„Das ist so typisch Hertha“ dürfte ein Spruch sein, der uns allen schon mal über die Lippen gegangen ist. Tatsächlich offenbart so eine Aussage eine Menge darüber, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen. Zusammen begeben wir uns auf eine Spurensuche in der kognitiven Psychologie und werden sehen, dass sowohl Spieler, als auch Fan ihre Umwelt ähnlich verarbeiten.
Der Zyklus der Wahrnehmung
Kurzer Exkurs in die Geschichte der Psychologie: Fast jedem dürften Sigmund Freud und C.G. Jung ein Begriff sein. Diese Pioniere der Psychologie würde man heute der Tiefenpsychologie zurechnen. Vereinfacht gesagt geht es hierbei um individuelle und unbewusste Konflikte, die meist in der Kindheit zu verorten sind. Wenn man sich mehr mit der Psychologie beschäftigt hat, kennt man vielleicht auch Namen, wie B.F. Skinner oder J.B. Watson. Beides waren sogenannte Behavioristen, eine Schule der Psychologie, die das sichtbare Verhalten mithilfe von naturwissenschaftlichen Methoden streng objektiv zu erforschen suchte. Dabei interessierte sie das Innenleben ihrer Versuchspersonen wenig, da sie davon ausgingen, dass das eh nicht valide erfasst werden könnte.
Diese Beiden Schulen werden gerne als Antagonisten präsentiert, auf der einen Seite diejenigen, die unbedingt alles Innere herausfinden wollen, während man auf der anderen Seite das Seelenleben bewusst unter den Tisch fallen ließ.
In den 60er Jahren wurde jedoch ein neuer Spieler verpflichtet. Der Psychologe Ulric Neisser begründete die sognannte „Kognitive Psychologie“. Ihr Fokus? Informationen und wie wir sie verarbeiten. Im Grunde genommen untersucht die Kognitive Psychologie, wie wir denken und wie wir unsere Umwelt wahrnehmen. Die so identifizierten Prinzipien und aufgestellten Theorien sind meist vielfältig anwendbar und über die meisten Menschen generalisierbar.
Eine dieser breiten Theorien ist der „Wahrnehmungszyklus“ vom schon erwähnten Ulric Neisser. Überraschenderweise beschreibt dieser Zyklus unsere Wahrnehmung und lässt sich auf eine Hautpaussage zusammendampfen: Was wir wahrnehmen, ist stark von unseren Erfahrungen, aber auch Erwartungen geprägt.
Der Zyklus hat drei Hauptbestandteile: Erstens, unsere Umwelt. Das soll in unserem Beispiel das Olympiastadion sein. Auch wenn wir alle lange nicht mehr da waren, wissen wir ungefähr noch wie es aussieht. Eine Aussage von Neisser ist nun: Die allen Besucher:innen zur Verfügung stehenden Informationen sind invariant. Der Informationsbegriff ist hier sehr physikalisch gemeint, sprich zum Beispiel das Licht, was von allen Objekten reflektiert beziehungsweise ausgestrahlt wird. Diese Informationen nehmen wir nun durch unsere Augen auf. Licht ist nur ein Beispiel, man kann auch Töne oder Gerüche nehmen. Diese Informationen verändern nun etwas, was Neisser „Schema“ nennt. Das kann man sich als individuelle kognitive Karte der Welt vorstellen. Schemata enthalten zum Beispiel die Information, in welche Richtung man sich im Stadion drehen muss um das Spielfeld zu sehen, aber auch das Wissen darum, dass die nach der Halbzeit die Seite wechselt. Letzteres ist ein gutes Beispiel: Stellt euch vor, ihr bekommt den Münzwurf nicht mit und guckt von der Ostkurve auf das Spielfeld. Ihr seht, dass im Tor vor euch Schwolow steht. Diese Information verändert das Schema dieses Spiels: „Hertha spielt auf weiter entfernte Tor“.
Unsere Schemata steuern nun unser Explorationsverhalten. Das heißt: Je nachdem, welche Mannschaft im Ballbesitz ist, orientieren wir unseren Kopf in Richtung des jeweils anderen Tores. Es wäre ja ziemlich sinnlos weiter auf das Hertha-Tor zu starren, wenn gerade ein eigener Konter läuft. Wenn wir unseren Kopf allerdings in Richtung gegnerisches Tor wenden, sehen wir bestimmte Dinge nicht mehr, einfach weil sie außerhalb unseres Blickfeldes sind. Somit bestimmt das Explorationsverhalten, welche Informationen wir aus unserer Umwelt ziehen können und der Wahrnehmungszyklus ist geschlossen.
Nun läuft das nicht alles starr nach Schema-F ab. Wir können unsere Wahrnehmung bewusst steuern, zum Beispiel, wenn unsere Erfahrungen nicht ausreichend sind oder unsere Erwartungen enttäuscht werden. Stellt euch vor, dass es euer erstes Fußballspiel ist. Ihr kommt nach der Halbzeit zurück und richtet euren Blick auf der Tor vor der Ostkurve, in der Erwartung, dort Schwolow stehen zu sehen. Schließlich stand er da ja auch die letzten 45 Minuten. Doch da steht plötzlich jemand anderes! Eure Schema deckt diesen Fall nicht ab. Es muss modifiziert werden. Fieberhaft startet ihr eurer Explorationsverhalten und sucht panisch das Stadion ab. Wo ist Schwolow? Neben euch? In der VIP-Loge? Ah, gefunden! Im anderen Tor! Euer Schema wird durch diese Information modifiziert, sodass ihr beim nächsten Spiel nach den ersten 45 Minuten euren Blick auf das korrekte Tor richten könnt.
Das ist alles eine sehr vereinfachte Darstellung, lässt sich aber mit einiger Übung auf fast alle Wahrnehmungsprozesse anwenden.
Typisch Hertha
Der Wahrnehmungszyklus lässt sich auch problemlos auf unsere tägliche Beschäftigung mit Hertha und dem Fußball an sich anwenden. Das könnte sich zum Beispiel darin äußern, dass man während eines Spiels nur auf bestimmte Szenen oder Aktionen achtet, weil man sie erwartet. Plattenhardt benutzt nur den linken Fuß, Cunha lamentiert etc. Eine Ebene höher kann man das aber auch auf das Geschehen um den Verein beziehen. Tendenziöse Berichterstattung oder allgemeine negativ Schlagzeilen fallen natürlich eher auf, wenn aktiv nach ihnen gesucht wird. Unser Explorationsverhalten bestimmt, welches Bild wir von Hertha bekommen. Wer sich nur auf Doppelpass und BILD verlässt, kriegt einen anderen Eindruck vom Verein, als diejenigen, die sich mit der aktiven Fanszene befassen und umgekehrt. Das ist besonders auffallend für all diejenigen, die außerhalb der Bubble eines bestimmten Vereins stehen. Wäre die „Aktion Herthakneipe“ nicht prominent als Brustsponsor beworben worden, hätten es wohl viel weniger Fußballbegeisterte abseits von Hertha mitbekommen.
„Typisch Hertha“ bekommt damit eine individuelle Komponente, da es sich hier im Grunde genommen um ein kognitives Schema handelt. Ist „Typisch Hertha“ ein 28.000 Zuschauer 0:0 gegen Hannover bei Schneeregen? Oder ist es das soziale Engagement der Fans? Müssen wir das wirklich einfach so akzeptieren, wie es ein ehemaliger Cheftrainer so oft verlautbaren hat lassen oder können wir da was dran ändern?
Es wurde schon erwähnt, dass wir in der Lage sind den Wahrnehmungszyklus zu beeinflussen. Schließlich können wir frei darüber entscheiden, wohin wir unseren Kopf drehen. Wir können Blogs lesen, Hintergrundinfos einholen oder uns einfach selbst ein Bild machen, sofern das wieder möglich ist. Darüber hinaus haben wir auch die Möglichkeit, die Welt selbst zu verändern. Das geht über die reine Wahrnehmung hinaus, zeigt aber, dass ein Verein und seine Fans durch ihre Handlungen das Bild nachhaltig beeinflussen können, auch wenn nicht immer positiv.
Hertha ist das, was man draus macht
Der Wahrnehmungszyklus lehrt uns also, dass unsere Erwartungen und Erfahrungen eine große Rolle in der Bildung unserer Realität spielen. Wir sind dem aber nicht hilflos ausgeliefert. Natürlich können wir manche Sachen nicht ändern, aber ihre Gewichtung wird durch uns bestimmt. Das passiert teilweise automatisch, kann aber auch direkt gesteuert werden. Wenn Cunha 80% seiner Dribblings erfolgreich abschließt, werden wir das anders bewerten, als wenn es nur 20% sind. Wenn eines dieser 20% aber zu einem Tor führt, ist das schon wieder eine ganz andere Nummer.
Es gibt daher nicht das eine „Typisch Hertha“, vielmehr hat jeder Fan seine ganz eigene Beziehung zu diesem Verein. Die Summe dieser individuellen Schemata bildet dann so etwas wie ein kollektiv-emergentes Bild der alten Dame, welches sich dann wieder auf die individuellen Vorstellungen niederschlägt.
Für ein möglichst realistisches Bild auf den Verein sollte man daher seine Schemata hinterfragen und gegebenenfalls modifizieren. Es ist nicht immer alles schlecht, gleichzeitig ist der Verein auch nicht unfehlbar und nicht alle Aktionen – Fans und Geschäftsführung gleichermaßen angesprochen – sind gut.
Exkurs für Klugscheißer
An dieser Stelle könnte man den Artikel wunderbar beenden, wer die Übertragung der Theorie von Neisser auf diese individuelle Ebene aber als zu gewollt empfindet oder wer einfach noch mehr darüber wissen will, dem sei ein anderes Beispiel an die Hand gegeben: Der Wahrnehmungszyklus findet sich nicht nur in der Wahrnehmung des Fußballs, sondern auch im Spiel selbst wieder.
Stellt euch folgendes vor: Ihr seid Stürmer bei Hertha. Es ist Derby. 1:1, die 89. Minute ist grade angebrochen. Ihr seid grade durch die Abwehrreihen von Union gebrochen, als ihr rüde von den Beinen geholt werdet. Elfmeter. Natürlich lasst ihr es euch nicht nehmen, selbst zu schießen. Das Tor vor euch mit dem Unioner Keeper erscheint auf eurer Netzhaut. Das ist die Welt samt ihrer Information. Euer Gehirn gleicht diese Information mit eurem Schema eines Elfmeters ab. Ihr wisst, dass dieser Torhüter meist nach Links springt. Ihr orientiert euren Blick auf seine Beine und seht, dass er sein Gewicht aber auf den rechten Fuß zu verlagern scheint, was für einen Sprung nach rechts sprechen würde. Euer Schema dieser Situation wird angepasst und nochmals mit den Informationen abgeglichen. Dieser Zyklus könnte nun beliebig oft durchlaufen werden, aber schließlich wird er vom Pfiff der Schiedsrichterin unterbrochen. Ihr müsst nun handeln und diese Handlung basiert auf eurem Schema, denn natürlich werdet ihr so schießen, dass ihr eure Torchance maximal erhöht.
Auch das ist eine krasse Verallgemeinerung. Kann aber für Nachwuchstrainer:innen und Spieler:innen wichtig sein. Es zeigt nämlich warum Spieler, die sich unvorhersehbar bewegen so schwer zu verteidigen sind. Ihre unerwarteten Bewegungen und Aktionen stehen in Konflikt zu den Schemata der Verteidiger. Nicht umsonst wird im heutigen Trainingsbetrieb viel Wert auf die Spielvorbereitung gelegt. Es geht darum, die Schemata vor dem Spiel anzupassen und nicht erst im Spiel. Gleichzeitig zeugt es aber von hoher Flexibilität, wenn Spieler ihr Schema im Spiel rasch an die aktuelle Situation anpassen können. Das erfordert aber Aufmerksamkeit. Was man nicht mitbekommt, kann auch nichts verändern.
Ecce Hertha!
Ob direkt im Spiel, im Stadion oder vor dem sonntäglichen Doppelpass. Unsere Wahrnehmung läuft überall nach ähnlichen Prinzipien ab. Das erlaubt uns zuverlässig Gegenzusteuern, wenn wir zum Beispiel merken, dass das, was wir da sehen uns nicht gut tut oder nicht zielführend ist. Sich aufregen kann zwar als befreiend erlebt werden, Hertha spielt davon aber nicht besser. Wenn es aber darum geht, was „Typisch Hertha“ ist, kann es auch hilfreich sein seine Aufmerksamkeit auf die vielen sozialen Aktionen neben dem Platz zu richten. Hier besteht fast eine Gewissheit, dass sich Fans für Fans und andere Menschen einsetzen. Und das ist für mich „Typisch Hertha“.