Typisch Hertha oder: Ich sehe was, was ich sehen will

Typisch Hertha oder: Ich sehe was, was ich sehen will

„Das ist so typisch Hertha“ dürfte ein Spruch sein, der uns allen schon mal über die Lippen gegangen ist. Tatsächlich offenbart so eine Aussage eine Menge darüber, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen. Zusammen begeben wir uns auf eine Spurensuche in der kognitiven Psychologie und werden sehen, dass sowohl Spieler, als auch Fan ihre Umwelt ähnlich verarbeiten.

Der Zyklus der Wahrnehmung

Kurzer Exkurs in die Geschichte der Psychologie: Fast jedem dürften Sigmund Freud und C.G. Jung ein Begriff sein. Diese Pioniere der Psychologie würde man heute der Tiefenpsychologie zurechnen. Vereinfacht gesagt geht es hierbei um individuelle und unbewusste Konflikte, die meist in der Kindheit zu verorten sind. Wenn man sich mehr mit der Psychologie beschäftigt hat, kennt man vielleicht auch Namen, wie B.F. Skinner oder J.B. Watson. Beides waren sogenannte Behavioristen, eine Schule der Psychologie, die das sichtbare Verhalten mithilfe von naturwissenschaftlichen Methoden streng objektiv zu erforschen suchte. Dabei interessierte sie das Innenleben ihrer Versuchspersonen wenig, da sie davon ausgingen, dass das eh nicht valide erfasst werden könnte.

Diese Beiden Schulen werden gerne als Antagonisten präsentiert, auf der einen Seite diejenigen, die unbedingt alles Innere herausfinden wollen, während man auf der anderen Seite das Seelenleben bewusst unter den Tisch fallen ließ.
In den 60er Jahren wurde jedoch ein neuer Spieler verpflichtet. Der Psychologe Ulric Neisser begründete die sognannte „Kognitive Psychologie“. Ihr Fokus? Informationen und wie wir sie verarbeiten. Im Grunde genommen untersucht die Kognitive Psychologie, wie wir denken und wie wir unsere Umwelt wahrnehmen. Die so identifizierten Prinzipien und aufgestellten Theorien sind meist vielfältig anwendbar und über die meisten Menschen generalisierbar.

Eine dieser breiten Theorien ist der „Wahrnehmungszyklus“ vom schon erwähnten Ulric Neisser. Überraschenderweise beschreibt dieser Zyklus unsere Wahrnehmung und lässt sich auf eine Hautpaussage zusammendampfen: Was wir wahrnehmen, ist stark von unseren Erfahrungen, aber auch Erwartungen geprägt.

Der Zyklus hat drei Hauptbestandteile: Erstens, unsere Umwelt. Das soll in unserem Beispiel das Olympiastadion sein. Auch wenn wir alle lange nicht mehr da waren, wissen wir ungefähr noch wie es aussieht. Eine Aussage von Neisser ist nun: Die allen Besucher:innen zur Verfügung stehenden Informationen sind invariant. Der Informationsbegriff ist hier sehr physikalisch gemeint, sprich zum Beispiel das Licht, was von allen Objekten reflektiert beziehungsweise ausgestrahlt wird. Diese Informationen nehmen wir nun durch unsere Augen auf. Licht ist nur ein Beispiel, man kann auch Töne oder Gerüche nehmen. Diese Informationen verändern nun etwas, was Neisser „Schema“ nennt. Das kann man sich als individuelle kognitive Karte der Welt vorstellen. Schemata enthalten zum Beispiel die Information, in welche Richtung man sich im Stadion drehen muss um das Spielfeld zu sehen, aber auch das Wissen darum, dass die nach der Halbzeit die Seite wechselt. Letzteres ist ein gutes Beispiel: Stellt euch vor, ihr bekommt den Münzwurf nicht mit und guckt von der Ostkurve auf das Spielfeld. Ihr seht, dass im Tor vor euch Schwolow steht. Diese Information verändert das Schema dieses Spiels: „Hertha spielt auf weiter entfernte Tor“.

(Photo by STEFANIE LOOS/AFP via Getty Images)

Unsere Schemata steuern nun unser Explorationsverhalten. Das heißt: Je nachdem, welche Mannschaft im Ballbesitz ist, orientieren wir unseren Kopf in Richtung des jeweils anderen Tores. Es wäre ja ziemlich sinnlos weiter auf das Hertha-Tor zu starren, wenn gerade ein eigener Konter läuft. Wenn wir unseren Kopf allerdings in Richtung gegnerisches Tor wenden, sehen wir bestimmte Dinge nicht mehr, einfach weil sie außerhalb unseres Blickfeldes sind. Somit bestimmt das Explorationsverhalten, welche Informationen wir aus unserer Umwelt ziehen können und der Wahrnehmungszyklus ist geschlossen.

Nun läuft das nicht alles starr nach Schema-F ab. Wir können unsere Wahrnehmung bewusst steuern, zum Beispiel, wenn unsere Erfahrungen nicht ausreichend sind oder unsere Erwartungen enttäuscht werden. Stellt euch vor, dass es euer erstes Fußballspiel ist. Ihr kommt nach der Halbzeit zurück und richtet euren Blick auf der Tor vor der Ostkurve, in der Erwartung, dort Schwolow stehen zu sehen. Schließlich stand er da ja auch die letzten 45 Minuten. Doch da steht plötzlich jemand anderes! Eure Schema deckt diesen Fall nicht ab. Es muss modifiziert werden. Fieberhaft startet ihr eurer Explorationsverhalten und sucht panisch das Stadion ab. Wo ist Schwolow? Neben euch? In der VIP-Loge? Ah, gefunden! Im anderen Tor! Euer Schema wird durch diese Information modifiziert, sodass ihr beim nächsten Spiel nach den ersten 45 Minuten euren Blick auf das korrekte Tor richten könnt.

Das ist alles eine sehr vereinfachte Darstellung, lässt sich aber mit einiger Übung auf fast alle Wahrnehmungsprozesse anwenden.

Quelle: https://www.researchgate.net/profile/Sarah-Churng/publication/300015484/figure/fig1/AS:348711382208512@1460150680052/Ulric-Neissers-Perceptual-Cycle-Source-Redrawn-from-Ulric-Neissers-Cognition-and_W640.jpg

Typisch Hertha

Der Wahrnehmungszyklus lässt sich auch problemlos auf unsere tägliche Beschäftigung mit Hertha und dem Fußball an sich anwenden. Das könnte sich zum Beispiel darin äußern, dass man während eines Spiels nur auf bestimmte Szenen oder Aktionen achtet, weil man sie erwartet. Plattenhardt benutzt nur den linken Fuß, Cunha lamentiert etc. Eine Ebene höher kann man das aber auch auf das Geschehen um den Verein beziehen. Tendenziöse Berichterstattung oder allgemeine negativ Schlagzeilen fallen natürlich eher auf, wenn aktiv nach ihnen gesucht wird. Unser Explorationsverhalten bestimmt, welches Bild wir von Hertha bekommen. Wer sich nur auf Doppelpass und BILD verlässt, kriegt einen anderen Eindruck vom Verein, als diejenigen, die sich mit der aktiven Fanszene befassen und umgekehrt. Das ist besonders auffallend für all diejenigen, die außerhalb der Bubble eines bestimmten Vereins stehen. Wäre die „Aktion Herthakneipe“ nicht prominent als Brustsponsor beworben worden, hätten es wohl viel weniger Fußballbegeisterte abseits von Hertha mitbekommen.

(Photo by Maja Hitij/Getty Images)

„Typisch Hertha“ bekommt damit eine individuelle Komponente, da es sich hier im Grunde genommen um ein kognitives Schema handelt. Ist „Typisch Hertha“ ein 28.000 Zuschauer 0:0 gegen Hannover bei Schneeregen? Oder ist es das soziale Engagement der Fans? Müssen wir das wirklich einfach so akzeptieren, wie es ein ehemaliger Cheftrainer so oft verlautbaren hat lassen oder können wir da was dran ändern?

Es wurde schon erwähnt, dass wir in der Lage sind den Wahrnehmungszyklus zu beeinflussen. Schließlich können wir frei darüber entscheiden, wohin wir unseren Kopf drehen. Wir können Blogs lesen, Hintergrundinfos einholen oder uns einfach selbst ein Bild machen, sofern das wieder möglich ist. Darüber hinaus haben wir auch die Möglichkeit, die Welt selbst zu verändern. Das geht über die reine Wahrnehmung hinaus, zeigt aber, dass ein Verein und seine Fans durch ihre Handlungen das Bild nachhaltig beeinflussen können, auch wenn nicht immer positiv.

Hertha ist das, was man draus macht

Der Wahrnehmungszyklus lehrt uns also, dass unsere Erwartungen und Erfahrungen eine große Rolle in der Bildung unserer Realität spielen. Wir sind dem aber nicht hilflos ausgeliefert. Natürlich können wir manche Sachen nicht ändern, aber ihre Gewichtung wird durch uns bestimmt. Das passiert teilweise automatisch, kann aber auch direkt gesteuert werden. Wenn Cunha 80% seiner Dribblings erfolgreich abschließt, werden wir das anders bewerten, als wenn es nur 20% sind. Wenn eines dieser 20% aber zu einem Tor führt, ist das schon wieder eine ganz andere Nummer.

Es gibt daher nicht das eine „Typisch Hertha“, vielmehr hat jeder Fan seine ganz eigene Beziehung zu diesem Verein. Die Summe dieser individuellen Schemata bildet dann so etwas wie ein kollektiv-emergentes Bild der alten Dame, welches sich dann wieder auf die individuellen Vorstellungen niederschlägt.

Für ein möglichst realistisches Bild auf den Verein sollte man daher seine Schemata hinterfragen und gegebenenfalls modifizieren. Es ist nicht immer alles schlecht, gleichzeitig ist der Verein auch nicht unfehlbar und nicht alle Aktionen – Fans und Geschäftsführung gleichermaßen angesprochen – sind gut.

Exkurs für Klugscheißer

An dieser Stelle könnte man den Artikel wunderbar beenden, wer die Übertragung der Theorie von Neisser auf diese individuelle Ebene aber als zu gewollt empfindet oder wer einfach noch mehr darüber wissen will, dem sei ein anderes Beispiel an die Hand gegeben: Der Wahrnehmungszyklus findet sich nicht nur in der Wahrnehmung des Fußballs, sondern auch im Spiel selbst wieder.

Stellt euch folgendes vor: Ihr seid Stürmer bei Hertha. Es ist Derby. 1:1, die 89. Minute ist grade angebrochen. Ihr seid grade durch die Abwehrreihen von Union gebrochen, als ihr rüde von den Beinen geholt werdet. Elfmeter. Natürlich lasst ihr es euch nicht nehmen, selbst zu schießen. Das Tor vor euch mit dem Unioner Keeper erscheint auf eurer Netzhaut. Das ist die Welt samt ihrer Information. Euer Gehirn gleicht diese Information mit eurem Schema eines Elfmeters ab. Ihr wisst, dass dieser Torhüter meist nach Links springt. Ihr orientiert euren Blick auf seine Beine und seht, dass er sein Gewicht aber auf den rechten Fuß zu verlagern scheint, was für einen Sprung nach rechts sprechen würde. Euer Schema dieser Situation wird angepasst und nochmals mit den Informationen abgeglichen. Dieser Zyklus könnte nun beliebig oft durchlaufen werden, aber schließlich wird er vom Pfiff der Schiedsrichterin unterbrochen. Ihr müsst nun handeln und diese Handlung basiert auf eurem Schema, denn natürlich werdet ihr so schießen, dass ihr eure Torchance maximal erhöht.

Foto: IMAGO

Auch das ist eine krasse Verallgemeinerung. Kann aber für Nachwuchstrainer:innen und Spieler:innen wichtig sein. Es zeigt nämlich warum Spieler, die sich unvorhersehbar bewegen so schwer zu verteidigen sind. Ihre unerwarteten Bewegungen und Aktionen stehen in Konflikt zu den Schemata der Verteidiger. Nicht umsonst wird im heutigen Trainingsbetrieb viel Wert auf die Spielvorbereitung gelegt. Es geht darum, die Schemata vor dem Spiel anzupassen und nicht erst im Spiel. Gleichzeitig zeugt es aber von hoher Flexibilität, wenn Spieler ihr Schema im Spiel rasch an die aktuelle Situation anpassen können. Das erfordert aber Aufmerksamkeit. Was man nicht mitbekommt, kann auch nichts verändern.

Ecce Hertha!

Ob direkt im Spiel, im Stadion oder vor dem sonntäglichen Doppelpass. Unsere Wahrnehmung läuft überall nach ähnlichen Prinzipien ab. Das erlaubt uns zuverlässig Gegenzusteuern, wenn wir zum Beispiel merken, dass das, was wir da sehen uns nicht gut tut oder nicht zielführend ist. Sich aufregen kann zwar als befreiend erlebt werden, Hertha spielt davon aber nicht besser. Wenn es aber darum geht, was „Typisch Hertha“ ist, kann es auch hilfreich sein seine Aufmerksamkeit auf die vielen sozialen Aktionen neben dem Platz zu richten. Hier besteht fast eine Gewissheit, dass sich Fans für Fans und andere Menschen einsetzen. Und das ist für mich „Typisch Hertha“.

Podcast #125 Erst die Pflicht, dann muss die Kür

Podcast #125 Erst die Pflicht, dann muss die Kür

Wir wünschen euch ein frohes und gesundes neue Jahr und starten direkt nach dem Spiel gegen Schalke in das neue Podcastjahr. Wir analysieren wie immer das Spiel und sprechen über alle anderen wichtigen News, vor allem unseren neuen Hauptsponsor Homeday.

Wir wünschen euch ganz viel Spaß mit der Folge und freuen uns über eure Kommentare.

Teilt den Podcast gerne mit euren Freunden, der Familie oder Bekannten. Wir freuen uns über alle Hörer*innen.

Foto: IMAGO

Herthaner im Fokus: Hertha BSC – FC Schalke 04

Herthaner im Fokus: Hertha BSC – FC Schalke 04

Nach einem bitteren Jahresende hat Hertha sein erstes Spiel des Jahres 2021 gegen Schalke 04 mit 3:0 gewonnen. Viel wichtiger als jede Einzelbewertung von Spielern sind die drei Punkte – Hertha löst sich von der Abstiegszone und zeigte, dass es auch einen qualitativen Abstand zum Tabellenkeller gibt. Ein Lob gilt ausdrücklich Bruno Labbadia, der insbesondere mit seinen Umstellungen im Mittelfeld wichtige Weichen gestellt hat.

Vladimir Darida – Das erfrischende Element

Etwa in der Mitte der 1. Halbzeit blendete der TV-Sender Sky erstmals die realtaktischen Formationen beider Mannschaften ein. Die Anfangsphase des Spiels gegen Schalke war aus Hertha-Sicht noch recht holprig – auch weil Schalke insbesondere über den genesenen Mark Uth einige spannende Konter fuhr.

In der Taktik-Analyse konnte man sehr gut sehen, wie Labbadia das Mittelfeld umgebaut hatte. In der defensiven Zentrale war Lucas Tousart tätig, der zwar immer noch zu wenige Akzente nach vorne setzt, aber – und das hat Herthas Siel heute extrem geprägt – weniger Zweikämpfe verliert als Niklas Stark. Cunha kam bei Kontern zwar zumeist über die linke Seite, hielt sich die meiste Zeit allerdings ebenfalls im Zentrum vor Tousart auf, was ebenfalls stabilisierend wirkte.

Der erfrischendste Faktor war jedoch Vladimir Darida, der laut Real-Taktikanalyse in den ersten 20 Minuten Herthas offensivster Spieler war. Eigentlich ist das keine gute Idee, müsste man meinen – schließlich schießt Darida als offensiver Mittelfeldspieler sehr wenige Tore. Doch der tschechische Nationalspieler wirkte extrem belebend in der Spitze – er legte sowohl das 2:0 für Jhon Cordoba als auch das 3:0 für Krzysztof Piatek mit einem genialen Pass auf und war zwischendurch immer wieder an Strafraumaktionen beteiligt.

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Einziges Manko mal wieder: Der Tscheche hat wieder einmal nicht selbst getroffen, insbesondere in der letzten Spielminute war er etwa 13 Meter vorm Tor in eine gute Schussposition geraten, die er mit seinen technischen Fähigkeiten eigentlich nutzen müsste. Sein letztes Tor erzielte der Tscheche gegen den SC Freiburg im Dezember 2019. Aber auch ohne eigene Torgefahr glänzt Darida durch seine starke Laufleistung (heute knapp 12,5 Kilometer) und somit damit, dass er ständig anspielbar ist.

Matteo Guendouzi – Herthas neues Gehirn

In der oben genannten realtaktischen Formation war die Rückennummer 8 von Matteo Guendouzi halblinks vor Tousart eingezeichnet. Doch im Gegensatz zu Darida hatte die Taktik-Analyse beim Franzosen recht wenig Aussagekraft, denn Guendouzi war gefühlt überall. Vor dem eigenen Strafraum holte er sich viele wichtige zweite Bälle und transportierte diese in die Offensive. Die Passquote von knapp 92 Prozent (mit u.a. zwei Schlüsselpässen) zeigt, wie sicher sich der junge Franzose schon in seiner Rolle fühlt.

Besonders erfreulich ist zudem, dass Guendouzi sich immer wieder am gegnerischen Strafraum in Pressing-Situationen einmischt, Überzahl-Situationen schafft und auch dort viele wichtige zweite Bälle holt. Bei einer solchen Situation landete der Ball dann in der 36. Spielminute bei Guendouzi. Anstatt blind aufs Tor zu hämmern, nahm er sich kurz Zeit, um zu schauen, wie der Schalker Torwart Fährmann stand und zirkelte den Ball klug wie unhaltbar ins rechte Eck. Auf diese Weise hatte er zuletzt schon gegen ‘Gladbach getroffen.

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In den englischen Medien war rund um Guendouzis Wechsel zu Hertha viel von seiner Unbeherrschtheit zu lesen, teils wurde ihm Disziplinlosigkeit vorgeworfen. Am Samstagabend hätte der Franzose viele Anlässe zum Kontrollverlust gehabt, weil die Schalker ihn oft abräumten – Guendouzi blieb ruhig und spielte weiter. Ein rundum toller Fußballspieler – es wird sehr schwer, ihn ab der kommenden Saison zu ersetzen.

Jhon Cordoba – Druck, Druck, Druck

Einige Wochen musste Hertha im Sturm zuletzt mit Piatek beginnen, weil Jhon Cordoba sich im Spiel gegen Augsburg verletzt hatte. Bis auf wenige Glanzmomente konnte die Hertha-Offensive in diesen Spielen keinen dauerhaften Druck auf den Gegner entfalten. Heute war das – auch wegen Cordoba – anders.

Bestes Beispiel war die Entstehung des 1:0 durch Guendouzi, das nur entstehen konnte, weil der Kolumbianer einen Flanken-Einwurf von Plattenhardt auf Cunha ablegte. Cordoba ist in den meisten Offensiv-Aktionen von Hertha einfach irgendwie beteiligt. Nicht alles gelingt ihm, aber durch die reine Quantität seiner Strafraumaktionen ist er ein wichtiger Faktor in Herthas Offensivspiel. Durch seine Robustheit und Präsenz ist er ein eigentlich kaum wegzudenkender Pfeiler des Berliner Angriffsspiels.

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Sein eigenes Tor, das 2:0, zeigt eine weitere Qualität des Kolumbianers: Sein Stellungspiel. Während Krzysztof Piatek bei vielen Kontern zuletzt ein schlechtes Timing hatte und sich beispielsweise nicht richtig fallen ließ, um in gute Schusspositionen zu kommen, tat Cordoba heute genau das: Darida kam über außen in die Box, legte zurück auf den Fünf-Meter-Raum, wo Cordoba nur noch einschieben musste.

Und dann waren da noch…

Luca Netz: Das Spiel gegen Schalke lief seit 86 Minuten und war entschieden, da machte sich an der Seitenlinie ein sichtlich aufgeregter junger Mann für seinen ersten Bundesliga-Einsatz bereit: Das 17-jährige Hertha-Eigengewächs Luca Netz wurde von seinem Trainer auf der linken Außenverteidiger-Position eingesetzt. Der Spielstand und die kurze verbleibende Spieldauer lassen keine ausführliche Bewertung zu. Doch kurz vor Schluss zeigte Netz, dass er sich nicht nur in der Defensive wohlfühlt, als er mit einem beachtlichen Sturmlauf in den Schalker 16er eindrang, dann aber den Querpass in die Mitte nicht mehr hinbekam. Dass Netz in Deutschlands U18-Mannschaft in 15 Spielen vier Tore erzielte, belegt, dass Hertha einen offensivorientierten Linksaußen in petto hat.

Krzysztof Piatek: Irgendwie ist dieser Mann ein Phänomen. In der 78. Spielminute eingewechselt, brauchte der Pole heute ganze fünf Ballkontakte, um gefühlt zwei Tore zu erzielen. Dass das zweite Tor nicht zählte, liegt wohl nur daran, dass im Kölner VAR-Keller ein neues Elektronenmikroskop ausprobiert wurde. Bei Piateks Torquote (saisonübergreifend für Hertha in 29 Spielen acht Tore, dabei einige nach Einwechslungen) wäre es eine Dummheit ihn in der aktuellen Transferphase abzugeben. Dass er aber so gar nicht zur Spielweise der anderen offensiven Herthaner passt, bleibt ein Problem.

Fazit – Hertha mal kein Aufbaugegner

Viele Hertha-Fans hatten vor diesem Spiel nur eines: Angst. Nach peinlich schlechten Spielen gegen Mainz und Freiburg war Hertha für Schalke eigentlich der perfekte Aufbaugegner, um eine Mega-Negativserie zu stoppen. Doch aufgrund einer geschickten Umstellung im zentralen Mittelfeld, aber auch von individuellen Verbesserungen und somit weniger Fehlern hat Hertha dieses Fiasko verhindern können. Es folgen Spiele gegen Bielefeld, Köln und Hoffenheim. Normalerweise – ein Adverb, das bei Hertha leider recht wenig Anwendung findet – sollte Hertha aus diesen Spielen mindestens vier Punkte holen. Der Start ins neue Jahr ist zumindest schon einmal geglückt. der Kelch, gegen Schalke zu verlieren, ging fast schon überraschend an Hertha vorbei.

[Titelbild: IMAGO]

Vorschau: Hertha BSC – FC Schalke 04: Duell der Pessimisten

Vorschau: Hertha BSC – FC Schalke 04: Duell der Pessimisten

Endlich ist 2020 vorüber: sehr viel Gutes konnten Hertha Fans im vergangenen Jahr nicht erleben, zumindest in sportlicher Hinsicht. Doch der Gegner der „alten Dame“ am Samstagabend erlebte ein Jahr, das so schnell nicht in Vergessenheit geraten wird. Der FC Schalke 04 beendete das Jahr mit einer Serie von 29 sieglosen Bundesligaspielen, nur vier Punkten aus den ersten 13 Spielen und eine hübsche rote Laterne. Wie groß die Sorgen in Gelsenkirchen sind, wie beide Mannschaften aktuell drauf sind und warum Hertha-Fans trotzdem noch vergeblich Ihren Optimismus für diese Partie suchen, wollen wir in unserem Vorbericht besprechen.

Dabei stand uns wieder Hassan Talib Haji (auf Twitter @hassanscorner) unterstützend zur Seite, der uns freundlicherweise seine Eindrücke aus dem Schalker Umfeld schilderte.

Horror-Serie und Trainerwechsel

Aus der Ferne betrachtet ist es weiterhin schwer vorstellbar, wie es zu dieser schwierigen Lage bei Schalke 04 kommen konnte. Wir wollten natürlich von unserem Experten wissen, ob er uns da weiterhelfen kann: „Aus der Ferne betrachtet ist das wirklich nicht ganz einfach. Ich glaube, dass es in der Mannschaft nicht ganz stimmt. Zudem macht Vorstand Jochen Schneider keinen souveränen Eindruck auf mich. Er vermittelt mir nicht das Gefühl, dass sich Schalke aus der schlechten Lage befreien kann.”

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Nur vier Punkte aus 13 Spielen, dazu nur acht erzielte Treffer und 36 (!) Gegentore: das ist zweifellos eine schreckliche Bilanz. So wirklich lässt sich das nicht erklären, Hassan drückt es wie folgt aus: „Jeder Gegner hat Schalke bisher vor große Probleme gestellt. Manche mehr, manche weniger. Es ist auf den Punkt gebracht halt so: Schalke kassiert zu viele Gegentore, schießt selbst kaum welche. So kann man dann auch nicht erfolgreich sein.“

Kein Wunder also, dass es noch vor Ende des Jahres zum Trainerwechsel kam. Christian Gross wurde schließlich Cheftrainer und wird am Samstagabend sein erstes Spiel mit seiner neuen Mannschaft bestreiten. Viel über den neuen Coach kann uns Hassan nicht sagen, doch eines ist für ihn klar: „Dass etwas passieren musste, war längst abzusehen. Ob der Trainerwechsel hin zu Gross sinnvoll war, zeigt sich ja noch. Notwendig war der Abgang von Baum aber auf jeden Fall.”

Klar ist: in Gelsenkirchen kann man sich kaum noch Punktverluste leisten. Erste Siege müssen geholt werden, um nicht bereits nach Abschluss der Hinrunde quasi schon abgestiegen zu sein. „Gross wird zunächst mal versuchen, die Verunsicherung aus den Köpfen der Spieler zu bekommen“, sagt Hassan und fügt hinzu: „Das wird vermutlich ein hartes Stück Arbeit.”

Mark Uth wieder da– Kolasinac noch nicht

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Auf wen der neue Trainer insbesondere setzen wird, ist noch unklar. Der zuletzt noch am Kopf verletzte Mark Uth wird wieder fit sein und in die Mannschaft zurückkehren. Unsicher dafür sind noch Salif Sané und Knappen-Kapitän Omar Mascarell. Fest steht, dass der Rückkehrer Sead Kolasinac noch nicht für die Partie am Samstagabend zur Verfügung stehen wird, da dessen Leihe erst am 04. Januar beginnt.

Auf die Frage, auf welche Spielelemente und auf welchen Spieler bei Schalke 04 Hertha ganz besonders Acht geben muss, antwortet Hassan: „Schalke ist leider oft nur phasenweise gut (…). Im Moment macht Schalke generell als Mannschaft keinen guten Eindruck. Da gibt es im Speziellen jetzt keinen, der besonders heraussticht.“ Immerhin konnte man sich im DFB-Pokal zuletzt gegen den SSV Ulm 1846 mit 3:1 durchsetzen. Dabei erzielte Benito Raman gleich zwei Treffer, ein Spieler der leider besonders gerne auch gegen Hertha BSC trifft (fünf Treffer in drei Aufeinandertreffen).

Personell wird man in der Hauptstadt jedenfalls auf Dedryck Boyata verzichten müssen. Der Kapitän wird in den nächsten Wochen aufgrund einer Fußverletzung ausfallen. Dazu ist Santiago Ascacibar noch nicht wieder einsatzbereit und eine Einwechslung von Mathew Leckie werden Hertha-Fans ebenfalls nicht erleben. Der Australier hat Probleme an der Bauchmuskulatur. Ansonsten sind alle Profis aktuell fit.

Same procedure as last year? Same procedure as every year.

Foto: IMAGO

Während man sich in Gelsenkirchen existenzielle Sorgen macht und verzweifelt Punkte braucht, basieren die Berliner Ängste vor allem auf subjektiver Ebene. Für viele steht es nämlich schon geschrieben: der unbeliebte Gegner aus dem Ruhrpott kommt angeschlagen in die Hauptstadt, hat seit 29 Spielen nicht mehr gesiegt und jagt den Negativ-Rekord von Tasmania Berlin. Wie soll es da anders kommen, als das Hertha das Spiel verliert? So kennt man die „alte Dame“, als Aufbaugegner, als Mannschaft, die mit der Favoritenrolle nicht umgehen kann. „Same procedure as every year“, würde man fast schon aus „Dinner for one“ zitieren wollen. All diese Elemente sind jedoch weder objektiv noch irgendwie mit Fakten zu belegen.

Bruno Labbadia zumindest wollte in der Pressekonferenz vor der Partie von Pessimismus oder Ängsten nichts hören: „Erstens geh’ ich nie mit Furcht in ein Spiel, sondern mit Optimismus. Das sollte auch die Mannschaft machen. Und wenn einer die Serie fürchten muss, dann ist es der Klub, der die Serie hat. Wir machen uns weniger Gedanken darum, dass ein Rekord aufgestellt werden kann, da es ist nicht unserer ist.”

Warum sich Hertha trotzdem keine zu großen Hoffnungen machen sollte, erschließt sich aus der Beobachtung der letzten Partien. Tatsächlich zeigten Labbadias Spieler beim SC Freiburg im letzten Spiel des Jahres 2020 insbesondere in der ersten Halbzeit eine desolate Vorstellung. Grundlegende Elemente im Spiel funktionierten nicht, die Profs wirkten weder motiviert noch bereit, sich an taktische Vorgaben zu halten. Dazu traten sie erneut verstärkt als Individualisten auf, und nicht als geschlossene Einheit auf dem Platz.

Mal wieder zurück zu den “basics”

Ausreden gibt es nach dieser Partie also nicht. Das machte auch Bruno Labbadia nach dem Freiburg-Spiel klar, als er medial die Einstellung und taktische Disziplinlosigkeit seiner Mannschaft kritisierte. Zum ersten Mal gab es auch eine öffentliche Kritik des Chefcoachs an Matheus Cunha, der erneut enttäuschte. Während die Gerüchteküche im Berliner Umfeld wieder aufkocht, wird man sich am Schenkendorffplatz wieder um grundlegende Dinge kümmern müssen. Um die sogenannten fußballerischen „Basics“ und um die nötige Mannschaftseinstellung. Hertha-Fans werden sich zum Jahreswechsel jedenfalls wünschen, dass ihre Mannschaft diese Grundtugenden wieder auf dem Platz zeigen.

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Zum Jahreswechsel wünscht man sich schließlich einiges, bei Schalke 04 natürlich am allermeisten eine Rettung aus der schwierigen Lage. So geht es auch Hassan: „Selbstverständlich wünsche ich mir, dass der Klub da unten herauskommt und die Abstiegszone verlässt. Das wird ein harter und langer Weg.“ In Pandemie-Zeiten bleibt aber auch der Fußball nur eine Nebensache: „Persönlich hoffe ich natürlich, dass mein persönliches Umfeld und auch ich weiterhin gesund bleiben. Das wünsche ich euch natürlich auch.” Dem können wir uns an dieser Stelle nur anschließen.

Duell der Pessimisten

Das Duell am Samstagabend wird sicherlich kein Wunschkonzert und sonderlich optimistisch scheint wohl keines der Beiden Fanlager zu sein. Unser Experte ist da keine Ausnahme und tippt auf eine knappe Niederlage seiner Mannschaft. Nach Berlin fährt mit Gelsenkirchen ein angeschlagener Boxer, der kurz vor dem K.O. noch zum letzten großen Schlag ausholt. Dabei muss die „alte Dame“ darauf achten, diesen Schlag auszuweichen, um nicht selbst k.o. zu gehen. Hertha wird jede Kraft brauchen, um nicht wieder in alte Muster zu verfallen, und im Jahr 2021 endlich ein neues, besseres Gesicht zu zeigen. Aufbaugegner war man bereits in jüngerer Vergangenheit zu oft.

Egal welche Taktik Labbadia wählt, wie der Rasen aussieht, wie der Schiedsrichter pfeift oder was die Spieler gefrühstückt haben: im ersten Spiel des Jahres muss Hertha BSC siegen, um das Ruder umzudrehen. Ansonsten werden auch den geduldigsten Anhänger die Argumente ausgehen und ein weiteres Chaos-Jahr kann starten.

Titelbild: IMAGO