Minute im Maracana den Ball nach Flanke von André Schürrle im Tor versenkte und wenige Minuten später der Abpfiff ertönte, hatte ich minutenlang Freudentränen in den Augen. Auch wenn ich derartige Ekstase auf Länderspielebene nicht mehr empfinden mag – dass ich auf eine WM hinfiebere, steht seit jeher außer Frage. Oder vielmehr: Es stand außer Frage.

Der Tabubruch

Am 2. Dezember 2010 offenbarte der Fußball – an diesem Tag repräsentiert von FIFA-Präsident a.D. Sepp Blatter – sein hässlichstes aller Gesichter. Die Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses zur Vergabe der Weltmeisterschaft 2022 an den Wüstenstaat Katar stellte einen nicht für möglich gehaltenen Tiefpunkt in der ohnehin von Korruption und Geldgier durchzogenen Geschichte des Fußball-Weltverbands dar. Ein Turnier, das von seiner Internationalität und dem Aufeinandertreffen verschiedenster Kulturen und Identitäten lebt, wird in diesem Winter in einem Staat ausgetragen, der das Abweichen von der Konformität, wie sie die katarische Regierung definiert, verbietet. Ein Staat, der Homosexualität und Blasphemie mit Haftstrafen ahndet; Ein Staat, in dem Frauenrechte ein Fremdwort sind; Ein Staat, der im Jahr 2022 Todesstrafen und Peitschenhiebe verhängt; Ein Staat, der bis zum heutigen Tage den Tod von 6.500 Gastarbeitern, die für den Bau der WM-Stadien angestellt wurden, zu verantworten hat. Kurzum: Das komplette Gegenteil eines Orts, dem es gestattet sein sollte, durch die größtmögliche Aufmerksamkeit, die im Sport generiert werden kann, Werbung für sich zu machen.

Kritik an Katars Arbeitsbedingungen für Gastarbeiter (Photo credit should read Andy Buchanan/AFP via Getty Images)

Ein verbandsübergreifendes Versagen

Der Aufschrei ob dieser Vergabe war riesig und bestimmt auch bis heute große Teile der Berichterstattung, wenn es um die WM geht. Doch ist es illusorisch zu glauben, dass die Empörung, sobald der Ball rollt, immer noch aufrechterhalten bleibt. So war es vor vier Jahren in Russland und so war es auch bei den diesjährigen Olympischen Spielen in Peking. Wenn de Bruyne, Mbappé und Messi zu zaubern beginnen, werden es diese Bilder sein, die um die Welt gehen und nicht das Leid von Gastarbeitern. Sportswashing im ganz großen Stil also – und die ganze Welt schaut zu und klatscht Beifall.

Die Heuchelei des DFB in einem Bild (Photo by Alex Grimm/Getty Images)

Natürlich wären hier an erster Stelle die nationalen Verbände gefragt gewesen, dieser Farce ein Ende zu bereiten. Eine Weltmeisterschaft ohne England, Deutschland und Spanien hätte die FIFA ihren zahlungskräftigen-und willigen Sponsoren wohl kaum verkaufen können. Aber dass der DFB bei der Frage nach Anstand oder Kapital schneller entscheidet als der VAR und in Sachen Ethik ohnehin sehr flexibel agiert, ist wahrlich kein Geheimnis. Wer also darauf gehofft hat, dass irgendein Entscheidungsträger inmitten der lila Scheine noch zufällig seinen moralischen Kompass entdeckt, lag weit daneben. Doch was heißt das nun in letzter Konsequenz für uns als Zuschauer*innen?

„Aber die spielen doch sowieso – egal, ob ich einschalte oder nicht“

Wir als Einzelne werden Katar nicht verhindern können. Diese Wahrheit ist unumstößlich. „Also macht es doch eh keinen Unterschied, ob ich einschalte oder nicht.“ So oder so ähnlich verlaufen Diskussionen über die WM in Katar mehrheitlich und erinnern dabei stark an die Debatten in Bezug auf Klimakrise oder Fleischkonsum. Und das soll nicht heißen, dass ich selbst so lebe, wie ich es am liebsten predigen würde. Weder ernähre ich mich konsequent vegetarisch, noch greife ich ausschließlich auf öffentliche Verkehrsmittel zurück. Doch an dieser Stelle ist für mich persönlich der Punkt erreicht, an dem das eigene Gewissen nicht zulässt, mit meinen Einschaltquoten und Beiträgen in sozialen Netzwerken einen Unrechtsstaat zu unterstützen.

(Photo by ODD ANDERSEN/AFP via Getty Images)

Das Kribbeln ist weg

Und tatsächlich fühlt es sich zum aktuellen Zeitpunkt nicht einmal so an, als würde ich dabei auf etwas verzichten müssen. Denn das Kribbeln, das ich sonst schon lange vor Weltmeisterschaften verspürt habe; die endlosen Debatten darüber, wer denn nun Favorit ist und ob sich der beste Spieler aller Zeiten nun endlich mit dem WM-Pokal krönt – all das, was eine WM schon im Vorfeld so reizvoll macht, verpufft und wird überschattet von dem Gedanken, dass hier etwas ist, das nicht sein darf.

Ob ich diesen Standpunkt so konsequent durchhalte, wenn im Winter die Entzugserscheinungen auftreten und ich feststelle, dass ja gerade ein Fußballspiel läuft? Ehrlicherweise wäre es geheuchelt, diese Frage zu 100 Prozent mit Ja zu beantworten. Was ich jedoch weiß ist, dass mein Kalender für die Zeit vom 20. November bis zum 18. Dezember noch leer ist.

Titelbild: Photo by KARIM JAAFAR/AFP via Getty Images

ÜBER DEN AUTOR

Alexander Jung

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