Basierend auf einem Gedanken unseres Co-Gründers Marc Schwitzky, beleuchten wir in diesem Text die gute alte Zeit und wieso gerade die alte Dame dort Probleme hat.
Ein Tag im Herbst
Es ist der 30. September 2000, 15:30. 37714 Zuschauer:innen genießen, im damals noch nicht umgebauten Olympiastadion, bei wolkenlosen 17 Grad bestes Fußballwetter als Edgar Steinborn den 7. Spieltag der noch jungen Saison 2000/2001 anpfeift. Die Hertha um Trainer Jürgen Röber, Michael Preetz, Marko Rehmer, Dick van Burik und Supertalent Sebastian Deisler trifft auf den 1. FC Köln.
Das Spiel läuft nicht wirklich gut. Innerhalb von 5. Minuten schenkt der Effzeh der alten Dame zwei Tore ein, sodass es nach einer halben Stunde schon 0:2 steht. Die Fans im halb gefüllten Olympiastadion stellen sich auf eine erneute Niederlage ein (am Spieltag zuvor hatte man 2:5 gegen Unterhaching verloren). Doch dann kommt es anders. Alex Alves, der 15 Millionen Mark Königstransfer aus Brasilien, legt sich den Ball nach dem Anstoß zurecht und verwandelt aus 52 Metern zum 1:2. Hertha dreht das das Spiel und gewinnt mit 4:2 durch einen Treffer von Preetz und einem Doppelpack von Daruisz Wosz.
Einer der Zuschauer, die dieses Kunstwerk eines Tores miterleben durfte, war gerade einmal fünf Jahre alt und saß mit seinem Vater und seiner Schwester von der Ostkurve aus gesehen links im Oberring. Es war mein erstes Hertha-Spiel.
Legen-, wait for it, -dary
Wo wart ihr, an diesem Tag im Herbst? Mit wem habt ihr das WM-Finale 2014 geguckt und erinnert ihr euch noch, als wir vor Jahren die Bayern 2:0 zuhause geschlagen haben? Das immer wieder Erzählen der Vergangenheit gehört zum Sport einfach dazu. Viele Vereine kultivieren Heldengeschichten von Vereinsikonen und vergangene Erfolgen sorgsam. Die Erinnerungen bilden eine narrative Basis, die die Fanszene vereint. Dabei spielt es nicht mal eine Rolle, ob man selbst dabei gewesen ist.
Ich denke, dass mir fast jeder zustimmen wird, wenn ich Ete Beer und Hanne Sobek als Hertha-Legenden bezeichnen würde. Aber hat die einer von euch spielen gesehen? Was kennen wir von Ihnen, außer romantische, immer wieder am Tresen erzählte Geschichten und alte Statistiken? Doch es sind diese Geschichten, die die Bindung nicht nur zwischen Fans und Verein, sondern auch innerhalb der Fanszene ermöglichen. Das kann viele Formen annehmen. Zum Beispiel Rituale, Fangesänge, Vereinshymnen und historische Spielorte. All das erzeugt Verbundenheit, auch wenn man eigentlich überhaupt keine Ahnung hat, warum gerade ein alter Schlager von Frank Zander es vermag bei einem Gänsehaut zu erzeugen.
Nostalginho
Kollektive Erinnerungen sind das eine. Nostalgie hingegen das andere. Auch wenn beides zusammenhängen kann, Nostalgie beschreibt die Sehnsucht nach einer Zeit, die man selbst erlebt hat. Man kann zwar auch nostalgisch bezogen auf Zeiten sein, die man nur aus Erzählungen kennt, das Gefühl, was uns aber allen am bekanntesten sein dürfte, ist auf Zeiten bezogen, mit denen man Erfahrungen aus erster Hand verbinden kann.
Dieser Umstand begrenzt den Personenkreis, die Nostalgie erleben können auf die, die zu dieser Zeit am Leben waren. Probiert es selbst aus. Denkt an die beiden Deutschen Meisterschaften 1930 und 1931 zurück. Wer wäre nicht gerne bei den beiden Endspielen gegen Holstein Kiel und TSV 1860 München dabei gewesen? Aber sehnt ihr euch in diese Zeit zurück? Wahrscheinlich nicht, außer ihr habt es selbst miterlebt und seid damit mindestens 95 Jahre alt.
Die persönliche Lebenszeit bestimmt also die Ereignisse, zu denen man eine nostalgische Bindung aufbauen kann. Ein weiterer Faktor ist das diese Zeit als positiv erlebt werden muss. Gemeinsame Erinnerungen hin oder her, man denkt sicher nicht gerne an das verlorene Derby letzte Saison oder die 0:4 Klatsche gegen den KSC am letzten Spieltag der Spielzeit 2008/09 zurück.
In diesem Punkt hat Hertha allerdings ein Problem. Es gibt kaum Erfolge. Der letzte „Titel“ ist der Intertoto Cup 2006, ein Wettbewerb, von dem ich bis zu diesem Text noch nie gehört habe. Ohne wirkliche Erfolge fehlt den Fans ein historischer Anker. Klar kann man stundenlang über Marcelinho und Pantelic schwärmen, aber diese großen Spieler sind nicht wirklich mit dem Gewinn eines Titels zu vergleichen. Auch Erfolge wie die Bundesliga-Aufstiege 2011 und 2013 sind nur bedingt geeignet. Das Selbstverständnis des Vereins war damals, dass der Erstklassigkeit und so gesehen, war das schon gut, aber eben auch nicht überraschend (der erstmalige Aufstieg von Union ist zum Beispiel was ganz anderes, dort war man eher an die zweite Liga gewöhnt).
Wie viel ist Erfolg wert?
Vor diesem Hintergrund lohnt sich ein Vergleich mit anderen Vereinen. Fast alle von Ihnen konnten in den letzten Jahren relative Erfolge feiern. Ob der Pokalsieg von Frankfurt, Nürnberg oder die Meisterschaften von Stuttgart, Bremen, Wolfsburg oder Dortmund. Letztere habe mit Jürgen Klopp sogar einen Namen, der synonym für die „gute alte Zeit“ steht.
Ein Wort am Rande zu RB Leipzig. Auch wenn ich persönlich dem Investoren-Fußball nicht ganz so kritisch gegenüberstehe, solange er nicht an den Fans vorbei und nachhaltig gestaltet wird, zeigen die hier aufgeführten Schlüsse doch, dass sich eine auf der gemeinsamen Geschichte aufbauende Fanidentität bei den Leipzigern, wenn überhaupt, erst sehr langsam und spät aufbauen kann. Der Zeitpunkt, ab dem man über die Bezeichnung „Traditionsclub“ nachdenken könnte, fällt wahrscheinlich mit meinem Renteneintritt zusammen. Momentan ist der historische Kern dieses Clubs so leer, wie die Dosen seines Hauptsponsors nach einer feuchtfröhlichen Wodka-E-Dorfdisco-Nacht.
Dabei funktioniert der Erfolg über Kontrast. Kaiserslautern schaffte es vom Aufsteiger zum deutschen Meister und auch wenn es bei den Bayern ein bisschen schwer ist in der jüngsten Zeit ein Leistungstief zu finden, der Champions League Titel 2013 hätte wahrscheinlich weniger süß geschmeckt, wenn man nicht im Jahr zuvor so tragisch verloren hätte. Auch hier werden die Probleme bei RB deutlich. Wenn Erfolg vorprogrammiert ist, dann ist er eben auch weniger wert.
Erfolge schaffen Fans
Jetzt spielt uns unser Verstand allerdings einen Streich. Wir idealisieren die Vergangenheit. Wir erinnern sie positiver, als wir sie damals erlebt haben und wir sind oft nur auf das Ergebnis bedacht. Klar war es geil, als Hans Meyer uns 2003/2004 vor dem Abstieg gerettet hat. Aber fanden wir das damals berauschend, die ganze Saison nicht über den 12. Tabellenplatz hinaus zu kommen? Wir erinnern uns fast nur an die Erleichterung am Ende, nicht die Agonie davor.
Was Hertha also braucht sind richtige Erfolge. Versteht mich nicht falsch. Ich habe keine Angst, dass uns die Fans abhandenkommen. Ich bewundere die Fanszene für ihr beispielhaftes Verhalten und Leidensfähigkeit. Doch seien wir mal ehrlich, jedes Heimspiel im ausverkauften Olympiastadion zu erleben, wäre schon geil. Doch dazu müssen die Leute Hertha erstmal lieben lernen – wenn man nicht gerade von jemanden inauguriert wird, der schon Fan ist, funktioniert das am besten über die schon angesprochenen Erfolge. Sie bilden nicht nur eine potentielle nostalgische Basis, sondern wecken auch Interesse. Denn: eine weitere Eigenart des Menschen ist es, gerne auf der Gewinnerseite stehen zu wollen. Wer jetzt hinsichtlich der „Erfolgsfans“ pikiert die Nase rümpft, der möge sich klar werden, dass aus diesem anfänglich auf Erfolg beruhendem Interesse durchaus eine tiefe Bindung entstehen kann.
Mehr Fans bedeutet mehr Unterstützung, mehr Unterstützung bedeutet mehr Geld, bessere Stimmung und auch mehr Siege. Es ist eine simple Rechnung und bei aller Fußballromantik: 2:0 gegen Bayern ist besser als 1:6 gegen Dortmund.
Windhorstsche Zeiten
Bei all dem Trubel um den Investoreneinstieg, ist ein allgemeines Gefühl der Nostalgie nicht verwunderlich. Unser Co-Gründer Marc (dem ich die Inspiration zu diesem Artikel verdanke) hat eigens dazu zusammen mit Louis Richter den Twitter-Account Es war ein mal ein Pal aufgemacht. Manch einer wünscht sich die gute alte Zeit unter Pal Dardai zurück, als die brennenden Fragen noch die Qualität des Hoffenheimer Milchreis oder „richtig gute Kalbsschnitzel“ betrafen. Als alles noch einfacher schien und das größte Problem des Vereins die “Hintenrumscheiße” war.
Das ist deshalb verständlich, als dass Nostalgie besonders dann wirkt, wenn ein Teil der aktuellen Identität bedroht ist. Man sucht also Anhaltspunkte aus der Vergangenheit, um die Bedrohung der Gegenwart zu bekämpfen. Konkret zeichnet sich diese Bedrohung durch den erwähnten Einstieg des Investors ab. Hertha läuft Gefahr in einem Atemzug mit RB Leipzig, Hoffenheim und Wolfsburg genannt zu werden. Man wäre nicht mehr Fan eines Traditions-, sondern Kommerzklubs. Um diese Dystopie abzuwenden, sehnt sich manch einer in die Zeit zurück, als man zwar nicht gut, aber wenigstens ehrlich gekickt hat und Ingo Schiller wahrscheinlich persönlich das übrig gebliebene Becherpfand eingesammelt und für die Tilgung der Schulden verwendet hat.
Ihr merkt den zeitlichen Bezugsrahmen der Nostalgie. Die Ära Dardai ist nicht allzu lange her und damit die am weitesten verbreitete kollektive Erinnerung. Wenn man sich über sieben Kindl in der Herthakneipe verliert, dann hört man sicher auch die Geschichten über den Wiederaufstieg 1997. An Dardai erinnern sich aber einfach mehr Fans und daher ist diese Zeit einfach geeigneter. Dazu kommt der angesprochene Kontrast. Der Berliner Rekordspieler, die Altstars Kalou und Ibisevic und der im Hintergrund lauernde goldene 99er Jahrgang schreiben das schönere Fußballmärchen als ein Rekordtransferwinter à la Klinsmann.
Der Blick nach Vorne
„Mehr als die Vergangenheit, interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben“, sollt Albert Einstein mal gesagt haben. Und auch wenn man dem Nobelpreisträger vorsichtig hinsichtlich der Bedeutung der Vergangenheit widersprechen darf, trifft er einen wahren Kern. Der idealisierte Blick zurück, mag einem die wärmende Illusion der guten alten Zeit versprechen, doch je länger diese Zeit zurück liegt, desto schwächer, ungeeigneter und verklärter wird sie. Die nächsten Fangenerationen werden Pal Dardai nur noch aus Statistiken und von alten Arcor Trikots kennen.
Es ist einerseits wichtig, diese Ikonen nicht sterben zu lassen, aber auch, dass die Herthaner:innen der Zukunft ihre eigenen positiven Erfahrungen machen können. Das kann ein Titel sein. Vielleicht ist es auch der Wiederaufstieg nach Jahre langer Zweitklassigkeit oder einfach ein Sieg auswärts in München. Unabhängig dessen, freue ich mich über jeden Sieg, den ich mit anderen Herthaner:innen feiern kann. Diese Erlebnisse bauen das Fundament, auf dem der Verein und seine Geschichte weiterbesteht. Und wenn mich meine Kinder mal fragen, warum ich diesen Verein so liebe, dann erzähle ich ihnen nostalgisch die Geschichte von Alex Alves und hoffe, dass sie eine ähnliche erleben dürfen.
[Titelbild: Photo by Martin Rose/Bongarts/Getty Images]