Vorschau: Borussia Mönchengladbach – Hertha BSC: Der Härtetest vor den Wochen der Wahrheit

Vorschau: Borussia Mönchengladbach – Hertha BSC: Der Härtetest vor den Wochen der Wahrheit

Derbysieger, Derbysieger… Sorry, musste nochmal sein. Nach einer Woche voller Jubel, Trubel, Heiterkeit ob der erfolgreichen Verteidigung der Stadtmeisterschaft geht nun der Ernst des Lebens wieder los. Denn worüber der Sieg gegen Union ein wenig hinwegtäuschte, ist, dass Hertha rein punktemäßig nach wie vor den Erwartungen hinterherhinkt. In den nächsten Wochen hat das Team von Bruno Labbadia allerlei Chancen, dies zu ändern. Bis zum Start der Rückrunde stehen mit Mainz, Freiburg, Schalke, Bielefeld, Köln und Hoffenheim Gegner auf dem Spielplan, die allesamt schlagbar scheinen. Wie Hertha mit dieser Favoritenrolle umgehen kann, wird zu beobachten sein. Bevor es dazu kommt, darf man sich aber am Samstagnachmittag noch einmal in der Position des Außenseiters wähnen. Mit Borussia Mönchengladbach geht es gegen die Positivüberraschung der vergangenen Saison.

Um einen detaillierten Einblick in die Lage bei der Borussia zu bekommen, haben wir mit Gladbach-Expertin Yvonne gesprochen.

Quo vadis, BMG?

Späte Gegentore machen Gladbach aktuell zu schaffen. (THILO SCHMUELGEN/POOL/AFP via Getty Images)

Auch als Nicht-Borusse neigt man dazu, Mitleid mit den Anhängerinnen und Anhängern aus Mönchengladbach zu haben. Nach einer tollen Saison mit attraktivem, vertikalem Fußball gelingt den „Fohlen“ der Einzug in die Champions League. Dort wird man in eine Gruppe mit den europäischen Schwergewichten Inter Mailand und Real Madrid gelost, wird in dieser Hammergruppe gar Zweiter – und das alles ausgerechnet in dem Jahr, in dem kein einziger Fan live im Stadion an diesem Spektakel teilhaben darf. Umso höher ist die Leistung der Borussen in diesem Wettbewerb zu bewerten.

Es ist immer schwierig zu beurteilen, welchen Einfluss eine derartige Mehrfachbelastung auf einen Saisonverlauf hat. Auch in der Vorsaison tanzte Gladbach zu diesem Zeitpunkt noch auf allen drei Hochzeiten, hatte aber keinen derart eng getakteten Spielplan, wie es jetzt aufgrund von Corona der Fall ist. Blickt man auf die reinen Zahlen, könnte man durchaus ableiten, dass dies seine Spuren hinterlässt. Mit 16 Zählern nach zehn Spieltagen rangiert die Mannschaft von Trainer Marco Rose auf dem siebten Rang. Zum selben Zeitpunkt der Vorsaison grüßte Gladbach von der Tabellenspitze mit 22 eingefahrenen Punkten.

Dass es jetzt unter dem Strich sechs Punkte weniger sind, liegt vor allem daran, dass Gladbach zum Ende der Partie oft Nachlässigkeiten zeigt: „Gladbach kassierte leider generell das ein oder andere Gegentor in der Schlussphase und verlor dadurch wichtige Punkte (zum Beispiel gegen Union, Wolfsburg und eben auch Augsburg).“, sagt Yvonne. Entsprechend ernüchtert fällt auch das Zwischenfazit zur bisherigen Bundesligasaison aus: „Es sind ja „nur“ 3 Punkte zu Platz 4. Aber es wurde eben leider der ein oder andere Punkt sehr unnötig verspielt.“

(K)ein Kader für drei Wettbewerbe?

In der Innenverteidigung wird es bei Gladbach personell dünn. (Frederic Scheidemann/Getty Images)

Zugegeben: Die Arbeit von Gladbachs Geschäftsführer Sport Max Eberl kritisch zu beleuchten, scheint mit jedem Jahr schwieriger zu werden. In der zurückliegenden Transferphase stand er vor der Herausforderung, diesen ohnehin schon qualitativ hochwertigen Kader sinnvoll zu ergänzen, sodass die Dreifachbelastung gestemmt werden kann.

Wie so ziemlich jede Herausforderung scheint ihm auf den ersten Blick auch das wieder erfolgreich gelungen zu sein. So wurde die Offensive mit Ex-Herthaner Valentino Lazaro und Hannes Wolf verstärkt. Beide Spieler haben bereits in Salzburg unter Marco Rose trainiert und können somit eine sofortige Hilfe sein – so war jedenfalls der Gedanke dahinter. Die Realität stellt sich indes etwas anders dar. Während Hannes Wolf immerhin in jeder Ligapartie zum Einsatz kam – wenngleich auch nur viermal von Beginn an – fiel Lazaro verletzungsbedingt in den ersten fünf Spieltagen aus und stand auch danach erst ein einziges Mal in der Anfangsformation. So ordnet Yvonne ein: „Die Neuzugänge zu bewerten, ist momentan gar nicht so einfach. Wolf und Lazaro haben natürlich gute Ansätze, allerdings spielen beide bisher zu wenig, als dass man da ein festes Urteil bilden könnte. Man muss neuen Spielern ja auch immer ein bisschen Zeit geben.“

Die Fohlen mit personellem Engpass

Diese Zeit hat Gladbach allerdings aufgrund mehrerer Umstände aktuell nicht. Denn so gut bestückt die Offensive eigentlich ist, so sehr offenbaren sich auch hier kleinere Probleme. Jonas Hofmann, der wohl beste Borusse in den ersten Saisonwochen, fällt seit dem achten Spieltag durch einen Muskelbündelriss, den er sich beim Einsatz für den DFB zugezogen hat, aus. Bislang gelang es weder Wolf noch Lazaro, sich nachhaltig dafür zu empfehlen, diese klaffende Lücke zu schließen.  

Während derartige Verletzungen und kleinere Formdellen in der Offensive aufgrund der individuellen Klasse von – zum Beispiel – Plea und Stindl aufgefangen werden können, ist es indes in erster Linie die Abwehr, die gerade ein wenig Sorgen bereitet, wie Yvonne sagt: „Man merkt allerdings doch, wie schnell sich Verletzungen auswirken. In der Abwehr fehlten jetzt Elvedi und Jantschke verletzt, Bensebaini war in Quarantäne. Das schwächt die Defensive natürlich schon.“ Zwar ist Elvedi inzwischen wieder genesen. Durch den Ausfall von Jantschke stehen in Elvedi und Ginter jedoch lediglich zwei fitte Innenverteidiger zur Verfügung. Zwar hat man zwar theoretisch auch noch Mamadou Doucouré im Kader. Der Franzose kam in seinen nunmehr viereinhalb Jahren am Niederrhein allerdings, aufgrund einer dramatischen Verletzungshistorie, erst auf zwei Bundesligaminuten und ist daher wohl keine ernsthafte Alternative für die Startformation. Stattdessen rückte jüngst der eigentlich im zentralen Mittelfeld beheimatete Christoph Kramer auf die Position neben Matthias Ginter. Es ist also nicht auszuschließen, dass Max Eberl hier im Winter nochmal nachjustiert.  

Mit Rückenwind in die Wochen der Wahrheit

Gleichwohl die Favoritenrolle am Samstag ganz klar auf Seiten der Hausherren anzusiedeln ist, scheint Gladbach – auch aufgrund des kräftezehrenden Spiels in Madrid am Mittwoch – nicht unschlagbar. In erster Linie wird es für Hertha aber darum gehen, den positiven Trend der letzten Wochen – mit Ausnahme der zweiten Halbzeit gegen Dortmund – zu bestätigen und sich Selbstbewusstsein für die eingangs erwähnten restlichen Spiele der Hinrunde zu holen, in denen Hertha ohne Wenn und Aber ausgiebig punkten muss.

(Photo by ODD ANDERSEN/AFP via Getty Images)

Da kommt es gerade rechtzeitig, dass sich Krzystof Piatek im Derby via Doppelpack warmschießen konnte. Denn Torgefahr ging nach dem Ausfall von Jhon Cordoba quasi einzig und allein von Matheus Cunha aus, der gegen Gladbach aufgrund einer Gelbsperre zum Zusehen verdammt ist. Wie Labbadia den Brasilianer ersetzen will, wird die spannende Frage im Vorfeld der Partie sein. Zumindest dürfte neben Piatek aber auch Javairo Dilrosun nach seinem überzeugenden Jokerauftritt gegen Union ein Kandidat für die Startelf sein. Es gibt also keinerlei Gründe, schon vor Anpfiff die weiße Wahne zu hissen.

*Quelle Titelbild: WOLFGANG RATTAY/POOL/AFP via Getty Images

Zurück in die Vergangenheit

Zurück in die Vergangenheit

Basierend auf einem Gedanken unseres Co-Gründers Marc Schwitzky, beleuchten wir in diesem Text die gute alte Zeit und wieso gerade die alte Dame dort Probleme hat.

Ein Tag im Herbst

Es ist der 30. September 2000, 15:30. 37714 Zuschauer:innen genießen, im damals noch nicht umgebauten Olympiastadion, bei wolkenlosen 17 Grad bestes Fußballwetter als Edgar Steinborn den 7. Spieltag der noch jungen Saison 2000/2001 anpfeift. Die Hertha um Trainer Jürgen Röber, Michael Preetz, Marko Rehmer, Dick van Burik und Supertalent Sebastian Deisler trifft auf den 1. FC Köln.

Das Spiel läuft nicht wirklich gut. Innerhalb von 5. Minuten schenkt der Effzeh der alten Dame zwei Tore ein, sodass es nach einer halben Stunde schon 0:2 steht. Die Fans im halb gefüllten Olympiastadion stellen sich auf eine erneute Niederlage ein (am Spieltag zuvor hatte man 2:5 gegen Unterhaching verloren). Doch dann kommt es anders. Alex Alves, der 15 Millionen Mark Königstransfer aus Brasilien, legt sich den Ball nach dem Anstoß zurecht und verwandelt aus 52 Metern zum 1:2. Hertha dreht das das Spiel und gewinnt mit 4:2 durch einen Treffer von Preetz und einem Doppelpack von Daruisz Wosz.

(Photo by Sandra Behne/Bongarts/Getty Images)

Einer der Zuschauer, die dieses Kunstwerk eines Tores miterleben durfte, war gerade einmal fünf Jahre alt und saß mit seinem Vater und seiner Schwester von der Ostkurve aus gesehen links im Oberring. Es war mein erstes Hertha-Spiel.

Legen-, wait for it, -dary

Wo wart ihr, an diesem Tag im Herbst? Mit wem habt ihr das WM-Finale 2014 geguckt und erinnert ihr euch noch, als wir vor Jahren die Bayern 2:0 zuhause geschlagen haben? Das immer wieder Erzählen der Vergangenheit gehört zum Sport einfach dazu. Viele Vereine kultivieren Heldengeschichten von Vereinsikonen und vergangene Erfolgen sorgsam. Die Erinnerungen bilden eine narrative Basis, die die Fanszene vereint. Dabei spielt es nicht mal eine Rolle, ob man selbst dabei gewesen ist.

Ich denke, dass mir fast jeder zustimmen wird, wenn ich Ete Beer und Hanne Sobek als Hertha-Legenden bezeichnen würde. Aber hat die einer von euch spielen gesehen? Was kennen wir von Ihnen, außer romantische, immer wieder am Tresen erzählte Geschichten und alte Statistiken? Doch es sind diese Geschichten, die die Bindung nicht nur zwischen Fans und Verein, sondern auch innerhalb der Fanszene ermöglichen. Das kann viele Formen annehmen. Zum Beispiel Rituale, Fangesänge, Vereinshymnen und historische Spielorte. All das erzeugt Verbundenheit, auch wenn man eigentlich überhaupt keine Ahnung hat, warum gerade ein alter Schlager von Frank Zander es vermag bei einem Gänsehaut zu erzeugen.

Nostalginho

Kollektive Erinnerungen sind das eine. Nostalgie hingegen das andere. Auch wenn beides zusammenhängen kann, Nostalgie beschreibt die Sehnsucht nach einer Zeit, die man selbst erlebt hat. Man kann zwar auch nostalgisch bezogen auf Zeiten sein, die man nur aus Erzählungen kennt, das Gefühl, was uns aber allen am bekanntesten sein dürfte, ist auf Zeiten bezogen, mit denen man Erfahrungen aus erster Hand verbinden kann.

Dieser Umstand begrenzt den Personenkreis, die Nostalgie erleben können auf die, die zu dieser Zeit am Leben waren. Probiert es selbst aus. Denkt an die beiden Deutschen Meisterschaften 1930 und 1931 zurück. Wer wäre nicht gerne bei den beiden Endspielen gegen Holstein Kiel und TSV 1860 München dabei gewesen? Aber sehnt ihr euch in diese Zeit zurück? Wahrscheinlich nicht, außer ihr habt es selbst miterlebt und seid damit mindestens 95 Jahre alt.

Die persönliche Lebenszeit bestimmt also die Ereignisse, zu denen man eine nostalgische Bindung aufbauen kann. Ein weiterer Faktor ist das diese Zeit als positiv erlebt werden muss.  Gemeinsame Erinnerungen hin oder her, man denkt sicher nicht gerne an das verlorene Derby letzte Saison oder die 0:4 Klatsche gegen den KSC am letzten Spieltag der Spielzeit 2008/09 zurück.

(Photo by Alex Grimm/Bongarts/Getty Images)

In diesem Punkt hat Hertha allerdings ein Problem. Es gibt kaum Erfolge. Der letzte „Titel“ ist der Intertoto Cup 2006, ein Wettbewerb, von dem ich bis zu diesem Text noch nie gehört habe. Ohne wirkliche Erfolge fehlt den Fans ein historischer Anker. Klar kann man stundenlang über Marcelinho und Pantelic schwärmen, aber diese großen Spieler sind nicht wirklich mit dem Gewinn eines Titels zu vergleichen. Auch Erfolge wie die Bundesliga-Aufstiege 2011 und 2013 sind nur bedingt geeignet. Das Selbstverständnis des Vereins war damals, dass der Erstklassigkeit und so gesehen, war das schon gut, aber eben auch nicht überraschend (der erstmalige Aufstieg von Union ist zum Beispiel was ganz anderes, dort war man eher an die zweite Liga gewöhnt).

Wie viel ist Erfolg wert?

Vor diesem Hintergrund lohnt sich ein Vergleich mit anderen Vereinen. Fast alle von Ihnen konnten in den letzten Jahren relative Erfolge feiern. Ob der Pokalsieg von Frankfurt, Nürnberg oder die Meisterschaften von Stuttgart, Bremen, Wolfsburg oder Dortmund. Letztere habe mit Jürgen Klopp sogar einen Namen, der synonym für die „gute alte Zeit“ steht.

Ein Wort am Rande zu RB Leipzig. Auch wenn ich persönlich dem Investoren-Fußball nicht ganz so kritisch gegenüberstehe, solange er nicht an den Fans vorbei und nachhaltig gestaltet wird, zeigen die hier aufgeführten Schlüsse doch, dass sich eine auf der gemeinsamen Geschichte aufbauende Fanidentität bei den Leipzigern, wenn überhaupt, erst sehr langsam und spät aufbauen kann. Der Zeitpunkt, ab dem man über die Bezeichnung „Traditionsclub“ nachdenken könnte, fällt wahrscheinlich mit meinem Renteneintritt zusammen. Momentan ist der historische Kern dieses Clubs so leer, wie die Dosen seines Hauptsponsors nach einer feuchtfröhlichen Wodka-E-Dorfdisco-Nacht.

Dabei funktioniert der Erfolg über Kontrast. Kaiserslautern schaffte es vom Aufsteiger zum deutschen Meister und auch wenn es bei den Bayern ein bisschen schwer ist in der jüngsten Zeit ein Leistungstief zu finden, der Champions League Titel 2013 hätte wahrscheinlich weniger süß geschmeckt, wenn man nicht im Jahr zuvor so tragisch verloren hätte. Auch hier werden die Probleme bei RB deutlich. Wenn Erfolg vorprogrammiert ist, dann ist er eben auch weniger wert.

Erfolge schaffen Fans

Jetzt spielt uns unser Verstand allerdings einen Streich. Wir idealisieren die Vergangenheit. Wir erinnern sie positiver, als wir sie damals erlebt haben und wir sind oft nur auf das Ergebnis bedacht. Klar war es geil, als Hans Meyer uns 2003/2004 vor dem Abstieg gerettet hat. Aber fanden wir das damals berauschend, die ganze Saison nicht über den 12. Tabellenplatz hinaus zu kommen? Wir erinnern uns fast nur an die Erleichterung am Ende, nicht die Agonie davor.

Was Hertha also braucht sind richtige Erfolge. Versteht mich nicht falsch. Ich habe keine Angst, dass uns die Fans abhandenkommen. Ich bewundere die Fanszene für ihr beispielhaftes Verhalten und Leidensfähigkeit. Doch seien wir mal ehrlich, jedes Heimspiel im ausverkauften Olympiastadion zu erleben, wäre schon geil. Doch dazu müssen die Leute Hertha erstmal lieben lernen – wenn man nicht gerade von jemanden inauguriert wird, der schon Fan ist, funktioniert das am besten über die schon angesprochenen Erfolge. Sie bilden nicht nur eine potentielle nostalgische Basis, sondern wecken auch Interesse. Denn: eine weitere Eigenart des Menschen ist es, gerne auf der Gewinnerseite stehen zu wollen. Wer jetzt hinsichtlich der „Erfolgsfans“ pikiert die Nase rümpft, der möge sich klar werden, dass aus diesem anfänglich auf Erfolg beruhendem Interesse durchaus eine tiefe Bindung entstehen kann.

Mehr Fans bedeutet mehr Unterstützung, mehr Unterstützung bedeutet mehr Geld, bessere Stimmung und auch mehr Siege. Es ist eine simple Rechnung und bei aller Fußballromantik: 2:0 gegen Bayern ist besser als 1:6 gegen Dortmund. 

Windhorstsche Zeiten

Bei all dem Trubel um den Investoreneinstieg, ist ein allgemeines Gefühl der Nostalgie nicht verwunderlich. Unser Co-Gründer Marc (dem ich die Inspiration zu diesem Artikel verdanke) hat eigens dazu zusammen mit Louis Richter den Twitter-Account Es war ein mal ein Pal aufgemacht. Manch einer wünscht sich die gute alte Zeit unter Pal Dardai zurück, als die brennenden Fragen noch die Qualität des Hoffenheimer Milchreis oder „richtig gute Kalbsschnitzel“ betrafen. Als alles noch einfacher schien und das größte Problem des Vereins die “Hintenrumscheiße” war.

(Photo credit should read ODD ANDERSEN/AFP via Getty Images)

Das ist deshalb verständlich, als dass Nostalgie besonders dann wirkt, wenn ein Teil der aktuellen Identität bedroht ist. Man sucht also Anhaltspunkte aus der Vergangenheit, um die Bedrohung der Gegenwart zu bekämpfen. Konkret zeichnet sich diese Bedrohung durch den erwähnten Einstieg des Investors ab. Hertha läuft Gefahr in einem Atemzug mit RB Leipzig, Hoffenheim und Wolfsburg genannt zu werden. Man wäre nicht mehr Fan eines Traditions-, sondern Kommerzklubs. Um diese Dystopie abzuwenden, sehnt sich manch einer in die Zeit zurück, als man zwar nicht gut, aber wenigstens ehrlich gekickt hat und Ingo Schiller wahrscheinlich persönlich das übrig gebliebene Becherpfand eingesammelt und für die Tilgung der Schulden verwendet hat.

Ihr merkt den zeitlichen Bezugsrahmen der Nostalgie. Die Ära Dardai ist nicht allzu lange her und damit die am weitesten verbreitete kollektive Erinnerung. Wenn man sich über sieben Kindl in der Herthakneipe verliert, dann hört man sicher auch die Geschichten über den Wiederaufstieg 1997. An Dardai erinnern sich aber einfach mehr Fans und daher ist diese Zeit einfach geeigneter. Dazu kommt der angesprochene Kontrast. Der Berliner Rekordspieler, die Altstars Kalou und Ibisevic und der im Hintergrund lauernde goldene 99er Jahrgang schreiben das schönere Fußballmärchen als ein Rekordtransferwinter à la Klinsmann.

Der Blick nach Vorne

„Mehr als die Vergangenheit, interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben“, sollt Albert Einstein mal gesagt haben. Und auch wenn man dem Nobelpreisträger vorsichtig hinsichtlich der Bedeutung der Vergangenheit widersprechen darf, trifft er einen wahren Kern. Der idealisierte Blick zurück, mag einem die wärmende Illusion der guten alten Zeit versprechen, doch je länger diese Zeit zurück liegt, desto schwächer, ungeeigneter und verklärter wird sie. Die nächsten Fangenerationen werden Pal Dardai nur noch aus Statistiken und von alten Arcor Trikots kennen.

Es ist einerseits wichtig, diese Ikonen nicht sterben zu lassen, aber auch, dass die Herthaner:innen der Zukunft ihre eigenen positiven Erfahrungen machen können. Das kann ein Titel sein. Vielleicht ist es auch der Wiederaufstieg nach Jahre langer Zweitklassigkeit oder einfach ein Sieg auswärts in München. Unabhängig dessen, freue ich mich über jeden Sieg, den ich mit anderen Herthaner:innen feiern kann. Diese Erlebnisse bauen das Fundament, auf dem der Verein und seine Geschichte weiterbesteht. Und wenn mich meine Kinder mal fragen, warum ich diesen Verein so liebe, dann erzähle ich ihnen nostalgisch die Geschichte von Alex Alves und hoffe, dass sie eine ähnliche erleben dürfen.

[Titelbild: Photo by Martin Rose/Bongarts/Getty Images]

Herthaner im Fokus: Hertha BSC – 1. FC Union Berlin

Herthaner im Fokus: Hertha BSC – 1. FC Union Berlin

Nach einer ereignisreichen Woche konnten Hertha-Fans am Freitagabend einen sportlichen und emotionalen Höhepunkt erleben. Mit 3:1 setzte sich Hertha BSC gegen den Stadtrivalen 1. FC Union Berlin durch und holte sich so den Derbysieg. Vom Fahnenmeer über die „Aktion Herthakneipe“-Trikotaktion bis zum Erfolg im Olympiastadion: es war einfach eine sehr gelungene Woche für die Blau-Weißen! Trotzdem wollen wir die immer noch frische Derbysieg-Euphorie einen kurzen Moment lang runterdrehen, um uns wie gewohnt die Leistungen einzelner Herthaner etwas näher anzuschauen.

Peter Pekarik – zweiter Frühling als Torjäger

Den Anfang wollen wir mit dem Spieler machen, der unter Bruno Labbadia so etwas wie einen zweiten (dritten? vierten?) Frühling erlebt. 19 Pflichtspiele unter Bruno Labbadia: drei Treffer und zwei Torvorlagen. Nicht allzu lang ist es her, da galt Peter Pekarik noch mit 150 Bundesligaeinsätzen ohne Treffer als einer der torungefährlichsten Spieler der Bundesliga. Jetzt ist er so torgefährlich wie noch nie in seiner Karriere.

Noch beeindruckender ist allerdings die Tatsache, dass sich der 34-Jährige wider Erwarten bei Hertha gegen mehrere jüngeren Konkurrenten als rechter Verteidiger durchgesetzt hat. Im Derby zeigte sich der dienstälteste Herthaner (im Verein seit 2012) wieder in sehr guter Verfassung und machte ein sehr gutes Spiel. Knapp zwölf Kilometer lief er, ackerte unermüdlich auf seiner rechten Außenbahn und war dort sehr präsent. Obwohl Herthas Spiel insbesondere in Halbzeit eins eher linkslastig war, war er immer wieder zu sehen und hatte einige Aktionen nach vorne. Dazu kamen 94% seiner Pässe an.

Foto: IMAGO

Bereits in der zweiten Minute konnte Pekarik all seine Erfahrung und Ruhe zeigen, als er sekundenlang einen langen Ball von Union abschirmte und einen Abstoß für sein Team herausholte. Durch die taktische Aufstellung in der ersten Halbzeit schaltete er sich öfters in die Offensive mit ein, ohne seine defensiven Aufgaben zu vernachlässigen. In seinen Vorstößen wurde er dabei von Lucas Tousart abgesichert, der sich auf der rechten Seite fallen ließ. Doch die Taktik funktionierte gegen der gut organisierten und kompakten Abwehr der Unioner nicht wirklich. Kein Wunder also, dass Pekariks Treffer erst in der zweiten Halbzeit fiel, nachdem Bruno Labbadia sein Team zurück in ein 4-2-3-1 umgestellt hatte. Auch im bekannten System überzeugte der Slowake und ließ sich auch bei den wenigen Gegenangriffen der Unioner nicht überspielen. 

Pekarik weiß wohl am Besten im aktuellen Hertha-Kader, wie wichtig ein Derby für Fans und Umfeld ist. Er zeigte sich dabei stets auf der Höhe und macht es somit seiner Konkurrenz auf seiner Position nicht leicht. Für Hertha ist er momentan wichtiger denn je.

Mattéo Guendouzi – Like a Boss

In einer eher schwachen Partie, in der Hertha erneut große Schwierigkeiten hatte, Chancen zu kreieren, konnte Mattéo Guendouzi positiv herausstechen. Der Franzose zeigte sich von der ersten Minute an hochmotiviert und sehr präsent im Spielaufbau. Dass die linke Seite von Hertha in der ersten Halbzeit deutlich mehr bespielt wurde, als die rechte, lag auch an ihm. Links orientiert holte er sich viele Bälle aus der eigenen Hälfte und aus dem Mittelfeld. Er war immer anspielbar und deutlich bemüht, dem Spiel seinen Stempel aufzulegen, was sich auch am Laufwert zeigte (11,75 Kilometer).

Foto: IMAGO

Die bereits angesprochene Taktik von Hertha in Halbzeit eins sorgte dafür, dass sich Guendouzi oft bei Gegenangriffen von Union Berlin auf der linken Verteidigerposition wiederfand. So musste er beim 0:1 unglücklicherweise im Mittelpunkt stehen, als er nach einer Fehlerkette der Defensive Unions Stürmer Taiwo Awoniyi nicht mehr am Schuss hindern konnte. Das Offensivspiel der Blau-Weißen war trotz der Bemühungen von Arsenals Leihgabe so gut wie wirkungslos, da Union Berlin bestens auf Herthas Taktik eingestellt war.

Das änderte sich in der zweiten Halbzeit nach der taktischen Umstellung. In einer Doppelsechs bzw. Doppelacht übernahm Guendouzi den offensiven Part und überließ die Absicherung meistens Niklas Stark. Dadurch bekam er mehr Raum und zeigte immer mehr seine Qualität. Mit Javairo Dilrosun spielte er zum ersten Mal zusammen. Beide harmonierten zeitweise recht ordentlich, insbesondere in der letzten halben Stunde. Der „vorletzte“ Pass kam bei Herthas Angriffen dabei oft vom Franzosen: erst fand er Matheus Cunha beim 1:1, dann Dilrosun zum 3:1. Auch kurz vor Schluss bereitete er die Großchance des Niederländers vor.

Ab und an agierte der junge Franzose auch im Derby allerdings etwas übereifrig und hätte mit dem einen oder anderen misslungenen Risikopass auch einen gegnerischen Konter einleiten können. Es bleibt aber bei einer soliden Partie von Guendouzi, der sich langsam zum Leader im Mittelfeld entwickelt. Im Kopf bleibt auch sein Jubel vor der leeren Ostkurve, bei dem er mit imaginären Fans abklatschte und ihnen sein Trikot zuwarf. Hertha hat sich für diese Saison mit Guendouzi einen sehr guten Fußballer geholt, der darüber hinaus sofort verstanden hat, wie wichtig ein Derbysieg für Hertha-Fans und im Umfeld ist.

Javairo Dilrosun – eine überraschende Rückkehr

Seine Einwechslung kam etwas überraschend: in den letzten drei Bundesligapartien von Hertha BSC bekam Javairo Dilrosun nicht eine Minute Einsatzzeit. Schon nach 45 Minuten kam er jedoch im Derby rein, genauso wie Krzysztof Piatek. Die fehlende Spielpraxis war in den ersten 15 Minuten des Niederländers deutlich zu spüren: oftmals war er einen Schritt zu spät, traf mehrmals die falsche Entscheidung und war kaum im Spiel eingebunden. Von Minute zu Minute steigerte er sich jedoch und zeigte sich immer besser im Zusammenspiel mit Mattéo Guendouzi und Marvin Plattenhardt. Seine Einwechslung sollte darüber hinaus noch entscheidend werden: an beiden Treffern von Piatek war er unmittelbar beteiligt.

Foto: IMAGO

Dilrosun war bisher in dieser Saison so etwas wie ein Rätsel, doch im Derby konnte er insbesondere in den letzten 30 Minuten wieder zeigen, was ihn als Spieler ausmacht und wie wichtig er für Herthas Spiel werden kann. Trotz Überzahl hatten die Spieler der „alten Dame“ nämlich weiterhin Probleme, sich Großchancen zu erarbeiten, und die kompakte Defensive aus Köpenick zu knacken. Sollten sich diese Probleme auch in den nächsten Spielen zeigen, könnte ein fitter und formstarker Dilrosun eine echte Waffe sein.

Kristof Piatek – vom Problemspieler zum Derbyhelden

Last but not least wollen wir uns mit dem Spieler beschäftigen, der wohl für die größte positive Überraschung bei Hertha-Fans sorgte. Der Pole wurde seit Monaten in Medien und sozialen Netzwerken oftmals kritisiert. Trotz seiner eindeutigen Qualitäten wurden Zweifel groß, dass er nicht zum System von Bruno Labbadia passe. In der laufenden Saison konnte er leider auch nur wenig Argumente für sich sammeln, bekam zunächst wenig Einsätze und fand erst nach der Verletzung von Jhon Cordoba zurück in die Startelf. Es folgten zwei schwache Einsätze gegen Borussia Dortmund und Bayer Leverkusen und im Derby musste er zunächst auf der Bank Platz nehmen.

Foto: IMAGO

Doch um die Kritik, zumindest zeitweise, verstummen zu lassen, suchte sich der polnische Nationalspieler doch das richtige Spiel aus. Nach 45 Minuten wurde er eingewechselt, sein erster Schuss sorgte noch in der 69. Minute nicht gerade für Applaus. Doch dann war das Glück beim 2:1 auf seiner Seite, als sein Schuss unhaltbar für Luthe abgefälscht wurde. Beim 3:1 bewies „il pistolero“ seine wohl größte Qualität: sein absoluter Torriecher vor den Kasten. Auch seine gute Schusstechnik war im Derby gut zu erkennen und kurz vor Schluss hätte Piatek auch noch seinen Hattrick perfekt machen können, als er per Weitschuss den Unioner Keeper prüfte.  

Das Offensivspiel der „alten Dame“ war wie bereits angesprochen auch trotz der drei Treffer nicht gerade das gelbe vom Ei. Trotzdem konnte der Pole dabei zwei wichtige Tore im Derby erzielen, die so schnell nicht unter Hertha Fans vergessen werden: er ist schließlich der erste Doppeltorschütze dieser Konfrontation. Sicherlich räumt das nicht alle Zweifel aus dem Weg, es bleibt fraglich, ob sich Piatek langfristig in Labbadias Mannschaft etablieren kann.

Seine Werte sind jedenfalls alles andere als schlecht: in 1.415 Spielminuten für Hertha schoss er immerhin acht Tore und drei Torvorlagen. Sollte er auch in den nächsten Partien seine Tore schießen, wird es auch für die größten Zweifler schwer werden, den Wert des Spielers für Hertha BSC zu verkennen. Nach dem Spiel wurde Krzysztof Piatek noch gefragt, ob er nicht ein Wort auf Deutsch sagen wolle. Seine Antwort, breit grinsend, könnte der perfekte Abschlusssatz unserer Rubrik sein: „Alle zusammen, Hertha!“

Und dann war da noch:

Matheus Cunha: Dass es mit 21 Jahren völlig normal ist, Leistungsschwankungen zu erleben, ist klar. Auch Matheus Cunha ist davon nicht verschont. Im Heimspiel gegen Borussia Dortmund war es noch bester Herthaner auf dem Platz. Wie schon vergangene Woche in Leverkusen jedoch schaffte es der Brasilianer nicht wirklich, dem Spiel seinen Stempel aufzudrücken. Seine Einzelaktion zum 1:1, in der er sich sehenswert durchsetzte und per Weitschuss Union-Keeper Andreas Luthe zum Fehler zwang, war leider seine erste und letzte wirklich starke Aktion dieser Partie. Im nächsten Spiel, gegen Borussia Mönchengladbach, wird Hertha auf seinen besten Torschützen verzichten müssen. Der Brasilianer holte sich seine fünfte gelbe Karte und muss ein Spiel pausieren. Gut möglich, dass er nach dieser Zwangspause mit neuem Elan und Energie zurückkehrt, und wieder ein besseres Gesicht zeigt. Ein Matheus Cunha in Topform ist schließlich nicht zu ersetzen.

Jordan Torunarigha: Zurück von seiner längeren Verletzungs- und Coronabedingten Pause zeigte sich beim 23-Jährigen in der Anfangsphase noch die fehlende Spielpraxis. Etwas ungenau und überhastet agierte der Innenverteidiger, der außerdem beim 0:1 nicht besonders gut aussah. Allerdings wurde er im Verlauf des Spieles immer sicherer, eroberte seine gewohnte Stabilität zurück und profitierte auch von der Überzahl, die ihm etwas mehr Freiheiten nach vorne ermöglichte. Insgesamt eine gelungene Rückkehr für Torunarigha, der beste Chancen hat, seinen Stammplatz zurückzuerobern.

Niklas Stark: Der 25-jährige ist ebenfalls eine Erwähnung wert. Er schaltete sich nur selten im Offensivspiel mit ein und sah beim 0:1 ähnlich wie Torunarigha nicht gut aus. Doch auch er kämpfte sich in die Partie zurück und kam mit dem 4-2-3-1 System in der zweiten Halbzeit deutlich besser zurecht.

Podcast #121 Talk of the town

Podcast #121 Talk of the town

Derbysieger, Derbysieger! Hey! Hey! Wir reden über die letzte Woche Hertha BSC und den Sieg gegen Union Berlin.

Wir wünschen euch ganz viel Spaß mit der Folge und freuen uns über eure Kommentare.

Teilt den Podcast gerne mit euren Freunden, der Familie oder Bekannten. Wir freuen uns über alle Hörer*innen.

(Photo by Maja Hitij/Getty Images)

Vorschau: Hertha BSC – 1. FC Union Berlin: Ein Derby mit umgekehrten Vorzeichen

Vorschau: Hertha BSC – 1. FC Union Berlin: Ein Derby mit umgekehrten Vorzeichen

Die ersten Reizpunkte sind gesetzt: Nachdem Hertha in der Nacht von Montag auf Dienstag die halbe Stadt in ein blau-weißes Fahnenmeer verwandelt hat, ließen die üblichen Reaktionen in den sozialen Netzwerken nicht lange auf sich warten. Während sich die Anhänger der „Alten Dame“ freuten, dass Hertha nach so manchem Marketing-Fehltritt der letzten Jahre (Stichwort: “We try. We fail. We win“) den zuletzt positiv eingeschlagenen Weg fortsetzt und einen echten Coup landet, waren Union-Fans zu großen Teilen weniger angetan. Aber da die Aktion sicherlich nicht in der Absicht entstand, Unionerinnen und Unioner zu begeistern und Hertha-Fans mutmaßlich genauso verstimmt reagiert hätten, wenn ihre Stadt plötzlich voll rot-weißer Fahnen übersät gewesen wäre, sollte man das Ganze nicht zu hoch hängen. Ein nettes Vorgeplänkel vor dem anstehenden Spiel am Freitag: Nicht mehr und nicht weniger.

Immerhin eines scheint die Aktion aber auf beiden Seiten bewirkt zu haben. Trotz der wideren Umstände ist so etwas wie Derbystimmung aufgekommen. Und wenn es in diesen nervenzehrenden Zeiten eines gebrauchen kann, dann sind es (positive) Emotionen. Es ist also angerichtet für die siebte (Pflichtspiel)-Auflage des Berlin-Duells.

Um einen detaillierten Einblick in die sportliche Situation bei den Köpenickern zu bekommen, haben wir mit Sebastian Fiebrig, unter anderem bekannt vom Textilvergehen, gesprochen und ihn gefragt, wie der momentane Aufschwung der Unioner zu erklären ist.

Mit 13 Toren war Sebastian Andersson in der Vorsaison die Lebensversicherung von Union. (Photo by Boris Streubel/Bongarts/Getty Images)

Das verflixte zweite Jahr

Platz 6 in der Tabelle, 16 Punkte und mit 21 erzielten Treffern die zweitbeste Offensive der Liga. Wer diese Zahlen vor der Saison gehört hätte, hätte vermutlich zuallerletzt darauf getippt, dass sie Union Berlin zuzuordnen sind. Immerhin ist hier von einer Mannschaft die Rede, die selbst im Jahr des Aufstiegs nicht gerade durch außergewöhnliche Schlagkraft vor dem Tor auffiel. 54 Treffer genügten letzten Endes, um den Gang in die am Ende erfolgreiche Relegation anzutreten. Zur Einordnung: Mitaufsteiger Paderborn und Köln erzielten im selben Zeitraum 76 respektive 84 Tore. So verwunderte es dann auch nicht, dass Union als krasser Außenseiter, dem nahezu ganz Fußballdeutschland den direkten Wiederabstieg prognostizierte, sein Heil in der Premierensaison im Oberhaus eher in der Defensive suchte und mit 41 geschossenen Toren nur die beiden Absteiger sowie Schalke 04 noch harmloser waren.

Dass Union mit der defensiven Spielweise trotzdem beachtliche 41 Punkte einheimste und damit souverän die Klasse hielt, war vor allem einem Mann zu verdanken: Sebastian Andersson zeichnete für 12 Tore der zurückliegenden Spielzeit hauptverantwortlich. Ganze sieben davon erzielte der Schwede per Kopf. Gerade diese Eigenschaft war es, die Trainer Urs Fischer zu nutzen wusste.  So lautete das Erfolgsrezept in der Regel: Langer Ball auf Andersson, der macht den Ball fest und im Idealfall resultiert aus dem dadurch entstehenden Angriff eine Ecke. Denn die Standards waren für die Köpenicker in dieser Phase überlebenswichtig. Ganze 44 Prozent der Tore kamen nach ruhenden Bällen zustande. Abnehmer der Flanken von zumeist Christopher Trimmel war – wie könnte es anders sein – Sebastian Andersson.

So stand vor der Saison also vor allem die Frage im Raum, ob Union wieder auf die altbewährte Formel setzen oder etwas Neues probieren würde. Immerhin ist nicht umsonst oft die Rede davon, dass das zweite Jahr in der ersten Liga das schwierigste ist, da sich die anderen Teams auf die Spielweise des Neulings einstellen konnten. Union Berlin hat diese Frage für sich sehr schnell und sehr eindeutig beantwortet. So ist von der oftmals abwartenden Spielweise und dem Hoffen auf Standardsituationen nicht mehr allzu viel übrig.

Aus der Not eine Tugend machen

Max Kruse hat das Spiel von Union auf ein neues Level gehoben. (Photo by Maja Hitij/Getty Images)

Dass Union vom Ansatz aus der Vorsaison abgewichen ist und nun auch vermehrt das Spiel mit dem Ball forciert, hängt zu großen Teilen auch mit der Transferphase zusammen. Zum einen hat der angesprochene Sebastian Andersson den Verein kurz vor Ende der Transferphase verlassen. Zum anderen ist da plötzlich ein gewisser Spieler im Kader, der (und diese Einschätzung wird zerfressen von blankem Neid abgegeben) eigentlich viel zu gut ist, um an der Alten Försterei zu spielen. Die Rede ist natürlich von Max Kruse. Ein Spieler, der aufgrund seiner Spielweise und auch seines Glamours so überhaupt nicht zu Union zu passen schien und der nun nach wenigen Wochen schon den Eindruck vermittelt, als wäre er nie woanders gewesen.

Viele waren gespannt, wie Max Kruse dieses – mit Verlaub – eher destruktiv angelegte Spiel beeinflussen würde. Die Antwort ist: Er hat es um beinahe 180 Grad gedreht. Wobei diese Einschätzung laut Sebastian zu kurz greift: „Den Plan mit dem Ball hatte der Trainer bereits in der vergangenen Saison. Aber die Mannschaft konnte das da nicht so gut umsetzen. Dieses Jahr gibt es Spieler, die in der Spitze das Niveau des gesamten Teams noch einmal gehoben haben. Dazu gehört natürlich Max Kruse in der aktuellen Form. Aber es gibt schon auch andere Spieler wie Knoche, die nicht unwichtig für den Aufbau sind und der regelmäßig die meisten Ballkontakte bei Union hat. Fischer ist ja nicht der dröge Defensivtrainer, als der er gerne mal hingestellt wird, sondern es zeichnet ihn aus, dass er sehr pragmatisch genau den Fußball spielen lässt, zu dem die Mannschaft imstande ist. Es dürfte ihm auch helfen, dass die Mannschaft offensichtlich beim Spiel Dingen begegnet, auf die sie vom Trainerteam vorbereitet wurde.“

So scheint es, als hätte Oliver Ruhnert, Geschäftsführer Sport bei den „Eisernen“, im Sommer, auch fernab der Verpflichtung von Kruse, einen klaren Plan verfolgt, um der Mannschaft in Zusammenarbeit mit Urs Fischer mehr spielerische Elemente zu verleihen. So sagt Sebastian weiter: „Es war ja nicht nur Max Kruse. Auch Robin Knoche wurde verpflichtet. Oder Loris Karius, der noch gar kein Spiel für Union gemacht hat. Nicht zu vergessen solche Verpflichtungen wie Joel Pohjanpalo, Taiwo Awoniyi und Keita Endo. Von letzterem werden wir sicher noch viel hören, wenn er endlich verletzungsfrei bleibt.“

Unions Härtetest beginnt jetzt

(Photo by ANNEGRET HILSE/POOL/AFP via Getty Images)

Zur ganzen Wahrheit des so erfolgreichen Saisonstarts gehört aber auch, dass es die DFL für den Auftakt sehr gut mit Union gemeint hat. Mit Borussia Mönchengladbach hatten die Köpenicker bislang erst ein Topteam auf dem Spielplan. Borussia Dortmund, Leipzig, der FC Bayern, Bayer Leverkusen … all diese Mannschaften folgen erst noch. Dementsprechend ordnet auch Sebastian die Situation ein:  „So ein bisschen ist der Spielplan ja immer Fluch oder Segen. Es war schon vor Saison klar, dass Union von Anfang an wird punkten müssen, weil hinten eher die dicken Brocken warten.“

Dass Union den Zwang, am Anfang punkten zu müssen, aber derart ernst nimmt, war nicht zu erwarten: „Wenn ich mir all das vor Augen halte, muss ich mich eher kneifen. Auch, dass ich in der Tabelle nicht unten schaue, wie viel Abstand Union zu den Abstiegsplätzen hat. Die Integrationskraft der Mannschaft ist vielleicht wirklich das Bewundernswerte und auch die Art und Weise, wie das Trainerteam um Urs Fischer diesen Umbruch moderiert hat. Der Tabellenplatz wird sich bestimmt etwas nach unten entwickeln bis zur Winterpause. Aber die Punkte kann niemand nehmen. Und das gibt Sicherheit.“ Diese Sicherheit ist essenziell. denn trotz des aktuellen Höhenflugs stimmt Sebastian der Maßgabe Urs Fischers zu, dass der Klassenerhalt über allem steht: „Wahrscheinlich steht irgendwo in der Kabine wieder die Zahl 40. Und ich vermute, dass ihr Anblick absolut erdet. Union wird sich jeden Punkt weiter hart erkämpfen müssen.“

Hertha vor dem Derby in ungewohnter Rolle

Während der Umbruch im Kader bei Union also besser kaum laufen könnte, sind bei Hertha nach wie vor einige Bewegungsschmerzen spürbar, auch wenn der Trend mit Ausnahme der Klatsche gegen den BVB zuletzt nach oben zeigte. Beim Blick auf die Tabelle ist es nun erstmals der Fall, dass die Rolle des Favoriten vor einem Derby nicht eindeutig bei Hertha liegt, Trotzdem darf für die “Alte Dame”, gerade aufgrund der tabellarischen Situation, nur ein Dreier zählen. Der Verein hat mit der eingangs erwähnten Fahnenaktion den richtigen Tenor gesetzt, nun sind die Spieler gefragt. Ein zweites Fiasko wie im Hinspiel der Vorsaison, als nur ein Team verstanden hat, worum es in einem Derby geht, darf es unter keinen Umständen geben. In diesem Sinne sollte eher das Rückspiel als Orientierungsmaßstab genommen werden.

[Titelbild: Stuart Franklin/Getty Images]