Vorschau: Selbstbewusste Herthaner gegen den Vizemeister

Vorschau: Selbstbewusste Herthaner gegen den Vizemeister

Wir haben grundsätzliches Verständnis für die Bedürfnisse der Verbände und Nationalmannschaften. Aber gerade in diesen Zeiten kommen Spieler an ihre Belastungsgrenzen und insbesondere die Sinnhaftigkeit von Freundschaftsspielen kann man hinterfragen.“ Viel treffender als Michael Preetz es auf der jüngsten Spieltagspressekonferenz fomulierte, kann man es kaum zusammenfassen. Inmitten einer Pandemie werden Spieler um die halbe Welt geschickt, um unter anderem ein Turnier zu spielen, von dem eigentlich niemand weiß, was es da zu gewinnen gibt. Dann obendrein neben diesem “Turnier“ auch noch Freundschaftsspiele anzusetzen – also im Endeffekt Spiele, die ebenso bedeutungslos sind wie die Nations League, nur dass der UEFA hierfür bislang noch kein Fantasiewettbewerb eingefallen ist, der dem Ganzen künstlich Wichtigkeit verleiht – setzt der Absurdität die Krone auf.

Während man früher immer nur darum bangte, dass sich ja kein Spieler der eigenen Mannschat verletzten möge, muss man nun hoffen, dass alle Corona-frei zurückkehren. What a time to be alive. Doch immerhin gibt es Licht am Ende des Tunnels, denn glücklicherweise findet das nächste Länderspiel erst im März statt. Bis dahin hat Hertha also reichlich Zeit, dort anzuknüpfen, wo vor der Unterbrechung aufgehört wurde. Nach zuletzt vier Punkten aus zwei Spielen mit jeweils sehr überzeugenden Auftritten befindet sich das Team von Bruno Labbadia im Aufschwung. Dieser soll nun – trotz anstehender Herkulesaufgabe – fortgesetzt werden. Am Samstagabend geht es gegen den amtierenden Vizemeister aus Dortmund.

Um einen detaillierten Einblick in die aktuelle Lage bei Borussia Dortmund zu bekommen, haben wir mit BVB-Experte Julius gesprochen.

Der einzige Hoffnungsträger im Kampf gegen das Imperium

So langsam fühlt es sich an wie bei „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Jahr um Jahr träumt der neutrale Fußballfan davon, dass es endlich mal ein Meisterrennen mit offenem Ausgang geben möge und setzt seine Hoffnungen dabei naturgemäß in den einzigen Verein, der berechtigte Ambitionen auf den Titel haben kann und nicht gleichzeitig von den Brausemillionen eines Rechtspopulisten in die Liga gekauft wurde – nur um dann Jahr ein Jahr aus wieder der Realität ins Auge blicken zu müssen, die lautet, dass am Branchenprimus aus München nun mal kein Vorbeikommen ist.

Gerade der Verbleib von Sancho kann als Trumpf für den BVB gewertet werden. (Photo by Lukas Schulze/Getty Images)

Auch in diesem Jahr keimt dieses kleine Fünkchen Hoffnung an so mancher Stelle wieder auf. Immerhin hat der FC Bayern einen gewissen Thiago an die Konkurrenz aus Liverpool verloren. Auch Philippe Countinho und Ivan Perisic wurden nach ihren Leihen wieder abgegeben. Zudem fällt Joshua Kimmich nach zugezogenem Meniskussschaden im Spiel gegen den BVB voraussichtlich bis Januar aus. Weniger optimistische Menschen könnten entgegnen, dass sich die Bayern in Person von unter anderem Leroy Sané jetzt allerdings auch nicht allzu verkehrt verstärkt haben. Aber an irgendetwas muss man sich ja hochziehen. Und dieser Umstand ist in dem Fall, dass der BVB im Gegensatz zu den Münchenern lediglich die Real-Leihgabe Achraf Hakimi hat abgegeben müssen, während alle übrigen Leistungsträger – allen voran Jadon Sancho, den viele schon in Manchester sahen – der Borussia erhalten geblieben sind.

Hierin besteht auch laut Julius der Trumpf in der aktuellen Spielzeit: „Was besonders positiv heraussticht und den Transfersommer zu einem, meiner Meinung nach, sehr gutem Transfersommer macht, ist die Tatsache, dass das Team größtenteils zusammengehalten wurde. Zu oft wurden in der Vergangenheit gefühlt die Hälfte einer Mannschaft innerhalb von einem Jahr durchgerauscht. Wenn man sich kontinuierlich verbessern will, braucht man in allen Bereichen Kontinuität. Zusätzlich hat man mit Jude Bellingham in einer komplizierten Wirtschaftslage eines der begehrtesten Talente der Fußballwelt verpflichten können und auch seine Leistungen in Schwarzgelb unterstreichen dies nochmal.“

Das verflixte zweite Gesicht

So darf beim Blick auf den Kader und auch angesichts von bislang lediglich drei Punkten Rückstand auf den FC Bayern also durchaus weiterhin auf ein spannendes Meisterrennen gehofft werden – wäre da nicht dieses zweite Gesicht, das der BVB partout nicht abstellen will. Nichts veranschaulicht diese zwei Gesichter des BVB so schön wie die ersten beiden Spieltage. Zum Saisonauftakt empfing der BVB daheim Borussia Mönchengladbach – die Positivüberraschung der vorangegangenen Spielzeit und ein Team, dem viele insbesondere dank Trainer Marco Rose in dieser Saison einiges zutrauen. Den BVB ließen die Vorschusslorbeeren für den Gegner indes kalt. Im Stile einer Spitzenmannschaft fertigten die Schwarz-Gelben Gladbach mit 3:0 ab, ohne wirklich überlegen gewesen zu sein. Aus vier Torschüssen erzielte man drei Treffer.

Zum Haareraufen: Unnötige Niederlagen wie gegen Augsburg passieren dem BVB seit Jahren. (Photo by Alexander Hassenstein/Getty Images)

Genau diese Effizienz wurde eine Woche später jedoch schmerzlich vermisst. Trotz 80 Prozent Ballbesitz unterlagen die Dortmunder mit 0:2 in Augsburg. Einmal mehr – wie schon so oft in den zurückliegenden Jahren – ließ der BVB Punkte liegen, wo es eigentlich nicht passieren darf. So stellt Julius fest: „Diese Verzweiflung speist sich vor allem auch daraus, dass man sich das Zustandekommen einfach nicht wirklich erklären kann. Trainer, Spieler, alles wurde schonmal ausgetauscht, doch diese Aussetzer sind geblieben.

Zumindest in dieser Saison muss man aber fairerweise anmerken, dass die Spiele gegen Augsburg und Lazio zwar auch enttäuscht haben, aber zumindest mich persönlich noch nicht wieder zum Verzweifeln gebracht haben. Dafür war alles vor und nach diesen Niederlagen zu souverän und abgeklärt. Vielleicht müssen wir das zweite Gesicht in dieser Saison ja doch nicht so oft sehen.“ Aus blau-weißer Sicht darf jenes Gesicht aber gern noch zweimal in dieser Saison zum Vorschein kommen.

Verabschiedet sich Favre mit dem Titel?

Dass der BVB trotz dieses begnadeten Kaders immer wieder Leistungsschwankungen unterliegt und es daher noch nicht zum ersten ganz großen Wurf seit 2012 gereicht hat, ist zum einen mit dem jungen Alter von Leistungsträgern wie Sancho, Haaland und Reyna zu erklären. Zum anderen wird aber auch Trainer Lucien Favre immer wieder in die Argumentation mit aufgenommen, wenn es um die Suche nach Gründen für das Ausbleiben von Meisterschaften in den letzten beiden Jahren geht. Dass Favre ein Fußballlehrer ist, an dem sich die Geister scheiden, weiß man als Hertha-Fan nur allzu gut. Unbestritten sind seine Qualitäten als Taktiker und Tüftler. Ebenso bekannt ist aber gleichzeitig auch, dass der Schweizer nicht unbedingt als Menschenfänger bekannt ist. Eine Qualität, der in Dortmund seit Jürgen Klopp (zu) viel Stellenwert beigemessen wird. Immer wieder heißt es, Favre könnte einer Mannschaft nicht die letzten fehlenden Prozentpunkte an Leidenschaft vermitteln, die es braucht, um ein Team zur Meisterschaft zu führen. Wie nachvollziehbar und schlüssig diese Aussagen tatsächlich sind, müssen andere beurteilen.

Lucien Favre spaltet das Umfeld des BVB auch in dieser Saison wieder. (Photo by Friedemann Vogel/Pool via Getty Images)

Fakt ist, dass Favre nach Thomas Tuchel der BVB-Trainer mit dem besten Punkteschnitt ist und die Borussia – nachdem dort zwischenzeitlich unter anderem ein gewisser Peter Stöger im Amt war und den drögesten Fußball seit Thomas Doll hat spielen lassen – wieder zu einem Team mit Titelambitionen und einem klaren Konzept auf dem Platz geführt hat. So fasst auch Julius zusammen: „Einerseits ist es nicht von der Hand zu weisen, dass ein wenig mehr Konstanz im ersten Jahr seiner Amtszeit wohl die Meisterschaft bedeutet hätte, andererseits hat er, was Punkte und Platzierungen angeht, schon das herausgeholt was man von dieser Mannschaft erwartet.

Wer eine Meisterschaft als einziges Kriterium sieht, was über die Leistung eines BVB-Trainers entscheidet, hat wohl ein wenig verschlafen, dass die Bayern auch noch mitspielen. Seine Art scheint manche Fans nicht zufriedenzustellen, auch das darf man nicht außen vor lassen. Am Ende wird es ziemlich sicher auf eine Trennung hinauslaufen, und das ist auch okay, wenn man dann einen mindestens ebenso geeigneten Kandidaten als Nachfolger präsentieren kann. Favre hat dann drei Jahre gute Arbeit geleistet, den BVB als 2. der Liga stabilisiert und einige Youngstars zu Stars geformt, zum ganz großen Wurf hat es aber nicht gereicht. Nur Titel könnten dies noch ändern.“

Nachdem auch Thomas Tuchel nach einem Titel, dem Sieg des DFB-Pokals, gehen musste – gleichwohl die Gründe hier gänzlich anderer Natur waren – wäre es Favre zu wünschen, dass er in seiner (vielleicht) abschließenden Saison bei Borussia Dortmund das nachholt, was ihm mit Hertha vor nunmehr 11 ½ Jahren so haarscharf verwehrt blieb. Aber mit dem Punktesammeln dürfen er und seine Mannschaft sich gern noch eine Woche Zeit lassen.

[Titelbild: Lars Baron/Getty Images]

Selbstbewusst das fehlende Glück erzwingen

Selbstbewusst das fehlende Glück erzwingen

Gegen die großen Mannschaften zeigte Hertha BSC in dieser Saison gute Leistungen. Für Zählbares reichte es aber nur gegen den VfL Wolfsburg. Oft fehlte das Glück, Pech und Ungeschick kamen hinzu. Auch die kommenden Teams werden Hertha alles abverlangen. Doch auch gegen sie muss nun gepunktet werden, will man Unruhen im Verein vermeiden. Gründe, um selbstbewusst zu sein, hat sich das Berliner Team erspielt. Ein Ausblick.

Es war der dringend benötigte Befreiungsschlag: Eine spielerisch starke Hertha besiegte am vergangenen Spieltag den FC Augsburg mit drei zu null. Und der Sieg war in mehrfacher Hinsicht wichtig. Einerseits, weil sich die Berliner bei einer Niederlage gefährlich nahe an den Abstiegsplätzen befunden hätten. Medial wäre es unruhig geworden. Die Kritik an den Verantwortlichen und der Mannschaft aufgrund des fehlenden Erfolgs trotz historischer Transferausgaben von Hertha wäre nicht mehr zu vermeiden gewesen. Aber auch, weil sich die Mannschaft mit dem Sieg endlich selbst belohnt hat. Darauf kann das Team nun aufbauen.

Foto: IMAGO

Denn drei der nächsten vier Gegner sind Teams, mit denen sich Hertha mittel- bis langfristig vergleichen will: Borussia Dortmund, Bayer 04 Leverkusen und Borussia Mönchengladbach heißen sie. Und sie alle spielen in den europäischen Wettbewerben mit. Dort, wo Hertha auch hin möchte.

Den Anspruch gegen sie zu gewinnen, hat man bei Hertha BSC aktuell aber noch nicht. Dennoch muss nun auch gegen sie Zählbares her. Vorher hat es die Mannschaft verpasst, sich ein Punktepolster zu erspielen. Hätte man gegen Eintracht Frankfurt oder den VfB Stuttgart punkten können, wären Niederlagen gegen die kommenden Mannschaften verkraftbar gewesen.

So aber steht man mit sieben Punkten nach ebenso vielen Spieltagen auf dem zwölften Tabellenplatz. Das ist weit weg von Europa. Auch wenn man das bei Hertha gut einzuordnen weiß. Weder Manager Michael Preetz noch Trainer Bruno Labbadia werden darin müde, zu betonen, dass sich das Team in einem Umbruch befindet. Und die ewigen Parolen haben durchaus ihre Berechtigung. Doch holt man keine Punkte gegen die oben genannten Teams, verliert womöglich sogar alle Spiele, wird es vermutlich unruhig im Verein werden. Doch Hertha kann optimistisch sein – und selbstbewusst. Denn gegen die Top-Teams der Liga spielte die Mannschaft bisher zwar fast punktelos, spielerisch aber stark.

Ungeschick in den eigenen Reihen – trotz starker Leistungen

Gegen den FC Bayern München, RB Leipzig und VfL Wolfsburg zeigte das Team von Trainer Bruno Labbadia starke Leistungen. In München glich die blau-weiße Truppe gar drei Mal aus, bevor Maximilian Mittelstädt in der Nachspielzeit ungeschickt agierte und Robert Lewandowski im eigenen Strafraum umriss. Der Pole verwandelte den Strafstoß und schnürte seinen Viererpack.

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Zwei Spieltage später ging man gegen RB Leipzig sogar in Führung. Die Leipziger glichen drei Minuten später zwar schnell aus, dennoch bewies die Mannschaft Moral. Nach zwei Fouls zu Beginn der zweiten Halbzeit flog Deyovaisio Zeefuik mit gelb-rot vom Platz – fast 30 Minuten hielt Hertha in Unterzahl das Unentschieden. Erst als Jhon Córdoba im eigenen Strafraum Willi Orban zu Fall brachte, konnten die Leipziger per Elfmeter in Führung gehen. Vorher taten sich die Leipziger schwer, Wege an der Hertha-Abwehr vorbei zu finden. Sogar offensive Nadelstiche waren mit einem Mann weniger zu erkennen.

Und auch gegen den VfL Wolfsburg spielte die Mannschaft allen voran in der zweiten Halbzeit groß auf. Spielerisch stark, scheiterte die Truppe gleich mehrmals an der eigenen Chancenverwertung. Mehr als ein Punkt wäre wohl verdient gewesen. Doch alle drei Auftritte zeigen: Hertha hat Grund für Selbstvertrauen, auch gegen Top-Teams. Gegen den FC Augsburg hat das Team gezeigt, dass die Mannschaft ihre starken Leistungen auch in Punkte ummünzen kann.

Attraktiver Fußball in blau und weiß

Denn so langsam scheint das Gebilde zu stehen. Mattéo Gouendouzi scheint der erhoffte Mittelfeldmotor zu sein. Mit ihm auf dem Platz läuft das Spiel nach vorne agiler und zielstrebiger. Auch unter Druck hält er den Ball und kann ihn passsicher nach vorne verlagern. Mattheus Cunha spielt schon seit Saisonbeginn überragend. Vier Tore und zwei Vorlagen in sieben Bundesligaspielen bestätigen das. Gegen Augsburg stand hinten auch endlich die Null. Nur der Ausfall von Jhon Córdoba tut der Hertha weh, – umso motivierter wird Krzystof Piatek sein, endlich seinen Durchbruch in Berlin feiern zu können.

In Augsburg hat er mit einem Tor und einer Vorlage schon gezeigt, wie er dem Team helfen kann. Er ist ein gänzlich anderer Stürmertyp als Córdoba – gelingt es Labbadia und dem Team aber den Strafraumstürmer in Szene zu setzen, könnte er ein Torgarant werden. Und womöglich ist auch Lucas Tousart eine Option für das Spiel gegen Dortmund, der nach überstandener Verletzung diese Woche wieder mit dem Team zusammen trainiert.

Inzwischen ist auch der 7.Spieltag rum, vor mehr als zwei Monaten begann die Saison. Trotz Länderspielpausen, Corona-Erkrankungen einiger Spieler und Verletzungen scheint sich ein Gebilde gefunden zu haben. Auch Neuzugang Omar Alderete vertritt den verletzten Jordan Torunarigha in der Innenverteidigung stark.

Es wird Zeit für Punkte

Doch nun geht es gegen die restlichen Top-Teams der Liga. Und selbst Stadt-Rivale Union Berlin, aktuell auf dem vierten Tabellenplatz, spielt bisher eine überragende und mit 16 Treffern vor allem eine torreiche Saison. Das Derby gibt es am zehnten Spieltag. Erwartbar sind gegen die Teams keine neun beziehungsweise zwölf Punkte. Aber wegen des fehlenden Punktepolsters, steht Hertha jetzt schon unter Druck, punkten zu müssen.

Zugegeben, nach Dortmund, Leverkusen, Union und Gladbach folgt ein vergleichsweise einfaches Restprogramm. Mainz, Schalke und Bielefeld heißen die Gegner dann etwa. Doch auch diese vermeintlich „leichten“ Gegner dürfen nicht unterschätzt werden.

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Erzielt man in den kommenden Spielen zu wenig Punkte, werden die Verantwortlichen sehr wahrscheinlich unter Druck geraten. Insbesondere, weil man dann vermutlich auch in der Tabelle abrutscht. Die Berliner Haupstadtpresse ist nicht dafür bekannt, geduldig zu sein. Und Investor Lars Windhorst scheint es ebenso wenig. Medial wird diskutiert, dass ihm die Entwicklung der Mannschaft nicht schnell genug gehen könne.  

Dennoch scheint sich die Mannschaft unter Labbadia und dank der Transfers spielerisch stark weiterentwickelt zu haben. Torchancen und Tore gibt es. Daraus sollte das Team schöpfen und den Mut haben, trotz der bisher mageren Punkteausbeute frei aufzuspielen. Gegen drei starke Teams klappte das schon – nur müssen jetzt auch die Punkte her.

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Ausgelastete Labore – Wie geht es mit den Coronatests in der Bundesliga weiter?

Ausgelastete Labore – Wie geht es mit den Coronatests in der Bundesliga weiter?

Die Medizinlabore sind in der zweiten Pandemiewelle komplett ausgelastet. Pro Woche wurden zuletzt knapp 1,7 Millionen Coronatests durchgeführt. Auch die Bundesliga ist auf die Labore angewiesen: Das Hygienekonzept der DFL sieht bei den Profis mehrere Tests pro Woche vor. Um die Labore zu entlasten, sollen jetzt nur noch in seltenen Fällen Symptomlose getestet werden. Müssen sich die Clubs also neue Testmöglichkeiten suchen? Eine Lösung wäre in Aussicht. Ein Überblick.

Das Coronavirus breitet sich weiter rasant aus in Deutschland. Zuletzt gab es bis zu 23.000 Neuinfektionen pro Tag. Nachgewiesen werden diese Infektionen durch sogenannte PCR-Tests – das sind sehr, sehr zuverlässige Tests, die im Schleimhausekret das Vorhandensein von Virus, also eine aktuelle Infektion nachweisen. PCR-Tests sind der Goldstandard aller Testverfahren – sie haben eine Genauigkeit (Spezifität) von mehr als 99,9 Prozent. Sie sind jedoch auch nicht leicht zu analysieren und müssen in Laboren geprüft werden.

Bisher lautete die Strategie des Robert-Koch-Instituts (RKI), dass auch Menschen mit leichteren Erkältungssymptomen und Kontaktpersonen einen PCR-Test erhalten sollen. Doch auf diese Weise sind die knapp 170 testenden Labore in Deutschland an ihre Grenzen gekommen: Bei rund 1,7 Millionen durchgeführten Tests ist zuletzt auch der Rückstau an Proben immer weiter gestiegen. Heißt konkret: Man muss immer länger auf sein Ergebnis warten, die Analysen und Tests auf andere Krankheiten sind dadurch auch beeinträchtigt. Deswegen haben das RKI und das Bundesgesundheitsministerium nun eine andere Teststrategie kommuniziert: Grundsätzlich kommen nur nach Menschen mit ausgeprägten Covid-19-Symptomen in Frage oder solche, die Symptome nach direktem Kontakt mit einem bestätigten Covid-19-Fall zeigen. Symptomlos oder bei leichten Beschwerden soll niemand mehr getestet werden.

Was bedeutet das für die Bundesliga?

Bei hohen Inzidenzzahlen sieht das Hygienekonzept der DFL, an das sich alle Proficlubs halten, zwei Tests pro Spieler und Woche vor. Laut DFL werden für die 1. Und 2. Liga pro Woche derzeit zwischen 3000 und 3600 Tests benötigt – das entspricht einem Anteil von etwa 0,2 Prozent an allen Tests. Das ist nicht viel, könnte man meinen. Aufgrund der Auslastung der Labore und mit Blick auf die Pandemielage stellt sich trotzdem die Frage: Warum sollen symptomlose Profifußballer getestet werden, um am Wochenende spielen zu können, wenn „normale“ Patienten tagelang auf ihre Testresultate warten müssen?

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Hertha BASE hat der Presseabteilung der DFL unter anderem diese Frage gestellt – keine Reaktion. Auf ihrer Internetseite hat die DFL zur Test-Thematik allerdings kürzlich ein Statement veröffentlicht. Dort heißt es: „Die Akkreditierten Labore in der Medizin (ALM) haben (…), dass der Anteil der Tests im Profifußball im Promillebereich liege und dadurch keine Gefährdung der medizinischen Versorgung entstehe.“ Die DFL argumentiert ferner, dass die Berufsausübung der Fußballer und der weiteren Beschäftigten der Klubs von den Tests abhänge. Zudem habe man das Hygienekonzept dahingehend geändert, dass die Teams vor einem Auswärtsspiel mehr Zeit für die Tests bekommen.

Hertha zieht mit

Hertha-Pressesprecher Marcus Jung teilte gegenüber Hertha BASE mit, dass auch Hertha „alle die laut DFL Hygienekonzept erforderlichen Testungen durchführen“. Jung wies auch auf die Aussagen der DFL und der Labore hin, dass die Tests im Profifußball keinen wesentlichen Anteil an der Auslastung hätten. Er fügte hinzu: „Wir haben großes Vertrauen in die Arbeit der DFL Task Force Sportmedizin haben, die mit diesem Konzept, welches zudem stetig überprüft und an die Entwicklungen angepasst wird, weltweit hohe Anerkennung genießen.“

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Im Corona-Testbetrieb zeichnet sich derzeit eine deutliche Entspannung ab. Grund dafür sind die sogenannten Antigentests, die nachweisen, ob im Körper Antigene des Sars-Cov2-Virus sind. Die Tests sind zwar nicht ganz so genau wie die PCR-Tests. Sie haben aber einen ganz entscheidenden Vorteil: Antigentests kann man in der Regel selbst durchführen. Sie müssen nicht im Labor analysiert werden und liefern innerhalb von etwa 15 Minuten ein Ergebnis. In Pflegeheimen und Kliniken werden die Tests schon massenhaft angewendet, um Krankenhausinfektionen zu vermeiden und die Labore mit den Massentests nicht zu überlasten.

Antigentests für die Bundesliga?

Für die Bundesliga würden Antigentests aufgrund ihrer einfachen und schnellen Funktionsweise sicherlich auch Sinn ergeben. Zudem könnten die Klubs die Labore entlasten. Selbst wenn der Ligabetrieb nur einen minimalen Anteil an der Auslastung der Labore hat – ein schönes Signal wäre es dennoch, wenn die Klubs hier auf ihren eigenen Beinen stünden. Zudem würden sie sich weniger angreifbar machen.

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Marton Dardai – Zwischen Bundesligadebüt und Regionalligaunterbrechung

Marton Dardai – Zwischen Bundesligadebüt und Regionalligaunterbrechung

Beim Auswärtsspiel gegen Augsburg dürfte Marton Dardai erstmals in das Rampenlicht der Bundesliga treten und sein Profidebüt feiern. Zwar kam er erst in den letzten Minuten des Spiels auf den Platz, ein besonderer Moment in seiner Fußballerkarriere wird es aber trotzdem gewesen sein. Wir werfen einen genaueren Blick auf die letzten Monate, den Spielstil und die aktuelle Situation des 18-jährigen Sohns von Ex-Trainer Pal Dardai.

Ein turbulentes Jahr

Auch für Marton Dardai wird das Jahr 2020 turbulent gewesen sein. Das vermutlich nicht nur weil er, wie viele andere mit den Umständen der Corona-Pandemie konfrontiert wurde, sondern auch weil sportlich für ihn Einiges passierte. Zu Jahresbeginn durfte Dardai zum ersten Mal für die U23 in der Regionalliga auflaufen. Zuvor hatte er anderthalb Jahre sehr erfolgreich bei der U19 gespielt. Dort führte er das Team teilweise als Kapitän auf den Platz und löste sein Ticket für die Teilnahme an der U17-Europameisterschaft mit der deutschen Jugendnationalmannschaft.

In den Jugendwettbewerben wurde im Frühjahr der Spielbetrieb eingestellt und bei Herthas Bundesliga-Mannschaft übernahm Bruno Labbadia im April den Trainerposten. Als der Trainingsbetrieb langsam wieder in Kleingruppen aufgenommen wurde, bildete das Team rund um Labbadia auch eine Gruppe mit acht Jugendspielern, die sich das Trainerteam mal genauer anschauen wollte. Darunter auch Marton Dardai.

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In den letzten neun Bundesligapartien der Saison saß Dardai dann sechsmal auf der Bank und gehörte nun zum erweiterten Kader der Profis. Er scheint also einen positiven Eindruck bei Labbadia hinterlassen zu haben, denn dieser ermöglichte ihm den rasanten Aufstieg von der U19 (über die U23) zu den Profis in nur wenigen Monaten. Die Sommervorbereitung machte Dardai dann ebenfalls bei der ersten Mannschaft mit und trainierte auch in den letzten Monaten bei nahezu jeder Einheit unter Labbadia mit. Spielpraxis sammelt er hingegen bei der zweiten Mannschaft. Dort steht er regelmäßig mit seinem älteren Bruder Palko auf dem Platz. Marton Dardai zeigte gute Trainingsleistungen und hat sich laut Labbadia in einigen Bereichen zuletzt auch noch individuell verbessert. So kam es nun am siebten Spieltag zu seinem Debüt, das der Cheftrainer als „eine logische Folge“ (kicker) sieht.

Ruhig und Spielstark

Marton Dardai spielt am liebsten auf der linken Innenverteidigerposition und lief dort auch die meiste Zeit in den Jugendmannschaften auf. Auf dem Spielfeld ist er sehr weit für sein Alter (18 Jahre) und im Jugendbereich dürfte er auch immer wieder die Rolle des Kapitäns einnehmen. Er kann ein Team anführen und scheut sich nicht davor, es mit lauten Kommandos anzuleiten. Auch mit seiner Spielweise zeigt er sich sehr reif. Gegen den Ball löst er Situationen zumeist sehr souverän und glänzt mit gutem Stellungsspiel. Sein Zweikampfverhalten war in den U-Mannschaften nicht allzu auffällig, aber über die letzten Monate hat er vor allem körperlich nochmal zugelegt. Er wirkt zudem selten nervös, sondern strahlt in den meisten Situationen eine große Ruhe aus und hat ein gutes Kopfballspiel.

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Seine größte Stärke ist aber sein Spielaufbau mit seinem überdurchschnittlich guten linken Fuß. Der zweitjüngste Dardai-Sohn zeigt stets eine gute Übersicht und findet seine Mitspieler fast überall auf dem Feld. Er kann gute linienbrechende Schnittstellenpässe, aber auch lange Bälle hinter die letzte Kette spielen. Genauso liegen ihm Verlagerungen und schnelle Pässe in den Lauf. Sein Passspiel kann den Spielaufbau einer Mannschaft enorm beleben. Typisch für ihn ist außerdem, dass er gegen tiefstehende Jugendmannschaften auch gerne mal etwas weiter vorne auftauchte und aus der zweiten Reihe abzog.

Insgesamt lässt sich Marton Dardai als ein sehr ruhiger und spielstarker Innenverteidiger beschreiben.

Es ist kompliziert

Auch wenn das Bundesliga-Debüt anderes vermuten lässt, ist die Situation für Marton Dardai bei den Profis nicht leicht. Auf seiner Position hat er mit Omar Alderete und Jordan Torunarigha zwei Spieler vor sich, die zuletzt zu überzeugen wussten und wohl den Platz in der linken Innenverteidigung zunächst unter sich ausmachen werden. Ob er in naher Zukunft zu weiteren, eventuell auch längeren Einsätzen kommen wird, hängt dabei also unter anderem von der Verletzungssituation und Faktoren, die er selbst nicht beeinflussen kann ab. Das weiß auch Bruno Labbadia und meint: „Sein Bundesliga-Debüt war jetzt nur der kleine Anfang. Der weitere Weg wird noch ein Stück dauern.“

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Erschwerend kommt für Dardai und die anderen Talente nun noch hinzu, dass die Saison in der Regionalliga unterbrochen wurde. Die für Talente und ihre Entwicklung so wichtige Spielzeit wird für den 18-Jährigen also vorerst wegfallen. Insgesamt also keine einfachen Umstände für den jungen Innenverteidiger. Der erste Einsatz unter Labbadia lässt sich so auch als eine Art Motivationsanschub für die schwierigen nächsten Wochen und Monate sehen. Für Dardai gilt also weiterhin: geduldig sein und hart arbeiten. Sollte die Profimannschaft in den nächsten Monaten konstanter gute Ergebnisse einfahren, wird es Bruno Labbadia sicherlich auch leichter fallen, den jungen Spielern mehr Spielzeit zu geben.

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Politik rein in die Stadien!

Politik rein in die Stadien!

Die Welt entzweit sich. Es herrscht ein Klima der politischen Polarisierung. Man gewinnt den Eindruck, als wäre unsere gesellschaftliche Integrität bedroht wie nie zuvor. Ob Corona-Maßnahmen, struktureller Rassismus oder die Frage danach, wie man eine Soße nennen darf. Der Ton der Auseinandersetzung ist definitiv lauter und schriller geworden. Da wäre es doch schön einen gewissen Raum zu haben, in dem man für eine begrenzte Zeit allen Streit hinter sich lassen könnte. Kann Fußball diesen Raum bieten?

Sag mir DFB, wie hast du‘s mit der Politik?

“Die Ausrüstung darf keine politischen, religiösen oder persönlichen Slogans, Botschaften oder Bilder aufweisen. Spieler dürfen keine Unterwäsche mit politischen, religiösen oder persönlichen Slogans, Botschaften oder Bildern oder Werbeaufschriften mit Ausnahme des Herstellerlogos zur Schau stellen. Bei einem Verstoß gegen diese Bestimmung wird der Spieler und/oder das Team durch den Wettbewerbsorganisator, den nationalen Fußballverband oder die FIFA sanktioniert.”

So steht es in den offiziellen DFB-Fußballregeln der Saison 20/21 (Regel 4, Absatz 5.). Weiter heißt es:

„Während „religiös“ und „persönlich“ relativ eindeutig zu definieren sind, ist „politisch“ weniger klar. In jedem Fall unzulässig sind Slogans, Botschaften oder Bilder mit Bezug auf:

  • jegliche lebende oder verstorbene Person (außer ihr Name ist Teil des offiziellen Wettbewerbsnamens),
  • jegliche lokale, regionale, nationale oder internationale politische Partei/Organisation/Vereinigung etc.,
  • jegliche lokale, regionale oder nationale Regierung oder deren Abteilungen, Ämter oder Stellen,
  • jegliche diskriminierende Organisation,
  • jegliche Organisation, deren Zwecke/Handlungen eine erhebliche Zahl von Menschen beleidigen könnten,
  • jegliche spezifische politische Handlung/Veranstaltung.
  • Beim Gedenken an ein bestimmtes nationales oder internationales Ereignis sind die Empfindlichkeiten des gegnerischen Teams (einschließlich dessen Fans) und der Öffentlichkeit zu bedenken.“

Soviel zur Theorie, jetzt zur Praxis.

Politik ja, aber nur das was wir wollen.

Es ist nicht schwer, das Ziel dieser Regel herauszulesen. Der DFB, respektive die FIFA will ihr Produkt kontrollieren. Zwar gibt es offizielle klar politische Aktionen, die müssen jedoch vom Verband abgesegnet werden oder werden direkt von ihnen geplant. Ob vor Spielen vorgelesene Anti-Rassismus-Statements, Schweigeminuten für Covid-19-Opfer oder Binden oder Trikots in Regenbogenflaggen. Fußball ist schon längst zur politischen Bühne geworden. Gleichzeitig werden Anti-rassistische Solidaritätsbekundungen von Jadon Sancho, Achraf Hakimi und Weston McKennie unter Verweis auf obige Regel „geprüft“. Auch wenn es in diesem letzten Fall keine Sanktionen gab, wird deutlich, dass die Verbände großes Interesse daran haben, dass der Politik im Fußball wohl dosiert geschieht. Das geht dann soweit, dass selbst dann Vorgänge geprüft werden, wenn deren Inhalt eigentlich mit den Zielen vergleichbarer, offizieller Aktionen vereinbar sind.

Das kann und sollte man auch kritisieren. Gleichzeitig begibt man sich in diesem Punkt auf einen gefährlichen Pfad. Denn wenn man den Weg für politische Äußerungen von Spielern auf dem Feld freimacht, geht man das Risiko ein, dass sie sich mit unter so äußern, wie man es eben nicht gerne hätte. Hertha BASE zum Beispiel hat sich in der Vergangenheit unter dem Motto #wirsindmehr, explizit gegen Rechtsextremismus und Faschismus positioniert. Deshalb ist klar, dass Aktionen, wie die von Sancho, Hakimi und McKennie, von ihrer Richtung her auf unsere Zustimmung treffen. Wären die Spieler dafür sanktioniert worden, hätten wir das vermutlich mit großer Missgunst aufgenommen. Umgekehrt hätten wir es wahrscheinlich begrüßt, wenn Spieler für ein rassistisches Statement sanktioniert worden wäre. Das Unwohlsein hätte sich dann daraus ergeben, wenn das eben nicht passiert wäre.

Die Sache hängt also auch von der eigenen politischen Ausrichtung ab und ohne das reale und das hypothetische Beispiel moralisch auf eine Stufe zu stellen, zeigt das durchaus die Schwierigkeit hier eine generelle Grenze zu finden. Die Verbände haben sich jedoch dazu entschieden, beides auf den ersten Blick erstmal gleich zu behandeln. Das bedeutet, dass nach den Regeln ein SPD-T-Shirt ebenso ein Regelverstoß wäre, wie das der NPD. Der krasse Gegensatz ist deutlich. Aus den oben angeführten Gründen kann man allerdings nachvollziehen, dass der DFB hier eine klare rote Linie zieht und im Zweifel ex post facto entscheidet.

Betrachten wir die Situation in den Stadien, dann gibt es durchaus nachvollziehbare Gründe, weshalb die Funktionäre politisches auf ein Minimum reduzieren wollen. Was bleibt ist jedoch der fade Beigeschmack, dass Spieler zu bloßen Statisten degradiert werden. Vor dem CL-Finale ein Statement vorlesen? Ja bitte. Ein T-Shirt mit „Meine Kraft liegt in Jesus“ während des Spiels zeigen? Nein. Doch auch hier scheint es Spielraum zu geben. DFB-Präsident Keller äußerte sich nach der nicht-Sanktionierung im Fall Sancho, Hakimi und McKennie: “Wer die auch in der DFB-Satzung verankerten Werte des Fußballs proklamiert, darf nicht bestraft werden. Wir wünschen uns mündige Spielerinnen und Spieler, die mit gutem Beispiel vorangehen und Menschen von unseren Werten überzeugen. Das muss möglich sein”. Es ist und bleibt jedoch eine schwierige Debatte. Jedes Mal, wenn man glaubt eine Lösung gefunden zu haben, flutscht einem ein anderes Beispiel durch die Finger. Im Konkreten Beispiel hängt viel am Selbstbild des DFB. Er ist die moralische Instanz, die darüber entscheidet, welche Äußerungen in Ordnung sind und welche nicht.

Fußball als politisches Vakuum?

Doch während man Politik vielleicht aus dem konkreten Stadion unter Strafandrohung erfolgreich fernhalten kann, ist das außerhalb so gut wie unmöglich. Auch wenn Ralf Rangnick 2018 noch folgender Meinung war „Der Fußball kann grundsätzlich viel zusammenbringen, auch Themen einen, die sonst schwierig zu vereinen sind. Dazu muss Fußball aber versuchen, sich aus politischen Positionen herauszuhalten. Fußball sollte sich weiterhin dieser Funktion bewusst bleiben; dazu gehört, eine unpolitische Rolle einzunehmen.” Anzunehmen, dass Fußball in einem gesellschaftlichen Vakuum stattfindet, ist erschreckend naiv. Die Vermarktungsstrategie versucht das krampfhaft zu umgehen. Spiele und Saisons werden uns als singuläre Ereignisse verkauft, die mit der Außenwelt nicht viel zu tun haben und einen diese für 90 Minuten vergessen lassen. Der Erfolg spricht Bände. Fußball hat diese Wirkung, doch das bedeutet nicht, dass er gänzlich unpolitisch wäre.

Unter einer gewissen Perspektive besteht Fußball nur aus einem Ball, 22 Spieler:innen und zwei Toren. Dieser rückwärtsgewandte Blick vernachlässigt allerdings alles, was nach der Entstehung des Fußballs passiert. Denn ein Ball, 22 Spieler:innen und zwei Tore reichen nicht aus, um ein globales Massenphänomen zu erklären, es sind eben nicht nur „ 22 Typen, die einem Ball hinterherrennen“. Nicht vergessen werden darf nämlich die dynamische Entwicklung, resultierend aus der Vermarktung des Fußballs als unpolitisches Produkt. Auch wenn der moderne Fußball als politisch neutrales Produkt vermarktet wird, müssen Intention und Realität nicht unbedingt beieinander liegen. Das Ganze ist ein emergentes Phänomen, sprich mehr als die Summe seiner Teile.

Sport war, ist und bleibt ein Politikum

Um die Rolle des Fußballs und des Sports vollständig zu begreifen, müssen wir das Phänomen sowohl historisch als auch zeitgenössisch untersuchen. Gleichzeitig müssen wir das vollbesetzte Stadion als einzelnes Teil in einem dynamischen System voller unterschiedlicher Akteure begreifen. Fangen wir also ganz von vorne an und ich meine wirklich ganz von vorne.

Für fast 1300 Jahre waren die Olympischen Spiele der Antike ein bedeutendes gesellschaftliches Ereignis. Bedingung ihrer Möglichkeit war der sogenannte „Olympische Frieden“, ein Abkommen unter den mächtigsten griechischen Stämmen um einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten. Auch wenn diese Vereinbarung wiederholt gebrochen wurde, man erkennt hier schon in der Realisierung dieses Sportereignisses eine politische Komponente. Der sportliche Ruhm wurde dabei als politisches Mittel erkannt. Der römische Kaiser Nero trat 67 n.Chr. bei sechs Disziplinen an, die er allesamt – wohl durch Bestechung – gewann. Auch das Ende der Spiele war politisch. Sie wurden im 4 Jhd. n Chr. als heidnisches Fest verboten. Verantwortlich war der römischen Kaiser Theodosius I., der das Christentum de facto zur Staatsreligion machte und deshalb Feste zu Ehren der alten Götter nicht gebrauchen konnte. Von ihrer Entstehung, über ihre Entwicklung bis hin zum Ende der Spiele waren sie nicht nur politisch bedingt, sondern wurden auch im gleichen Maße genutzt. 

Das zeigt sich auch in ihrem Neuauflage und wahrscheinlich nirgends so gut, wie im Berliner Olympiastadion. Dieser Monumentalbau des Nationalsozialismus verkörpert wie kein anderer das Ziel dieser Spiele: die Überlegenheit und falsche Legitimität der menschenverachtenden Ideologie des Nationalsozialistischen Deutschlands zu demonstrieren.

Das Berliner Olympiastadion als Kulisse für die Olympischen Spiele 1936. (Foto: IMAGO)

Über diesen historischen Umweg schlagen wir den Bogen zurück zum Fußball. 1954, Bern, Stadion Wankdorf, aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen. Das Narrativ dieses Fußballwunders ist eng verbunden mit den politischen Geschehnissen in der BRD. Eine wirtschaftlich widererstarkte Nation, die sich ihr Ansehen durch Tatendrang und Fleiß auch auf dem Sportplatz zurückgewinnt. Besonders in Deutschland war der Fußball immer politisch aufgeladen. 1974 im Spiel gegen die DDR, l 1990 im Geiste der Wiedervereinigung, sowie der zur Schau getragene Fahnenpatriotismus während des Sommermärchens 2006. Angela Merkel ließ sich 2010 noch mit Mesut Özil ablichten, nicht wissend, dass ach Jahre später ein anderes Foto mit einem anderen Regierungschef den gleichen Spieler verfolgen würde.

Mitsingen der Hymne als Zeichen der Integration?

An dieser Stelle wären eine Million anderer Beispiele möglich. Das aktuell vielleicht wichtigste ist die Auseinandersetzung in den vereinigten Staaten um das Niederknien während der Nationalhymne. Dabei wird der paradoxe Anspruch an die Spieler wieder einmal deutlich: Sie sollen gefälligst ruhig sein und sich nicht politisch äußern, gleichzeitig wird das Stehen während der Nationalhymne selbst im Kontrast zum Verhalten anderer Spieler selbst zur politische Äußerung, die in diesem Kontext erwartet wird.

Das kann man wunderbar auf die Debatte zur deutschen Nationalmannschaft übertragen. Singt dort ein Spieler mit Migrationshintergrund nicht mit, wird das zum Beispiel vermeintlich gescheiterter Integration. Im gegenteiligen Szenario wird der gleiche Spieler als erfolgreicher Fall gefeiert. So oder so, die Spieler verkommen, genau wie das Produkt an sich zum Spielball politischer Interessen.

Auf die Spitze getrieben wird das natürlich nur noch durch das scheinheilige Auftreten der FIFA. Doch über die WM-Vergabe nach Katar wurde schon viel geschrieben. Was bleibt ist, dass die Romantisierung des Fußballs als ein unpolitisches Phänomen, in dem es um den Sport alleine geht steht im krassen Gegensatz zur Realität steht. Sport wurde schon immer politisch instrumentalisiert. Dabei ist die Verbannung von expliziten politischen Äußerungen im Stadion nur Effekthascherei. In einer ganzheitlichen Betrachtungsweise tritt die politische Dimension des Sports nämlich auch dann zu Tage, wenn man sich anguckt, in welchem Rahmen er stattfindet. Allein, die Bundesliga in einer akuten Pandemie stattfinden zu lassen, ist eine politische Entscheidung.

Auch Hertha geht wählen

Neben Kampagnen für mehr Vielfalt, zeigt auch die „Alte Dame“, dass sie sich nicht zu schade ist, politisch Stellung zu beziehen. Das wirkt manchmal erzwungen und unauthentisch, wie die als Solidaritätsbekundung getarnte Marketingaktion eines Kniefalls á la USA im Jahr 2017, aber kommt auch mal harmlos daher, wie die Aktion zum 30-jährigen Mauerfall Jubiläum. Das Fußballer einen nachhaltigen Effekt auf das tagespolitische Geschehen haben können, zeigte sich schmerzhaft durch die Affäre Kalou.

Foto: IMAGO

Die Debatte um den Stadionneubau ist ein weiteres hervorragendes Beispiel. Vom Kleinkrieg mit Innensenator Geisel mal abgesehen, beinhalten die Pläne von Hertha unter anderem die Idee, ein neues Stadion außerhalb Berlins und damit außerhalb der Jurisdiktion des Landes zu errichten. Ein innenpolitscher Affront, der auch von den Fans nicht gerade mit Wohlwollen aufgenommen werden dürfte. Die Schwierigkeiten in dieser Frage auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, zeigt eben, dass Sport und Politik weitaus tiefer miteinander verwoben sind, als man auf den ersten Blick zu ahnen glaubt.

Welchen Umgang wollen wir finden?

Das alles mag vielleicht nicht neu erscheinen und ist eigentlich nur die logische Entwicklung eines Spiels, was schon längst zum Wirtschaftsfaktor und damit zum Produkt geworden ist. Wir müssen uns dennoch fragen, welche Stellung und Qualität wir der Politik diesem Produkt einräumen wollen. Wir können nicht einerseits erwarten, dass uns die modernen Gladiatoren unterhalten, die das aber bitte voller Dankbarkeit und in stiller Demut tun. Gleichzeitig sind Fußballspieler:innen Athleten und keine Politiker:innen oder Intellektuelle. Nachhaltige, geistreiche Debattenbeiträge darf man hier also auch nicht erwarten. Wer also versucht, durch das Verbannen von expliziter Politik aus den Stadien den Sport zu entpolitarisieren, lebt an der Realität vorbei.

Wo Menschen sind, da sind Interessen, wo Interessen sind, da ist Politik, auch wenn dieses Interesse darin besteht, in einer globalen Krise für 90 Minuten abzuschalten. Deshalb ist eine gänzliche Elimination jedweder Politik vollkommen unmöglich. Es ist ein Ringen um die Kompromisse und Ausgleich. Unterhaltung ja, aber auch gesellschaftliche Verantwortung. Die Balance hier zu finden, ist wichtig. Zuviel von dem Einen wird der Reichweite des Spiels nicht gerecht, zu viel von dem anderen schmälert die Illusion als vermeintlichen Rückzugsort. Letzteres können wir nicht von der Hand weisen. Fußball funktioniert auch deshalb so gut, weil diese Illusion so unfassbar gut vermarktet wird, bzw. dem Spiel inhärent ist.

Lasst uns den Fußball nicht als politische Leerstelle sehen, sondern als soziale Institution in einer pluralistischen Demokratie. Wir beschränken unsere Sicht auf Deutschland, da das die Umstände sind, die wir am ehesten beeinflussen können. Was bedeutet diese Sichtweise? Es heißt, dieses Spiel als Systemkomponente anzusehen, die, genau wie die anderen Variablen, ständigen Interaktionen ausgesetzt ist. Wir können den Sport nicht losgelöst von den Bedingungen, die ihn ermöglichen sehen. Gleichzeitig ist er mehr als diese Bedingungen. Er ist nicht isoliert und jeder Versuch ihn zu isolieren, ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Fußball ist nur erfolgreich, weil er auf Interesse der Bevölkerung stößt. Ist dieses Interesse nicht mehr vorhanden, weil das Spektakel unsere Interessen nicht mehr ausreichend vertritt, dann ist er auch nicht mehr erfolgreich.

Fußball nicht nur Rückzugsort

Man könnte jetzt die dunklen Machenschaften korrupter Funktionäre anführen, die ein süchtig machendes Produkt erfunden haben, dem wir alle willenlos ausgeliefert sind. Fußball ist aber keine Droge. Er verkauft zwar eine Illusion, die ist aber verdammt gut. Wichtig dabei ist, dass wir uns entscheiden, uns dieser Illusion hinzugeben. Aber handeln wir damit nicht genauso verwerflich, wie diejenigen, die unseren Willen für ihre Zwecke missbrauchen?

Ja und nein. Sicherlich hätte ein Boykott große Auswirkungen auf das die Industrie. Doch wenn wir Fußball von heut auf Morgen abschaffen würden, dann hätten wir das Problem nicht gelöst, sondern nur aufgeschoben. Fußball ist deshalb so prädestiniert für politische Instrumentalisierung, weil er so viele Menschen anzieht. Würden genauso viele Menschen Curling verfolgen, dann wäre die World Curling Federation ein Synonym für Korruption. Fußball ist Teil des Systems und wenn wir etwas am Fußball ändern wollen, dann müssen wir sowohl in der Institution, als auch am System ansetzen. Beides ist miteinander verbunden. Korruption kann nur durch Staaten unterbunden werden. Bei rassistischen Äußerungen im Stadion kann ich zwar die Polizei rufen, aber wahrscheinlich ist es effektiver, wenn ich selbst von meiner Verantwortung und meinem Kapital gebrauch mache. Es ist wie schon erwähnt ein ständiges Ringen um Verantwortung.

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Sport ist gesellschaftlich gesehen zu wichtig, als dass wir ihn einfach eliminieren könnten. In der Illusion des Fußballs können wir wirklich alle vereint gebannt dem Spiel folgen – unabhängig von politischer Anschauung, Geschlecht oder Ethnie. Wir können nicht tagtäglich das Leid der Welt auf unsere Schultern nehmen. Wir brauchen Rückzugsorte. Das entbindet aber nicht von der gesellschaftlichen Verantwortung. Wer sich vollends zurückzieht, wird dieser eben nicht gerecht. Das gilt sowohl für die Zuschauer:innen, die Spieler, als auch die Institution Fußball selbst.

Das Private ist politisch

Auch wenn es auf dem Platz nur um das Spiel geht, bedeutet das nicht, dass neben dem Platz nichts existiert. Wir können das Produkt konsumieren, uns aber gleichzeitig dafür einsetzten, dass es nachhaltiger und ethisch gestaltet wird. Das ist der Vorteil, wenn wir selbst Teil des Systems sind. Das Spiel funktioniert einzig und allein über die Fans. Wir sind den bösen Machenschaften der FIFA nicht ausgeliefert. Wir haben es selbst in der Hand, ob wir König Fußball in eine Demokratie verwandeln. Dazu braucht es aber einerseits Problembewusstsein, aber auch Zeit und Augenmaß.

Das Ganze ist pluralistisch-romantisch als Wettstreit der Ideen zu verstehen, der mit den besseren Argumenten wird schließlich die Anderen überzeugen. Wir können nicht von allen Konsumenten von heut auf morgen erwarten, dass sie sich bedingungslos für die Reformation des Spiels einsetzen und die nächste WM geschlossen boykottieren. Das müssen wir auch nicht. Es reichen einzelne Akteure, die wiederholt auf Missstände hinweisen, um Veränderungen und Debatten anzustoßen. Das ist unfassbar frustrierend weil langsam, zeigt aber Wirkung. Die Aktionen von Sancho, Hakimi und McKennie, oder die Geschehnisse in den USA zeigen, dass sich Sportler:innen ihrer Bedeutung bewusst werden und sie gezielt einsetzten. Die so entstehende Debatte ist wichtig. Denn um andere zu überzeugen, müssen wir mit ihnen reden und das bedarf eines gesellschaftlichen Diskurses, der aber auch prominenter Fürsprecher:innen bedarf.

Poldolski hatte Recht

„Ich bin immer da, ich war noch nie weg.“ Was für Prinz Poldi gilt, gilt auch für die Politik in den Stadien. Die Diskussion darüber, ob der Sport politisch ist, ist deshalb eine Scheindebatte. Sie lenkt vom wirklichen Thema ab, nämlich welche Rolle der Sport in der Politik spielen soll und darf und umgekehrt. Diese Debatte kann maßgeblich durch die Fans entschieden werden. Alles der bösen FIFA in die Schuhe zu schieben, ist kurzsichtig. Die Fans alleine für die WM in Katar verantwortlich zu machen aber auch. Was allerdings Weitsicht beweist, ist sich der Rolle aller Akteure bewusst zu werden und nicht zu versuchen dem Phantom des unpolitischen Sports hinterher zu jagen.

(Photo by MARTIN MEISSNER/POOL/AFP via Getty Images)

Bei aller berechtigten Kritik am DFB, das Resultat im Fall Sancho & Co. offenbart die demokratische Macht der Fans. In einem anderen Szenario wäre das anders ausgegangen. In einem anderen Szenario wäre es aber vielleicht auch gar nicht zu diesen Aktionen gekommen. Der DFB darf deshalb nicht dem Irrglaube unterliegen, dass er die moralische Instanz in dieser Sache wäre. Die sind und bleiben die Fans. Sie bestimmten was geht und was nicht. Im Wettstreit um die besten Ideen sind sie gleichermaßen Medium, als auch Generator. Die Fans von Schalke 04 sind zurecht empört über die Verstrickungen des Vereins in die Machenschaften von Clemens Tönnies. Hier den Kopf in den Sand zu stecken, löst aber keine Probleme. Nur Fan-Initiativen können den Wandel vorantreiben, auch wenn dieser nur quälend langsam vorangeht.

Worauf es ankommt

Kommen wir abschließend nochmal zurück zu Hertha. Wir spielen im Moment in einem Stadion, was mit einer klaren politischen Intention erbaut wurde. Doch Intention und Realität müssen wie schon erwähnt nicht immer zusammenliegen. Das verdeutlichte nicht zuletzt Jesse Owens, der den rassistischen Irrglauben der Nazis sportlich in die Schranken wies. 74 Jahre später ist da Stadion Heimat eines Vereins, der sich offen für Vielfalt und Integration einsetzt und dessen Botschaft von den Fans mitgetragen wird. Das Stadion als Symbol wurde umgedeutet, jedoch ohne die historische Bedeutung zu vernachlässigen. Verein, Fans, als auch Spieler solidarisierten sich mit Jordan Torunarigha, während der DFB eher unglücklich dabei aussah.

Alle Fußballfans haben, jeder für sich, Verantwortung, als auch Kapital, die Institution, die ihnen so viel bedeutet, zu verändern. Andere von seiner Idee zu überzeugen, gehört ebenso dazu, wie bereit dafür zu sein, sich überzeugen zu lassen. Führt also jemand an, dass Politik in den Stadien einen Dammbruch bedeuten würde und das Spiel fortan zum Politikum avancierte, ist die Antwort nicht nur, dass es das schon längst ist, sondern auch, dass es an den Fans ist, zu entscheiden, welches Spiel sie haben wollen. Das Grundverständnis der Mehrheit in Deutschland als tolerantes und demokratisches Land treibt Vereine und Verbänden vor sich her, wenn auch mit schmerzvollen Ausnahmen. Genau diese Ausnahmen machen ein Engagement von Fan- aber auch Spielerseite aus weiterhin nötig. Dazu gehört das Einstehen für die Werte, die einem wichtig sind, aber auch das Sanktionieren gegenüber denjenigen, die die demokratischen Werte mit Füßen treten. Auf und neben dem Platz.

[Titelbild: IMAGO]