Hertha und Union – Eine Rivalität wie eine Tasse schwarzer Kaffee

Hertha und Union – Eine Rivalität wie eine Tasse schwarzer Kaffee

Das inzwischen vierte Berliner Erstligaderby verspricht wieder eine heiße Partie zu werden. Die beteiligten Mannschaften werden gerne als totale Gegensätze dargestellt. Dieser Text klärt die Frage, ob Union auch ohne Hertha funktioniert, welchen Herausforderungen sich die Köpenicker in der Zukunft gegenüber sehen und was die beiden Klubs beim gemeinsamen Kaffee-Date bestellen.

Union definiert sich darüber, was man nicht ist

Bestellt man in einer Berliner Kneipe ein „Herrengedeck“, kann es mitunter vorkommen, dass man nicht Bier und Schnaps, sondern Bier und Sekt gereicht bekommt. Die Logik dahinter: Bier für den Mann und der Sekt für seine weibliche Begleitung.

Bestellt man stattdessen ein Berliner Fußballderby, dann bekommt man im Grunde das Gleiche, inklusive der antiquierten Geschlechterrollen. Dennoch sind die Rollen beim kommenden Derby klar zugewiesen. Auf der einen Seite die bodenständigen Köpenicker, stellvertretenden für den authentischen Arbeiter, mit dem man gerne mal ein Bier trinken gehen und sich über die Gesamtsituation auskotzen würde. Ihm gegenüber die mondäne „Alte Dame“, die beherzt das Geld ihres reichen Gönners ausgibt und nach dem dritten Glas Sekt ein bisschen zu laut und zu prahlerisch von ihren Bekanntschaften erzählt.

Foto: IMAGO

Beide Vereine, ihre Fans und die Medien haben jeweils mehr oder weniger zu diesem Bild beigetragen, es kultiviert oder auch versucht zu übermalen. Die Koketterie mit dieser augenscheinlichen Gegensatz ist nicht zu übersehen und auch wenn Union sich betont desinteressiert gibt, hat das Ganze dann doch eher den Anschein, als würde man versuchen sich weniger darüber zu definieren, was man ist, sondern, was man nicht ist, nämlich nicht Hertha.

Hertha und Union: Was wollen die Klubs?

Während Union allerdings noch vollends im modernen Event-Fußball, mitsamt seiner Dynamik, ankommen muss, steckt Hertha, siehe Windhorst, schon längst drin. Das bedeutet aber auch, dass Union sich einer wichtigen Frage stellen muss: Wen wollen sie eigentlich als Fans haben? Hertha hat diese Frage schon längst für sich beantwortet. Der Anspruch ist hier ganz Berlin mitzunehmen, also sowohl den ehrlichen Malocher aus Reinickendorf als auch die neureichen Yuppies aus Charlottenburg. Das der Verein hier manchmal übers Ziel hinaus schießt und die Zusammensetzung seiner Fanbasis anders bewertet, als sie eigentlich ist, steht dem Ursprungsgedanken nicht im Weg: Hertha will DER Berliner Klub sein.

Unions Lokalpatriotismus richtet sich zunächst erstmal auf den eigenen Bezirk, im nächsten Schritt auf den Ost-Teil der Stadt. Das ist marketingtechnisch sehr charmant, blendet die Realität aber gewieft aus. Union ist natürlich nicht mehr nur der Köpenicker Club, sondern genauso ein Unternehmen, wie Hertha und als eben dieses daran interessiert gut zu wirtschaften und auch mehr als die 280.000 Einwohner:innen von Treptow-Köpenick anzusprechen.

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Während Union hier zurecht stolz auf das das Engagement der Fans in puncto Stadion und „Bluten für Union“ verweisen kann, stehen bei Hertha der Streit mit dem Senat über ein neues Stadion, ein Millionen-Investment und zweifelhafter sportlicher Erfolg zu buche. Der einzige Lichtblick scheint das außerordentliche Engagement von Herthas-Fanszene zu sein. Das wird von denen, die die Unterschiede zwischen den Clubs herauszustellen suchen, oft gerne bewusst vergessen. Dreht man die Uhr noch weiter zurück, erzählt Union gerne die Geschichte des Anti-Stasi-Clubs, während Hertha sich in den 70ern tief im Bundesliga-Skandal verwickelt sah.

Der Arbeiter als Marketingobjekt

Es sieht also nicht gut aus für die alte Dame. Die Öffentlichkeit hat sich festgelegt: Union steht für das, was Fußball einst war und Hertha für das, was er nie werden sollte. Doch so einfach ist es nicht. Denn es ist eben dieses „Anders-Sein“, was Union die Fans einbringt, die mit dem ursprünglichen Gedanken wenig bis nichts zu tun haben. Was wir in Köpenick beobachten dürfen, ist ein gewisser positiver Klassismus-Sport-Tourismus. „Komm wir gehen mal zu Union, da sind Wurst und Bier noch zu bezahlen und von den Tribünen wird auch mal ein „Scheiße“ gerufen“. Versteht mich nicht falsch, ich zitiere hier nicht den langjährigen Unioner, sondern diejenigen, die jetzt, nachdem Union es in die erste Liga geschafft hat, ihre plötzliche Liebe zum Fußball entdecken. Das spiegelt sich auch in den Mitgliederzahlen wider. Hatte Union 2006, noch in der Oberliga spielend, 4200 Mitglieder, sind es 2021 und viele wichtige sportliche Erfolge später, knapp 38.000. Man könnte hier den Begriff „Erfolgsfans“ einwerfen und sich an den Reaktionen erfreuen, doch zurück zur Sachlichkeit.

Das Problem ist, dass der Fußball schon längst ein Lifestyle-Produkt geworden ist. Sicherlich gibt es Überbleibsel, die von seinen proletarischen Wurzeln zeugen, aber sowohl Boxing Day als auch „Werkself“ sind heute eigentlich nur noch Marketingfloskeln geworden. Mit diesem Umstand muss sich auch Union auseinandersetzen. Sollen sie ihre Kultigkeit und Authentizität weiter betonen und damit Gefahr laufen, die Menschen anzuziehen, die sich am Arbeitertum zu ergötzen suchen, bevor sie in ihre Eigentumswohnung in Prenzlauer Berg zurückkehren oder sollen sie heimlich still und leise den Mahlsteinen der Kommerzialisierung hingeben?

Foto: imago/Matthias Koch

Natürlich muss sich auch Hertha mit diesem Konflikt befassen, dadurch, dass ihre Fan-Strategie jedoch bewusst nicht klientelpolitisch aufgeladen wird, haben sie es zumindest ein wenig einfacher. Hertha und Union ist die spannendste Berliner Sport-Rivalität, die es momentan zu erleben gibt. Natürlich gibt es Animositäten zwischen dem BFC und Union, sportlich ist die Bundesliga jedoch nun mal am interessantesten. Union scheint sich hier als „Anti-Hertha“ durchaus zu gefallen. Konkurrenz belebt eben das Geschäft. Doch das funktioniert eben nur solange es Hertha in dieser Form gibt.

Sich gegen Hertha zu stellen, klappt nur, solange Hertha eben auch einen kritikwürdigen Kurs fährt. Windhorst macht es hier jeder Fußballromantiker:in allerdings auch sehr einfach. Die Kritik hier nimmt manchmal auch zynische Züge an, wie wenn, das schon erwähnte, soziale Engagement der Hertha-Fans als Marketingaktion verkannt wird. Was bleibt, ist allerdings, dass die eigene Position umso stärker wird, desto stärker der Kontrast zwischen den beiden Vereinen wahrgenommen wird.

Kaffee und Fußball

Teil des Pakets „Union“ ist eben nicht nur, das was Union ist, sondern auch das, was es eben nicht ist und das was es nicht ist, wird hier stark in den Fokus gerückt. Um solche Beziehungen der Negation zu verdeutlichen greift der slowenische Philosoph Slavoj Žižek gerne auf einen Witz aus dem Film „Ninotschka“ vom großen Berliner Ernst Lubitsch zurück : „Ein Mann bestellt in einem Restaurant einen Kaffee ohne Sahne. Der Kellner kommt nach fünf Minuten zurück und sagt: „Tut mir leid, mein Herr, aber wir haben keine Sahne mehr, kann es auch ohne Milch sein?“ Obwohl das faktische Ergebnis in beiden Fällen das Gleiche ist, spielt das, was im Kaffee nicht drin ist eine ontologische Rolle. In anderen Worten: In beiden Fällen bekommt man einen Berliner Fußball Klub (schwarzer Kaffee), doch einmal ist dieser bewusst nicht Hertha (ohne Milch) und im anderen Fall nicht Union (ohne Sahne). Beides kann seinen Status jedoch nur behaupten, solange es eine Alternative gibt. 

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Vor diesem Hintergrund schickt sich vielleicht eine andere Anekdote an. Tommi Schmitt, seines Zeichens, Gladbach-Fan, Co-Host von „Gemischtes Hack“ und Union-Sympathisant: „Union ist ein schöner bunter Fleck in dieser Liga. [..] Eigentlich genau das, was Hertha immer sein wollte.“ Er erzählte jüngst in einer Folge „Gemischtes Hack“, wie er versuchte in einem hippen Berlin-Mitte Café einen Kaffee mit Milch zu bekommen. Der klischeehaft stark tätowierte, Man Bun tragende Barista verwehrte ihm diesen Wunsch jedoch unter dem Verweis auf das Konzept des Cafés. Man schenke einfach keinen Kaffee mit Milch aus, das würde die Aromen kaputt machen.

Was das im Bezug auf das Derby und den vermeintlichen Clash zwischen „echt“ und „fake“ heißt, kann sich jeder selbst zusammenreimen.

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1. FC Union Berlin – Hertha BSC: Das Derby zum richtigen Zeitpunkt?

1. FC Union Berlin – Hertha BSC: Das Derby zum richtigen Zeitpunkt?

Zurück zum Wesentlichen: Nachdem auch mehr als ein Jahr nach Beginn der Pandemie der Fußball seine Sonderstellung immer weiter ausreizt und heiter seine Akteure rund um den Erdball schickt, sind nun alle wieder zurück bei ihren Vereinen. Aus rein nüchterner, sportlicher Sicht kam die Auszeit für Hertha jedoch tatsächlich gelegen. Sami Khedira konnte das Training wieder aufnehmen und wird am Sonntag, ebenso wie Kapitän Dedryck Boyata, im Kader stehen. Dass seine Antreiberqualitäten vonnöten sein werden, steht wohl außer Frage. Denn zum Abschluss des 27. Spieltags ist es zum nunmehr vierten Mal in der ersten Liga so weit: Das Derby steht auf dem Programm!

Im Vorfeld des Spiels gegen Union Berlin haben wir mit Hans-Martin, bekannt durch den Blog und Podcast textilvergehen, gesprochen und von ihm Einblicke in das Unioner Seelenleben während dieser so verrückten Saison bekommen.

Verkehrte Welt in Berlin

(Imago Images via Getty Images)

Dass Hertha und Union vor einem Aufeinandertreffen am 27. Spieltag 14 Punkte trennen, ist auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches. In der Saison 2010/2011, als sich die beiden Rivalen am 21. Spieltag in der zweiten Liga gegenüberstanden, waren es gar 20 Punkte. Allerdings waren es zu diesem Zeitpunkt erwartungsgemäß die Blau-Weißen, die von der Tabellenspitze grüßten, während Union sich im Abstiegskampf befand.

Heute haben sich die Vorzeichen gedreht. Nicht nur die Ligazugehörigkeit beider Teams hat sich geändert, sondern – zumindest, was die aktuelle Spielzeit betrifft – auch die Rangordnung. Hertha bangt dieser Tage um den Verbleib im Oberhaus. Parallel dazu hat Union das Saisonziel des Klassenerhalts faktisch schon erreicht und kann die verbleibenden acht Partien quasi als Bonus angehen.

Ein Satz, den im Vorfeld der Saison so wohl niemand erwartet hätte, wie auch Hans-Martin sagt: „Die Saison übertrifft wirklich alles, was ich zu hoffen gewagt hätte. Gerade nach dem Verlust von Sebastian Andersson hatte ich einen deutlich schwierigeren Verlauf erwartet. Aber Urs Fischer ist es einerseits gelungen, erneut viele neue Spieler einzubinden, und andererseits sozusagen unter Volllast die Spielweise der Mannschaft umzustellen und deutlich weiterzuentwickeln.“

Schwächephase vor dem Derby?

Unions Offensive zeigte sich zuletzt nicht mehr so treffsicher wie in der Hinrunde (Imago Images via Getty Images)

Die „umgestellte Spielweise“ ist dabei sogar fast noch beeindruckender als Unions Tabellenplatz. Während das Mittel der Wahl im letzten Jahr noch in Standards oder langen Bällen auf Andersson bestand, weiß Union nun auch aus dem Spiel heraus Chancen zu kreieren und hat sich in der Hinrunde hinter dem FC Bayern und Borussia Dortmund zum torgefährlichsten Team der Liga gemausert. Zur ganzen Wahrheit zählt aber auch, dass der Höhenflug in den zurückliegenden Spielen nicht mehr fortgesetzt werden konnte. Zu den beachtlichen 28 Zählern aus der ersten Saisonhälfte kamen bis heute nur noch zehn hinzu (zum Vergleich: Hertha holte im selben Zeitraum sieben Punkte). Auch die Torausbeute ist bei weitem nicht mehr so furchteinflößend wie noch in der Hinrunde. Acht Treffer erzielten die Eisernen seit dem 18. Spieltag und damit genauso viele wie Hertha.
Defensiv steht Union derweil weiterhin stabil, hat mit 32 kassierten Toren eine der sichersten Abwehrreihen der Liga. Der Schuh drückt aktuell also vor des Gegners Gehäuse.

Angesprochen darauf sagt Hans-Martin: „Zum einen spielt sicher die Verletzung von Max Kruse eine gewichtige Rolle. Auch wenn ich finde, dass die Mannschaft das insgesamt erstaunlich gut abgefangen hat, so ist er doch in seiner individuellen Klasse und sehr speziellen Spielweise nicht vollständig zu ersetzen. Hinzu kam eine deutlich geringere Effizienz. In der Hinrunde wurden aus 23 xG (expected goals, Anm. d. Red.) noch 32 Tore erzielt, in der bisherigen Rückrunde 8 aus 14. Kruses Fehlen ist da sicher ein Faktor, aber auch individuelle Schwankungen.“

Tatsächlich mangelt es Union neben Max Kruse an einem weiteren Akteur, der als Abschlussspieler fungieren kann. Nach der Verletzung von Awoniyi, mit fünf Treffern immerhin der zweiterfolgreichste Spieler bei den Köpenickern, versuchte es Urs Fischer zuletzt meist mit Joel Pohjanpalo als zweitem Angreifer. Getroffen hat der Finne in dieser Zeit kein einziges Mal. Dabei waren die Chancen, insbesondere am zurückliegenden Spieltag gegen Frankfurt, als man bei der 2:5-Niederlage satte 25 Torschüsse zustande brachte, zuhauf da. Doch auch hier war es wieder Max Kruse, der für die einzigen beiden Treffer sorgte. Dass es Union aber nicht gerecht würde, allein Kruse für die starke Saison verantwortlich zu machen, zeigte sich nach dessen Verletzung beim letzten Derby, in deren Folge er mehrere Wochen ausfiel und Union auch ohne sein Zutun unter anderem den BVB und Leverkusen schlug sowie Bayern und Wolfsburg einen Punkt abluchste. Dass Unions fußballerische Weiterentwicklung auch ohne den ehemaligen Nationalspieler Bestand hat, konnte man während dieser Phase sehen. Dennoch bleibt festzuhalten, dass es aktuell an einigen Stellen hakt, während der Trend bei Hertha (endlich) wieder in die andere Richtung zu zeigen scheint.

Mehr als ein kurzes Luftholen im Abstiegskampf?

Der Sieg gegen Leverkusen, noch dazu in dieser nicht für möglich gehaltenen Art und Weise, hat im blau-weißen Teil der Hauptstadt für ganz tiefes Durchatmen gesorgt. Damit hat Hertha nun aus den vergangenen drei Partien sechs Punkte geholt und mit dem Dreier gegen die Werkself auch endlich mal ein Spiel gegen ein Top-Team gewonnen. Dass es in der Mannschaft zu stimmen scheint, konnte auch schon in den Spielen davor konstatiert werden. Allein helfen in dieser so schwierigen Phase nun mal nur Punkte. Während Union also weitestgehend befreit in die Partie gehen kann, liegt der Druck ganz klar aufseiten von Hertha. Für gewöhnlich ist das nicht gerade die Stärke der Alten Dame.

Doch gegen Augsburg und Leverkusen hat das Team gezeigt, dass man ihm mit dieser Einschätzung vielleicht unrecht tut. Mit der Rückkehr von Sami Khedira und Dedryck Boyata sind in jedem Fall zwei enorm wichtige Spieler, nicht nur für den Platz, sondern auch für die Kabine, wieder fit. Gleichwohl es insbesondere bei Kapitän Boyata am Sonntag noch nicht für die Startelf reichen dürfte, sind das allemal gute Nachrichten, die Hertha im Abstiegskampf dringend gebrauchen kann.

Quelle Titelbild: Imago Images via Getty Images

Herthaner im Fokus: Hertha BSC – 1. FC Union Berlin

Herthaner im Fokus: Hertha BSC – 1. FC Union Berlin

Nach einer ereignisreichen Woche konnten Hertha-Fans am Freitagabend einen sportlichen und emotionalen Höhepunkt erleben. Mit 3:1 setzte sich Hertha BSC gegen den Stadtrivalen 1. FC Union Berlin durch und holte sich so den Derbysieg. Vom Fahnenmeer über die „Aktion Herthakneipe“-Trikotaktion bis zum Erfolg im Olympiastadion: es war einfach eine sehr gelungene Woche für die Blau-Weißen! Trotzdem wollen wir die immer noch frische Derbysieg-Euphorie einen kurzen Moment lang runterdrehen, um uns wie gewohnt die Leistungen einzelner Herthaner etwas näher anzuschauen.

Peter Pekarik – zweiter Frühling als Torjäger

Den Anfang wollen wir mit dem Spieler machen, der unter Bruno Labbadia so etwas wie einen zweiten (dritten? vierten?) Frühling erlebt. 19 Pflichtspiele unter Bruno Labbadia: drei Treffer und zwei Torvorlagen. Nicht allzu lang ist es her, da galt Peter Pekarik noch mit 150 Bundesligaeinsätzen ohne Treffer als einer der torungefährlichsten Spieler der Bundesliga. Jetzt ist er so torgefährlich wie noch nie in seiner Karriere.

Noch beeindruckender ist allerdings die Tatsache, dass sich der 34-Jährige wider Erwarten bei Hertha gegen mehrere jüngeren Konkurrenten als rechter Verteidiger durchgesetzt hat. Im Derby zeigte sich der dienstälteste Herthaner (im Verein seit 2012) wieder in sehr guter Verfassung und machte ein sehr gutes Spiel. Knapp zwölf Kilometer lief er, ackerte unermüdlich auf seiner rechten Außenbahn und war dort sehr präsent. Obwohl Herthas Spiel insbesondere in Halbzeit eins eher linkslastig war, war er immer wieder zu sehen und hatte einige Aktionen nach vorne. Dazu kamen 94% seiner Pässe an.

Foto: IMAGO

Bereits in der zweiten Minute konnte Pekarik all seine Erfahrung und Ruhe zeigen, als er sekundenlang einen langen Ball von Union abschirmte und einen Abstoß für sein Team herausholte. Durch die taktische Aufstellung in der ersten Halbzeit schaltete er sich öfters in die Offensive mit ein, ohne seine defensiven Aufgaben zu vernachlässigen. In seinen Vorstößen wurde er dabei von Lucas Tousart abgesichert, der sich auf der rechten Seite fallen ließ. Doch die Taktik funktionierte gegen der gut organisierten und kompakten Abwehr der Unioner nicht wirklich. Kein Wunder also, dass Pekariks Treffer erst in der zweiten Halbzeit fiel, nachdem Bruno Labbadia sein Team zurück in ein 4-2-3-1 umgestellt hatte. Auch im bekannten System überzeugte der Slowake und ließ sich auch bei den wenigen Gegenangriffen der Unioner nicht überspielen. 

Pekarik weiß wohl am Besten im aktuellen Hertha-Kader, wie wichtig ein Derby für Fans und Umfeld ist. Er zeigte sich dabei stets auf der Höhe und macht es somit seiner Konkurrenz auf seiner Position nicht leicht. Für Hertha ist er momentan wichtiger denn je.

Mattéo Guendouzi – Like a Boss

In einer eher schwachen Partie, in der Hertha erneut große Schwierigkeiten hatte, Chancen zu kreieren, konnte Mattéo Guendouzi positiv herausstechen. Der Franzose zeigte sich von der ersten Minute an hochmotiviert und sehr präsent im Spielaufbau. Dass die linke Seite von Hertha in der ersten Halbzeit deutlich mehr bespielt wurde, als die rechte, lag auch an ihm. Links orientiert holte er sich viele Bälle aus der eigenen Hälfte und aus dem Mittelfeld. Er war immer anspielbar und deutlich bemüht, dem Spiel seinen Stempel aufzulegen, was sich auch am Laufwert zeigte (11,75 Kilometer).

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Die bereits angesprochene Taktik von Hertha in Halbzeit eins sorgte dafür, dass sich Guendouzi oft bei Gegenangriffen von Union Berlin auf der linken Verteidigerposition wiederfand. So musste er beim 0:1 unglücklicherweise im Mittelpunkt stehen, als er nach einer Fehlerkette der Defensive Unions Stürmer Taiwo Awoniyi nicht mehr am Schuss hindern konnte. Das Offensivspiel der Blau-Weißen war trotz der Bemühungen von Arsenals Leihgabe so gut wie wirkungslos, da Union Berlin bestens auf Herthas Taktik eingestellt war.

Das änderte sich in der zweiten Halbzeit nach der taktischen Umstellung. In einer Doppelsechs bzw. Doppelacht übernahm Guendouzi den offensiven Part und überließ die Absicherung meistens Niklas Stark. Dadurch bekam er mehr Raum und zeigte immer mehr seine Qualität. Mit Javairo Dilrosun spielte er zum ersten Mal zusammen. Beide harmonierten zeitweise recht ordentlich, insbesondere in der letzten halben Stunde. Der „vorletzte“ Pass kam bei Herthas Angriffen dabei oft vom Franzosen: erst fand er Matheus Cunha beim 1:1, dann Dilrosun zum 3:1. Auch kurz vor Schluss bereitete er die Großchance des Niederländers vor.

Ab und an agierte der junge Franzose auch im Derby allerdings etwas übereifrig und hätte mit dem einen oder anderen misslungenen Risikopass auch einen gegnerischen Konter einleiten können. Es bleibt aber bei einer soliden Partie von Guendouzi, der sich langsam zum Leader im Mittelfeld entwickelt. Im Kopf bleibt auch sein Jubel vor der leeren Ostkurve, bei dem er mit imaginären Fans abklatschte und ihnen sein Trikot zuwarf. Hertha hat sich für diese Saison mit Guendouzi einen sehr guten Fußballer geholt, der darüber hinaus sofort verstanden hat, wie wichtig ein Derbysieg für Hertha-Fans und im Umfeld ist.

Javairo Dilrosun – eine überraschende Rückkehr

Seine Einwechslung kam etwas überraschend: in den letzten drei Bundesligapartien von Hertha BSC bekam Javairo Dilrosun nicht eine Minute Einsatzzeit. Schon nach 45 Minuten kam er jedoch im Derby rein, genauso wie Krzysztof Piatek. Die fehlende Spielpraxis war in den ersten 15 Minuten des Niederländers deutlich zu spüren: oftmals war er einen Schritt zu spät, traf mehrmals die falsche Entscheidung und war kaum im Spiel eingebunden. Von Minute zu Minute steigerte er sich jedoch und zeigte sich immer besser im Zusammenspiel mit Mattéo Guendouzi und Marvin Plattenhardt. Seine Einwechslung sollte darüber hinaus noch entscheidend werden: an beiden Treffern von Piatek war er unmittelbar beteiligt.

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Dilrosun war bisher in dieser Saison so etwas wie ein Rätsel, doch im Derby konnte er insbesondere in den letzten 30 Minuten wieder zeigen, was ihn als Spieler ausmacht und wie wichtig er für Herthas Spiel werden kann. Trotz Überzahl hatten die Spieler der „alten Dame“ nämlich weiterhin Probleme, sich Großchancen zu erarbeiten, und die kompakte Defensive aus Köpenick zu knacken. Sollten sich diese Probleme auch in den nächsten Spielen zeigen, könnte ein fitter und formstarker Dilrosun eine echte Waffe sein.

Kristof Piatek – vom Problemspieler zum Derbyhelden

Last but not least wollen wir uns mit dem Spieler beschäftigen, der wohl für die größte positive Überraschung bei Hertha-Fans sorgte. Der Pole wurde seit Monaten in Medien und sozialen Netzwerken oftmals kritisiert. Trotz seiner eindeutigen Qualitäten wurden Zweifel groß, dass er nicht zum System von Bruno Labbadia passe. In der laufenden Saison konnte er leider auch nur wenig Argumente für sich sammeln, bekam zunächst wenig Einsätze und fand erst nach der Verletzung von Jhon Cordoba zurück in die Startelf. Es folgten zwei schwache Einsätze gegen Borussia Dortmund und Bayer Leverkusen und im Derby musste er zunächst auf der Bank Platz nehmen.

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Doch um die Kritik, zumindest zeitweise, verstummen zu lassen, suchte sich der polnische Nationalspieler doch das richtige Spiel aus. Nach 45 Minuten wurde er eingewechselt, sein erster Schuss sorgte noch in der 69. Minute nicht gerade für Applaus. Doch dann war das Glück beim 2:1 auf seiner Seite, als sein Schuss unhaltbar für Luthe abgefälscht wurde. Beim 3:1 bewies „il pistolero“ seine wohl größte Qualität: sein absoluter Torriecher vor den Kasten. Auch seine gute Schusstechnik war im Derby gut zu erkennen und kurz vor Schluss hätte Piatek auch noch seinen Hattrick perfekt machen können, als er per Weitschuss den Unioner Keeper prüfte.  

Das Offensivspiel der „alten Dame“ war wie bereits angesprochen auch trotz der drei Treffer nicht gerade das gelbe vom Ei. Trotzdem konnte der Pole dabei zwei wichtige Tore im Derby erzielen, die so schnell nicht unter Hertha Fans vergessen werden: er ist schließlich der erste Doppeltorschütze dieser Konfrontation. Sicherlich räumt das nicht alle Zweifel aus dem Weg, es bleibt fraglich, ob sich Piatek langfristig in Labbadias Mannschaft etablieren kann.

Seine Werte sind jedenfalls alles andere als schlecht: in 1.415 Spielminuten für Hertha schoss er immerhin acht Tore und drei Torvorlagen. Sollte er auch in den nächsten Partien seine Tore schießen, wird es auch für die größten Zweifler schwer werden, den Wert des Spielers für Hertha BSC zu verkennen. Nach dem Spiel wurde Krzysztof Piatek noch gefragt, ob er nicht ein Wort auf Deutsch sagen wolle. Seine Antwort, breit grinsend, könnte der perfekte Abschlusssatz unserer Rubrik sein: „Alle zusammen, Hertha!“

Und dann war da noch:

Matheus Cunha: Dass es mit 21 Jahren völlig normal ist, Leistungsschwankungen zu erleben, ist klar. Auch Matheus Cunha ist davon nicht verschont. Im Heimspiel gegen Borussia Dortmund war es noch bester Herthaner auf dem Platz. Wie schon vergangene Woche in Leverkusen jedoch schaffte es der Brasilianer nicht wirklich, dem Spiel seinen Stempel aufzudrücken. Seine Einzelaktion zum 1:1, in der er sich sehenswert durchsetzte und per Weitschuss Union-Keeper Andreas Luthe zum Fehler zwang, war leider seine erste und letzte wirklich starke Aktion dieser Partie. Im nächsten Spiel, gegen Borussia Mönchengladbach, wird Hertha auf seinen besten Torschützen verzichten müssen. Der Brasilianer holte sich seine fünfte gelbe Karte und muss ein Spiel pausieren. Gut möglich, dass er nach dieser Zwangspause mit neuem Elan und Energie zurückkehrt, und wieder ein besseres Gesicht zeigt. Ein Matheus Cunha in Topform ist schließlich nicht zu ersetzen.

Jordan Torunarigha: Zurück von seiner längeren Verletzungs- und Coronabedingten Pause zeigte sich beim 23-Jährigen in der Anfangsphase noch die fehlende Spielpraxis. Etwas ungenau und überhastet agierte der Innenverteidiger, der außerdem beim 0:1 nicht besonders gut aussah. Allerdings wurde er im Verlauf des Spieles immer sicherer, eroberte seine gewohnte Stabilität zurück und profitierte auch von der Überzahl, die ihm etwas mehr Freiheiten nach vorne ermöglichte. Insgesamt eine gelungene Rückkehr für Torunarigha, der beste Chancen hat, seinen Stammplatz zurückzuerobern.

Niklas Stark: Der 25-jährige ist ebenfalls eine Erwähnung wert. Er schaltete sich nur selten im Offensivspiel mit ein und sah beim 0:1 ähnlich wie Torunarigha nicht gut aus. Doch auch er kämpfte sich in die Partie zurück und kam mit dem 4-2-3-1 System in der zweiten Halbzeit deutlich besser zurecht.

Vorschau: Hertha BSC – 1. FC Union Berlin: Ein Derby mit umgekehrten Vorzeichen

Vorschau: Hertha BSC – 1. FC Union Berlin: Ein Derby mit umgekehrten Vorzeichen

Die ersten Reizpunkte sind gesetzt: Nachdem Hertha in der Nacht von Montag auf Dienstag die halbe Stadt in ein blau-weißes Fahnenmeer verwandelt hat, ließen die üblichen Reaktionen in den sozialen Netzwerken nicht lange auf sich warten. Während sich die Anhänger der „Alten Dame“ freuten, dass Hertha nach so manchem Marketing-Fehltritt der letzten Jahre (Stichwort: “We try. We fail. We win“) den zuletzt positiv eingeschlagenen Weg fortsetzt und einen echten Coup landet, waren Union-Fans zu großen Teilen weniger angetan. Aber da die Aktion sicherlich nicht in der Absicht entstand, Unionerinnen und Unioner zu begeistern und Hertha-Fans mutmaßlich genauso verstimmt reagiert hätten, wenn ihre Stadt plötzlich voll rot-weißer Fahnen übersät gewesen wäre, sollte man das Ganze nicht zu hoch hängen. Ein nettes Vorgeplänkel vor dem anstehenden Spiel am Freitag: Nicht mehr und nicht weniger.

Immerhin eines scheint die Aktion aber auf beiden Seiten bewirkt zu haben. Trotz der wideren Umstände ist so etwas wie Derbystimmung aufgekommen. Und wenn es in diesen nervenzehrenden Zeiten eines gebrauchen kann, dann sind es (positive) Emotionen. Es ist also angerichtet für die siebte (Pflichtspiel)-Auflage des Berlin-Duells.

Um einen detaillierten Einblick in die sportliche Situation bei den Köpenickern zu bekommen, haben wir mit Sebastian Fiebrig, unter anderem bekannt vom Textilvergehen, gesprochen und ihn gefragt, wie der momentane Aufschwung der Unioner zu erklären ist.

Mit 13 Toren war Sebastian Andersson in der Vorsaison die Lebensversicherung von Union. (Photo by Boris Streubel/Bongarts/Getty Images)

Das verflixte zweite Jahr

Platz 6 in der Tabelle, 16 Punkte und mit 21 erzielten Treffern die zweitbeste Offensive der Liga. Wer diese Zahlen vor der Saison gehört hätte, hätte vermutlich zuallerletzt darauf getippt, dass sie Union Berlin zuzuordnen sind. Immerhin ist hier von einer Mannschaft die Rede, die selbst im Jahr des Aufstiegs nicht gerade durch außergewöhnliche Schlagkraft vor dem Tor auffiel. 54 Treffer genügten letzten Endes, um den Gang in die am Ende erfolgreiche Relegation anzutreten. Zur Einordnung: Mitaufsteiger Paderborn und Köln erzielten im selben Zeitraum 76 respektive 84 Tore. So verwunderte es dann auch nicht, dass Union als krasser Außenseiter, dem nahezu ganz Fußballdeutschland den direkten Wiederabstieg prognostizierte, sein Heil in der Premierensaison im Oberhaus eher in der Defensive suchte und mit 41 geschossenen Toren nur die beiden Absteiger sowie Schalke 04 noch harmloser waren.

Dass Union mit der defensiven Spielweise trotzdem beachtliche 41 Punkte einheimste und damit souverän die Klasse hielt, war vor allem einem Mann zu verdanken: Sebastian Andersson zeichnete für 12 Tore der zurückliegenden Spielzeit hauptverantwortlich. Ganze sieben davon erzielte der Schwede per Kopf. Gerade diese Eigenschaft war es, die Trainer Urs Fischer zu nutzen wusste.  So lautete das Erfolgsrezept in der Regel: Langer Ball auf Andersson, der macht den Ball fest und im Idealfall resultiert aus dem dadurch entstehenden Angriff eine Ecke. Denn die Standards waren für die Köpenicker in dieser Phase überlebenswichtig. Ganze 44 Prozent der Tore kamen nach ruhenden Bällen zustande. Abnehmer der Flanken von zumeist Christopher Trimmel war – wie könnte es anders sein – Sebastian Andersson.

So stand vor der Saison also vor allem die Frage im Raum, ob Union wieder auf die altbewährte Formel setzen oder etwas Neues probieren würde. Immerhin ist nicht umsonst oft die Rede davon, dass das zweite Jahr in der ersten Liga das schwierigste ist, da sich die anderen Teams auf die Spielweise des Neulings einstellen konnten. Union Berlin hat diese Frage für sich sehr schnell und sehr eindeutig beantwortet. So ist von der oftmals abwartenden Spielweise und dem Hoffen auf Standardsituationen nicht mehr allzu viel übrig.

Aus der Not eine Tugend machen

Max Kruse hat das Spiel von Union auf ein neues Level gehoben. (Photo by Maja Hitij/Getty Images)

Dass Union vom Ansatz aus der Vorsaison abgewichen ist und nun auch vermehrt das Spiel mit dem Ball forciert, hängt zu großen Teilen auch mit der Transferphase zusammen. Zum einen hat der angesprochene Sebastian Andersson den Verein kurz vor Ende der Transferphase verlassen. Zum anderen ist da plötzlich ein gewisser Spieler im Kader, der (und diese Einschätzung wird zerfressen von blankem Neid abgegeben) eigentlich viel zu gut ist, um an der Alten Försterei zu spielen. Die Rede ist natürlich von Max Kruse. Ein Spieler, der aufgrund seiner Spielweise und auch seines Glamours so überhaupt nicht zu Union zu passen schien und der nun nach wenigen Wochen schon den Eindruck vermittelt, als wäre er nie woanders gewesen.

Viele waren gespannt, wie Max Kruse dieses – mit Verlaub – eher destruktiv angelegte Spiel beeinflussen würde. Die Antwort ist: Er hat es um beinahe 180 Grad gedreht. Wobei diese Einschätzung laut Sebastian zu kurz greift: „Den Plan mit dem Ball hatte der Trainer bereits in der vergangenen Saison. Aber die Mannschaft konnte das da nicht so gut umsetzen. Dieses Jahr gibt es Spieler, die in der Spitze das Niveau des gesamten Teams noch einmal gehoben haben. Dazu gehört natürlich Max Kruse in der aktuellen Form. Aber es gibt schon auch andere Spieler wie Knoche, die nicht unwichtig für den Aufbau sind und der regelmäßig die meisten Ballkontakte bei Union hat. Fischer ist ja nicht der dröge Defensivtrainer, als der er gerne mal hingestellt wird, sondern es zeichnet ihn aus, dass er sehr pragmatisch genau den Fußball spielen lässt, zu dem die Mannschaft imstande ist. Es dürfte ihm auch helfen, dass die Mannschaft offensichtlich beim Spiel Dingen begegnet, auf die sie vom Trainerteam vorbereitet wurde.“

So scheint es, als hätte Oliver Ruhnert, Geschäftsführer Sport bei den „Eisernen“, im Sommer, auch fernab der Verpflichtung von Kruse, einen klaren Plan verfolgt, um der Mannschaft in Zusammenarbeit mit Urs Fischer mehr spielerische Elemente zu verleihen. So sagt Sebastian weiter: „Es war ja nicht nur Max Kruse. Auch Robin Knoche wurde verpflichtet. Oder Loris Karius, der noch gar kein Spiel für Union gemacht hat. Nicht zu vergessen solche Verpflichtungen wie Joel Pohjanpalo, Taiwo Awoniyi und Keita Endo. Von letzterem werden wir sicher noch viel hören, wenn er endlich verletzungsfrei bleibt.“

Unions Härtetest beginnt jetzt

(Photo by ANNEGRET HILSE/POOL/AFP via Getty Images)

Zur ganzen Wahrheit des so erfolgreichen Saisonstarts gehört aber auch, dass es die DFL für den Auftakt sehr gut mit Union gemeint hat. Mit Borussia Mönchengladbach hatten die Köpenicker bislang erst ein Topteam auf dem Spielplan. Borussia Dortmund, Leipzig, der FC Bayern, Bayer Leverkusen … all diese Mannschaften folgen erst noch. Dementsprechend ordnet auch Sebastian die Situation ein:  „So ein bisschen ist der Spielplan ja immer Fluch oder Segen. Es war schon vor Saison klar, dass Union von Anfang an wird punkten müssen, weil hinten eher die dicken Brocken warten.“

Dass Union den Zwang, am Anfang punkten zu müssen, aber derart ernst nimmt, war nicht zu erwarten: „Wenn ich mir all das vor Augen halte, muss ich mich eher kneifen. Auch, dass ich in der Tabelle nicht unten schaue, wie viel Abstand Union zu den Abstiegsplätzen hat. Die Integrationskraft der Mannschaft ist vielleicht wirklich das Bewundernswerte und auch die Art und Weise, wie das Trainerteam um Urs Fischer diesen Umbruch moderiert hat. Der Tabellenplatz wird sich bestimmt etwas nach unten entwickeln bis zur Winterpause. Aber die Punkte kann niemand nehmen. Und das gibt Sicherheit.“ Diese Sicherheit ist essenziell. denn trotz des aktuellen Höhenflugs stimmt Sebastian der Maßgabe Urs Fischers zu, dass der Klassenerhalt über allem steht: „Wahrscheinlich steht irgendwo in der Kabine wieder die Zahl 40. Und ich vermute, dass ihr Anblick absolut erdet. Union wird sich jeden Punkt weiter hart erkämpfen müssen.“

Hertha vor dem Derby in ungewohnter Rolle

Während der Umbruch im Kader bei Union also besser kaum laufen könnte, sind bei Hertha nach wie vor einige Bewegungsschmerzen spürbar, auch wenn der Trend mit Ausnahme der Klatsche gegen den BVB zuletzt nach oben zeigte. Beim Blick auf die Tabelle ist es nun erstmals der Fall, dass die Rolle des Favoriten vor einem Derby nicht eindeutig bei Hertha liegt, Trotzdem darf für die “Alte Dame”, gerade aufgrund der tabellarischen Situation, nur ein Dreier zählen. Der Verein hat mit der eingangs erwähnten Fahnenaktion den richtigen Tenor gesetzt, nun sind die Spieler gefragt. Ein zweites Fiasko wie im Hinspiel der Vorsaison, als nur ein Team verstanden hat, worum es in einem Derby geht, darf es unter keinen Umständen geben. In diesem Sinne sollte eher das Rückspiel als Orientierungsmaßstab genommen werden.

[Titelbild: Stuart Franklin/Getty Images]
 

1. FC Union Berlin – Hertha BSC: Das etwas andere Derby

1. FC Union Berlin – Hertha BSC: Das etwas andere Derby

Nun heißt es erst einmal ganz tief durchatmen. Ein auf allen Ebenen derart intensives Spiel, wie das am Mittwochabend gegen Dynamo Dresden, hat man als Hertha-Fan lange nicht gesehen. Zum Runterkommen täte es da eigentlich ganz gut, wenn man sich am Wochenende einen schönen Waldspaziergang vornimmt oder in den Park geht und Enten füttert. Doch der Spielplan der DFL meint es in dieser englischen Woche nicht gut mit dem Seelenheil aller blau-weißen Anhänger. Denn schon am Samstag steht das Spiel an, auf das schon seit Wochen hingefiebert wird:

Mit dem Aufstieg Unions kommt es nun erstmals in der Bundesliga zum Stadt-Derby. (Photo by Stuart Franklin/Bongarts/Getty Images)

Am 27. Mai 2019 war die Überraschung perfekt. Ein 0:0 im Heimspiel gegen den VfB Stuttgart besiegelte den Aufstieg Unions in die Bundesliga. Nachdem man in den Vorjahren einige Male am Wunder schnupperte, ist der Traum von der ersten Liga nun Realität.

Damit steht auch fest, dass es in dieser Saison erstmalig zum Derby zwischen Union und der Alten Dame im Fußball-Oberhaus kommt. Anlässlich dieses Ereignisses haben wir uns etwas Besonderes einfallen lassen. Ganz im Sinne des 30-jährigen Jubiläums des Mauerfalls haben wir Unioner und Herthaner aus der Podcast/- Bloggerszene zu ihrer Gemütslage vor dem Spiel befragt. Wir wollen wissen, welche Bedeutung das Derby für beide Seiten hat, wie sich die Rivalität der zwei größten Berliner Vereine in den letzten Jahren entwickelt hat und mit welchen Gefühlen beide Fanlager in den Samstag gehen.

Kein Derby wie jedes andere

Das letzte Aufeinandertreffen liegt über sechseinhalb Jahre zurück. (Photo by Matthias Kern/Bongarts/Getty Images)

Hört man hierzulande das Wort “Derby”, denkt man zuallererst an Partien wie Dortmund – Schalke, Bayern – 1860 München, Stuttgart – Karlsruhe oder Nürnberg – Fürth. All diese Begegnungen eint eine tief gewachsene Rivalität zwischen den jeweiligen Teams. Der Ausgang des Derbys kann dabei schon mal über eine ansonsten komplett verkorkste Saison hinweghelfen oder den Schmerz zumindest erheblich lindern. So war es beispielsweise der Fall, als Dortmund in der Saison 2006/2007 Schalke am vorletzen Spieltag die Meisterschaft versaute, abgesehen davon jedoch eine enttäuschende Runde spielte und auf Rang 9 abschloss. Über 10 Jahre später bleibt aber vor allem dieses eine Spiel in Erinnerung.

Hertha und Union “fehlt” diese gewachsene Rivalität. Bekanntermaßen bestand zu Zeiten der Teilung und auch noch danach (zumindest in Teilen) eine Freundschaft zwischen beiden Fanlagern. Zudem gab es in der gemeinsamen Geschichte lediglich zwei Spielzeiten, in denen man in derselben Liga spielte. Daher gab es kaum Gelegenheiten, für denkwürdige Spiele oder andere besondere Momente zu sorgen. Trotzdem hat sich in den letzten Jahren, zumindest beim aktiven Teil der Fanszenen, eine starke Antipathie füreinander entwickelt. So gibt es kaum noch ein Heimspiel der Alten Dame, bei dem es nicht “Scheiß Union” durch das weite Rund schallt. Ein Spiel wie jedes andere ist es also keineswegs. Schon allein deswegen nicht, weil man sich nun weitaus eher auf Augenhöhe begegnet, als es noch zu Zweitligazeiten der Fall war.

Zwar ist Hertha auch jetzt der Favorit, doch waren die Machtverhältnisse im Unterhaus – in dem Hertha mit einem Kader antrat, der an Wettbewerbsverzerrung grenzte und das zu einer Zeit, als Union noch weit davon entfernt war, ernsthafte Aufstiegsambitionen zu haben – weitaus klarer verteilt. Und selbstverständlich darf man auch das Thema Prestige nicht außer Acht lassen. Ein Derbysieg schmeckt dann am Ende des Tages eben doch süßer als Siege gegen Wolfsburg, Hoffenheim und Konsorten.

Die sportliche Bedeutung

Neben der emotionalen Komponente geht es nüchtern betrachtet auch in dieser Partie zunächst einmal um drei Zähler. Diese würden beiden Mannschaften in der aktuellen Situation zupasskommen. Union befindet sich seit Saisonbeginn, wie es nicht anders zu erwarten war, im Abstiegskampf und rangiert punktgleich mit dem 17. auf Rang 15. Auch wenn der Start mit einem 0:4 gegen RB Leipzig gleich mal gehörig daneben ging, hat man seitdem bewiesen, dass man keineswegs chancenlos ist und konnte gerade bei den Siegen gegen Dortmund und Freiburg zeigen, insbesondere vor heimischer Kulisse für die eine oder andere Überraschung gut zu sein. Hertha sollte sich also nicht auf den Derby-Heimfluch (bisher konnte weder Hertha noch Union ein Derby im eigenen Stadion für sich entscheiden) verlassen.

Auch die Alte Dame kann einen Sieg im Derby, nicht nur aus atmosphärischen Gründen, dringend gebrauchen. Nach dem Zwischenhoch mit zehn Punkten aus vier Spielen sorgte die Niederlage gegen Hoffenheim wieder für einen kleinen Dämpfer. Will man den Anschluss an das obere Tabellendrittel nicht verlieren, ist ein Sieg in Köpenick Pflicht.

Um das Stimmungsbild aus beiden Fanlagern möglichst genau abzubilden, haben wir mit je drei Herthanern und drei Unionern aus der Podcast-/ Bloggerszene gesprochen. Genauer gesagt standen uns für Union Sebastian Fiebrig vom Textilvergehen, Daniel Roßbach – ebenfalls bekannt durch u.a. Textilvergehen und Spielverlagerung.de – sowie Benni von der Alten Podcasterei gesprochen.
Auf Herthaner Seite standen uns Steffen vom Damenwahl-Podcast
, Moritz von der Axel Kruse-Jugend sowie Steven, der den Blog sogenannterblogger betreibt, Rede und Antwort.

Wir bedanken uns vielmals bei unseren tollen Interview-Gästen und wünschen viel Spaß beim Lesen!

Hertha BASE: Nur noch ein paar Tage bis zum Derby: Wie sehr kribbelt es schon?

Steven (Hertha-Fan): Jetzt, nach dem wichtigen Pokalspiel, liegt der Fokus natürlich komplett auf dem Derby. Ja, es kribbelt!

Benjamin (Union-Fan): Als viele Unioner nach dem Relegationsrückspiel schon das Derby im Kopf hatten, war ich immens davon genervt. Immerhin waren wir für uns aufgestiegen. Das Abenteuer erste Liga ist eines, welches nicht nur aus zwei Derbys besteht. Nun nähert sich jedoch der Spieltag und ich muss gestehen: ja, ich bin heiß auf das Spiel!

Sebastian (Union-Fan): Bis jetzt noch gar nicht. Aber das hat eher was mit der gesamten Saison zu tun. Ich war so oft so aufgeregt in dieser Spielzeit, das kann ein Derby gar nicht toppen. Man steigt eben nur ein Mal das erste Mal in die Bundesliga auf. Das erste Spiel überhaupt, der erste Punkt, der erste Sieg und so weiter und so fort. Es gibt eine ganze Reihe Gegner, gegen die Union das erste Mal überhaupt in einer Liga spielt. Hertha gehört da nicht dazu, weil ihr uns zwei Mal entgegen gekommen seid. Und dann ist da noch der enge Spielplan. Auswärtsspiel beim FC Bayern, dann Pokal in Freiburg und dann gleich das Derby – viel Zeit für Vorfreude bleibt da nicht. Aber ich bin mir ganz sicher, dass es am Sonnabend Vormittag kribbeln wird.

Steffen (Hertha-Fan): Noch nicht so sehr, wie ich gedacht hätte. Das liegt vermutlich am Pokalspiel, welches der Derbyvorfreude noch so ein wenig im Weg steht. Außerdem habe ich für das Auswärtsspiel bei Union – mal wieder – kein Ticket. Ein TV-Derby und das Aufeinandertreffen direkt im Stadion sind dann nochmal was anderes. Mal schauen, ob das Kribbeln zum Wochenende hin noch zunimmt. Spoiler: Ja, wird es!

Daniel (Union-Fan): Es geht … uns gerade eher auf die Nerven. Wir beim Textilvergehen werden seit einer Weile ständig danach gefragt, wie bedeutend uns nun eigentlich dieses Derby sei, und wie das Verhältnis von Hertha und Union denn nun eigentlich sein sollte. Dabei ist mir Hertha die meiste Zeit über eher etwas egal – zumindest so, dass ich nicht wie offenbar manche Leute im Union-Block in München plötzlich auf die Idee käme, mich über Hoffenheim-Tore zu freuen, weil sie gegen Hertha fallen. Aber natürlich ist Hertha schon ein besonderer Gegner. Das Spiel am Samstag wird nicht eins der Top5 aufregendsten dieses nicht-ganz-uninteressanten Jahres bei Union sein – aber in der Liste auch nicht auf Platz 22 stehen.

Moritz (Hertha-Fan): Auf einer Skala von “Siehst Du, dass ich mich kratze?” – “Nein.” – “Weil es mich nicht juckt.” bis Dschungelprüfung: irgendwo dazwischen. Das Pokalspiel zieht auch einiges an Aufmerksamkeit und es ist doch weniger von der Fanszene und Hertha her passiert, als ich gehofft habe (Kein Public Viewing, kein Begleiten des Busses …). Gefühlt geht es die ganze Zeit darum, wer noch wie von wo ein Ticket kriegt … (Nein, ich habe keins. Nein, ich kann meins auch nicht weitergeben, ich habe keins.)

Hertha BASE: Ist das Gefühl dieses Mal (auch wegen der höheren Spielklasse) ein anderes als noch bei den letzten Aufeinandertreffen?

Steven (Hertha-Fan): Würde ich schon so sehen, ja. In der zweiten Liga war halt immer im Hinterkopf, dass wir eigentlich niemals hätten absteigen dürfen. Die Derbys und viele andere Spiele gegen für uns neue Gegner waren natürlich spannend, aber es war klar, dass der Fokus auf dem Wiederaufstieg liegt. Ein Bundesliga-Derby in der eigenen Stadt ist schon was besonderes und wäre für mich persönlich nur noch zu toppen durch ein Pokal-Derby.

Benjamin (Union-Fan): Das Gefühl ist in der Tat anders als zuvor – aber nicht der Spielklasse wegen. So viele Pflichtspielderbys gegeneinander haben unsere Vereine noch nicht auf dem Buckel und dennoch ist das letzte eine Weile her. Und diese Jahre machen etwas mit dem Fußballgemüt. Ich sehe Hertha heute anders als damals. Das unterscheidet es für mich.

Foto: Matthias Kern/Bongarts/Getty Images

Sebastian (Union-Fan): Es ist sehr viel sehr gleich. Und doch ist manches ein bisschen anders. Die Grundvoraussetzung hat sich geändert und ich glaube, dass uns das allen gefällt: Niemand musste absteigen, damit das Derby stattfinden kann. Und wir befinden uns im natürlichen Habitat von Hertha, in der Bundesliga. Ob diese Liga auch mal ein natürlicher Lebensraum für Union wird, werden wir sehen. Und auch die Bedeutung von Union hat sich geändert. Obwohl Bedeutung vielleicht das falsche Wort ist. Durch den Bundesliga-Aufstieg bekennen sich mehr und mehr Menschen zum 1. FC Union. Auch durch Vereinsmitgliedschaft. Und das führt schon dazu, dass Union zwar noch der Underdog ist, aber der Abstand zu Hertha gefühlt geringer ist, auch wenn da noch sehr viel Weg zu gehen ist, damit Union in Bereichen wie in der Nachwuchsarbeit ansatzweise auf einem ähnlichen Stand ist.

Steffen (Hertha-Fan): Ein Derby ist was besonderes. Ob in der 1. oder 2. Liga ist für mich eher zweitrangig. Ich beschreibe das Derby-Gefühl gern mit “das Weiße in den Augen des Gegners sehen”. Wenn man ein normales Ligaspiel gewinnt oder verliert, dann freut oder ärgert man sich – und dann geht’s weiter. Bei einem Derby kann man nicht so einfach einen Haken dran machen. Da sieht man die Fans des Gegners noch Tage und Wochen später auf der Straße, auf der Arbeit, im Supermarkt. Da möchte man in jedem Fall derjenige sein, der grinst. Nicht der, der angegrinst wird. Bestimmt bekommt das erstklassige Derby deutschlandweit eine andere Aufmerksamkeit. In Berlin empfinde ich das Spiel nicht anders.

Daniel (Union-Fan): Damals waren Spiele von Union gegen Hertha auf jeden Fall noch eine viel asymmetrischere Angelegenheit. Natürlich gibt es jede Menge Aspekte, in denen Union viel toller ist als Hertha, aber sportlich war es eben sehr klar nur vorübergehend dieselbe Liga, und innerhalb der ein großer Unterschied. Das ist jetzt beides nicht mehr (weniger) der Fall.

Moritz (Hertha-Fan): In Liga zwei war ich noch nicht so in die Fanszene eingebunden, aber damals war es definitiv auch was Besonderes. Die Hektik scheint diesmal größer, auch wegen der Mauerfall-Jubiläums-Sache vielleicht. Über Liga eins wird auch mehr in der Presse berichtet… Also unterm Strich: Ja, es ist ein anderes Gefühl.

Hertha BASE: Welches ist deine prägnanteste Erinnerung an die zurückliegenden Derbys?

Steven (Hertha-Fan): Sicherlich der 2:1-Sieg in der Alten Försterei in der Saison 12/13. Ein absolut dreckiges Kampfspiel mit Typen wie Maik Franz, Peter Niemeyer oder eben auch Änis Ben-Hatira und Sandro Wagner. Dazu der Freistoß von Ronny, mit mehr Wucht als Verstand. Spielerisch sicherlich übel, aber es wurde um jeden Ball, um jeden Einwurf gefightet. Wenn die aktuelle Mannschaft es am Samstag schafft, so eine Einstellung auf den Platz zu bringen, mache ich mir angesichts der vorhandenen spielerischen Qualität keine Sorgen.

Benjamin (Union-Fan): Selbstverständlich war das 2:1 im Olympiastadion ein historischer Moment für den 1. FC Union Berlin. Und meine Erinnerung daran bleibt, egal wie irgendein zukünftiges Derby enden sollte.

Sebastian (Union-Fan): Michael Parensens unzählige Verletzungen. Ich erinnere mich, wie ich beim Derby an der Alten Försterei noch in den Krankenwagen schaute, bevor der mit ihm losgefahren ist. Und dann natürlich der Sieg im Olympiastadion. Ich hätte eigentlich in der Sport-Redaktion des Kuriers arbeiten müssen, durfte aber ins Stadion, weil ich eine Familie aufgetan hatte, in der der Vater Unioner und der Sohn Herthaner ist und beide bis zum Stadion begleitete, wo sich beim Einlass deren Wege trennten. Ich bin meinem damaligen Chef Andreas Lorenz immer noch dankbar, dass er mich das hat machen lassen.

Foto: Boris Streubel/Bongarts/Getty Images

Steffen (Hertha-Fan): Im Vorfeld des ersten Pflichtspiel-Derbys gegen Union war ich eigentlich ganz entspannt. Hertha und Union waren traditionell keine großen Rivalen, der „echte“ Derby-Gegner war TeBe. Mit Union verband ich eher die Geschichten der „Alten“. Etwa von gegenseitiger Unterstützung zu Mauerzeiten, wenn Unioner zu Auswärtsspielen von Hertha im Europapokal gegen Gegner aus dem Ostblock anreisten oder Herthaner nach Ost-Berlin fuhren, um Union an der Alten Försterei anzufeuern. Geschichten von Blau-Weißen und Rot-Weißen, die sich in den Monaten nach dem Mauerfall bei dem einen oder anderen Spiel glücklich im selben Stadion wieder fanden. Nicht als Gegner, sondern als Menschen in einer plötzlich wiedervereinigten Stadt. Tja, dann zogen die Jahre ins Land und das Verhältnis zwischen Fans und Vereinen kühlte mehr und mehr ab. 2010 war von den alten freundschaftlichen Banden kaum noch etwas zu spüren. Dann entschied sich Union im Vorfeld des ersten Derbys auf einmal die Ost-West-Karte zu spielen und das Spiel als ein Ost-Berlin gegen West-Berlin zu stilisieren. Ich habe das als ehemaliger Ost-Berliner als ziemlich schlimm empfunden. Vielleicht bin ich da auch zu empfindlich, aber für mich war das Derby eine Geschichte des zusammenwachsenden, wiedervereinigten Berlins. Und auf einmal versuchte da jemand, eine neue Spaltung, wenn auch nur sportlich, zu beschwören. Das schwebt bei mir seitdem bei jedem Aufeinandertreffen im Hinterkopf.

Daniel (Union-Fan): Ich bin ja noch gar nicht so lange Unioner, und eh Zugezogener. Das 2-2 im Februar 2013 in Charlottenburg mit dem späten Freistoß von Ronny war tatsächlich eins meiner ersten Union-Spiele in einem Stadion. Die Auswahl ist also nicht so furchtbar groß – aber ich fand den Auswärtsblock (ich war im Union-lastigen neutralen/heim Sektor daneben) damals sehr beeindruckend – vor allem die geschwenkte, schön rote Pyro im Oberrang.

Moritz (Hertha-Fan): Im Olympiastadion noch in der Schlussphase der Ausgleich durch das obligatorische Ronny-Freistoß-Tor… Fühlte sich trotzdem wie eine Niederlage an..

Hertha BASE: Wie hat sich die Rivalität in deinen Augen in den letzten Jahren entwickelt und wie nimmst du sie aktuell wahr?

Steven (Hertha-Fan): Es ist logisch, dass die Rivalität innerhalb einer Stadt größer wird, je öfter man sich sportlich über den Weg läuft. Historisch gesehen ist das sicher nicht vergleichbar mit den großen Rivalitäten wie Dortmund – Schalke, St. Pauli – HSV oder auch Karlsruhe – Stuttgart. Von daher sollte man da nicht die große gewachsene Feindschaft reinreden. Ebenso ist es aber sicher auch kein Freundschaftsderby. Die Kontakte, die es mal gab und die ich niemandem schlecht reden will, sind doch sehr abgekühlt und gerade von Unioner Seite nimmt man eine recht ablehnende Haltung wahr, wenn es um Hertha und die freundschaftlichen Kontakte der Vergangenheit geht.

Benjamin (Union-Fan): In meinem Umfeld bestand die Rivalität auch zu den Zweitligaderbys. Seit den 90ern ist hingegen viel passiert. Beide Vereine, Szenen, Fans driften in der Wahrnehmung auseinander. Das merke ich auch an mir selbst. Hätte ich mich in den letzten Derbys noch über ein gemeinsames “Eisern Berlin” gefreut, so kann ich heute getrost darauf verzichten. Der Alleinstellungsanspruch, der mir nicht nur von den blau-weißen “Wir sind Berlin”-Plakaten an der Bushaltestelle ins Gesicht springt, trägt dazu sicher auch etwas bei. Ihr mögt ganz gerne “Eine Stadt – ein Verein – Hertha BSC” singen. Aber auch ihr wisst hoffentlich, wie bunt die Fußballwelt in Berlin ist. “Eine Stadt – so viele Vereine!”

Foto: Matthias Kern/Bongarts/Getty Images

Sebastian (Union-Fan): Da ich bekennender Anhänger der Fußball-Ökumene Berlin bin, hat sich für mich wenig geändert. Wir hosten ja als Union-Blog und -Podcast auch den Hertha-Podcast Damenwahl. Ich mochte das Hertha-Echo mit Manne Sangel und ich finde, dass die Ostkurve zu den unterschätztesten Fanszenen in Fußball-Deutschland gehört. Was sich geändert hat? Uns trennt seit 30 Jahren keine Mauer mehr, sodass sich eine normale Rivalität entwickeln konnte, ohne in Hass umzuschlagen. Dazu gehört auch, dass man das Gegenüber als Konkurrenz empfindet. Und ich finde, dass das Hertha als Verein gut tut, um ein Profil jenseits dieser schlimmen Bezeichnungen wie “Hauptstadtklub” zu entwickeln. Abgrenzung tut dem Verein (und hier meine ich explizit die Leute, die im Verein arbeiten und nicht die Fans) ganz gut. Man muss nicht allen gefallen wollen. Und für Union ist es auch ganz gut, sich in Konkurrenz zu befinden. Toll finden wir uns schon von alleine. Da tut kritische Betrachtung ganz gut. Am Ende profitieren beide Klubs davon, dass man sich plötzlich in Berlin bekennen muss: Union oder Hertha?

Steffen (Hertha-Fan): Seit Herthas letztem Aufstieg im Jahr 2013 hat sich für mich persönlich eigentlich nicht so viel verändert. Sicherlich haben sich für beide Klubs in massiver Weise Dinge geändert. Union durchlebt gerade eine ähnliche Wachstumsphase wie Hertha in der zweiten Hälfte der Neunziger. Hertha selbst konnte sich erst einmal aus der ewigen Schuldenfalle befreien. Zu welchem Preis werden wir wohl erst in der Rückschau in einigen Jahren bewerten können. Aber im Verhältnis zwischen Hertha und Union, zwischen Herthanern und Unionern, hat sich in den letzten Jahren nicht allzu viel getan. Man arbeitet professionell miteinander, die Fans betrachten sich argwöhnisch aus der Distanz. Die Unionern marschieren in der ihnen eigenen Art durchs Land und verkünden ihre moralische Überlegenheit, die Herthaner zucken genervt mit den Schultern. Das empfinde ich tatsächlich keinen Deut anders als 2010. Business as usual.

Daniel (Union-Fan): In den letzten Jahren hatten wir bei Union mit Hertha direkt natürlich nicht zu tun – höchstens mal über die Karlsruher Dependance (das finden wir eher merkwürdig). Wenn ich mich mit Herthanern unterhalte, dann nicht selten im Rahmen unserer Podcast-Ökumene mit Damenwahl. Da ist das alles grundsätzlich natürlich freundlich mit Aussicht auf kleine Sticheleien. Und so sehe ich eben auch Hertha insgesamt. Außerdem hat sich in den letzten Jahren ja auch die Bundesliga geändert, in der es nun viele Mannschaften gibt, die ich viel weniger mag als Hertha und/oder die mir (noch) weniger sagen. Und machen wir uns nichts vor, natürlich bietet die Nähe zueinander auch Reibungsfläche.

Moritz (Hertha-Fan): Zu Zweitliga-Zeiten waren die Bus-Beschädigungen ziemlich daneben, das hat mich damals geärgert. Den ständigen Sprüh-Battle an der Autobahn oder auf den Stromkästen wiederum finde ich lustig. Ich höre ständig Herthaner “Scheiß-Union” rufen, egal, gegen wen wir spielen – das ist nicht so meins. Ich hoffe auf ein wirklich nettes und friedliches Spiel, ich kenne so viele Unioner und Herthaner, die sich genau das wünschen – ich finde, wir haben uns ein Freundschaftsderby verdient, es gibt genug Spaltung und Hass in der Gesellschaft, Berlin braucht L I E B E !

Hertha BASE: Viele Herthaner aus meinem Umfeld haben sich über den Aufstieg Unions gefreut. Wie sah das bei dir bzw. in deinem Umfeld aus?

Steven (Hertha-Fan): Die Vorfreude auf das Derby war natürlich sofort da, aber es war bei mir persönlich sicher nicht so, dass ich Union im Endspurt die Daumen gedrückt habe. Es gibt zwar durchaus einiges bei Union, was mir gefällt; Die klare Positionierung pro 50+1, den Fokus aufs Stadionerlebnis, das Verhältnis zwischen Fans und Verein oder die Tatsache, dass man nicht bei jeder Fackel einen Tobsuchtsanfall bekommt. Allerdings hat der sportliche Erfolg Unions in den letzten Jahren natürlich auch viele Leute angezogen, die sich von diesem Mythos um den alternativen Kultklub angezogen fühlen. Da reden dann plötzlich Leute von der “Union-Familie”, die vor ein paar Jahren noch ins Olympiastadion gegangen sind, um Bremen oder Dortmund die Daumen zu drücken. Leute, die eher dem Klischee des zugezogenen Prenzlauer Berg Hipsters entsprechen, als dem Arbeiter-Milieu. Dafür kann Union an sich nicht so viel. Wenn sich aber Herr Zingler dann hinstellt und in Bezug auf das Derby vom “Klassenkampf” spricht, dann frage ich mich, ob er den Bezug zur Realität verloren hat. Eine Äußerung, die er noch dazu tätigt, nachdem man in Köpenick mit Adidas einen sehr lukrativen Ausrüstervertrag, sowie einen Hauptsponsorvertrag mit dem Immobilien-Unternehmen Aroundtown geschlossen hat. Ein Unternehmen, was sich nicht zwingend mit dem Image des kleinen, sich seiner sozialen Verantwortung bewussten Vereins in Einklang bringen lässt. Nun ist es sicherlich so, dass es gerade auch bei Hertha in dieser Richtung Entwicklungen gab, mit denen viele Fans nicht zwingend glücklich sind. Allerdings gerieren wir uns auch eher selten als letzte anti-kommerzielle Bastion des Profifußballs.

Moritz (Hertha-Fan): Die meisten haben sich zunächst total gefreut, allerdings ging ja damals schon vor der Relegation der Union-Hype los, plötzlich wurde uns wieder bewusst, WIE grau unsere graue Maus noch immer (angeblich) ist. Jetzt sind die meisten eher trotzig: schön dass Union mitmacht, es ist eine Bereicherung, aber wir sollten zeigen, was wir draufhaben. Hertha ist Kult seit dem 25. Juli 1892.

Hertha BASE: Welche Bedeutung hat der Ausgang des Derbys für den Rest der Saison? Erhoffst du dir bei einem Sieg einen besonderen Schub und befürchtest du umgekehrt im Falle der Niederlage einen Knick?

Steven (Hertha-Fan): Mit Blick auf die Tabelle wäre ein Sieg, auch ohne die besondere Bedeutung des Derbys, immens wichtig. Speziell aufgrund der Situation, dass sich in der Mannschaft einige Hierarchien geändert haben, Spieler wie Salomon Kalou eine neue Rolle akzeptieren müssen und man einen neuen, im Profibereich unerfahrenen Trainer hat, kann so ein Derbysieg sicherlich eine Wirkung haben, die über das Wochenende hinaus geht. Mit einer Niederlage befasse ich mich, wenn es soweit ist. Dauert also noch.

Benjamin (Union-Fan): Das Derby ist ein Fußballspiel mit besonderem emotionalen Wert. In diesem Sinne ist es ein (nicht DER) Höhepunkt der Saison. Dennoch geht es auch hier nur um drei Punkte – wichtige Punkte für Union, ja. Aber genau so wichtig wie gegen Freiburg, Schalke oder Köln. Mehr nicht.

Sebastian (Union-Fan): Weder noch. Ich hätte gerne die Punkte, weil es Punkte im Kampf um den Klassenerhalt sind. Zwar macht ein Sieg gegen Hertha besonders viel Spaß. Und umgekehrt sicher auch, denn sonst hätte nicht ewig vor Herthas Pressekonferenz-Raum ein Bild von Sandro Wagner nach seinem Tor gegen Union gehangen. Aber würde eine Fee vor mir stehen und fragen: Klassenerhalt oder Derbysieg? Dann würde ich mich sofort für den Klassenerhalt entscheiden. Die Aufmerksamkeit, die ein Jahr Bundesliga generiert, schafft man in zehn Jahren zweite Liga nicht. Und Union braucht das, um sich weiter irgendwie im Profibereich der 20 besten Mannschaften Deutschlands zu etablieren. Ihr wisst, wovon ich rede. Es ist wahnsinnig schwierig, sich in der Bundesliga zu etablieren, wenn nicht gerade von extern signifikant viel Geld dazugeschossen wird. Und ich glaube, dass der Abstand zwischen Bundesliga und zweiter Liga immer größer wird und entsprechend mit jedem Jahr das Fenster kleiner, sich überhaupt in der Ersten Liga etablieren zu können, wie das mal Mainz oder Freiburg gemacht haben.

Foto: Boris Streubel/Bongarts/Getty Images

Steffen (Hertha-Fan): Ein einziges Spiel kann schon mal bedeutend für den Verlauf einer ganzen Saison sein. Ich glaube aber nicht, dass dieses Derby-Hinspiel so ein entscheidendes Spiel ist. Hertha wird sich diese Saison im Niemandsland der Tabelle einpendeln. Wir sind aktuell, vor allem Defensiv, nicht stabil genug, um Ansprüche auf höhere Tabellenregionen anmelden zu dürfen. Dafür gibt es diese Saison zu viele stabil performende Mannschaften in der oberen Tabellenhälfte. Union hat an den ersten Spieltagen genug Punkte und Selbstvertrauen getankt, da würde unser Nachbar auch bei einer klaren Niederlage nicht hoffnungslos in den Abstiegskampf zurückfallen. Ich denke, am Samstag geht es einzig und allein darum, wer bis Weihnachten mit Dauergrinsen im Gesicht herumlaufen darf.

Daniel (Union-Fan): Das Momentum aus dem Spiel halte ich für weniger wichtig als die schlichten drei Punkte. Hertha fällt in die Klasse von Gegnern, die Union zuhause schlagen kann, und hin und wieder auch schlagen muss, um am Ende auf 35-40 Punkte zu kommen. Natürlich würde ein Sieg darüber hinaus auch noch etwas Selbstvertrauen und Schwung für die nächsten Wochen geben, in denen Union noch einige Spiele hat, in denen Urs Fischer wohl Punkte budgetiert hat (Union spielt noch gegen vier der fünf anderen Mannschaften im letzten Drittel der Tabelle).

Moritz (Hertha-Fan): Für das Verhältnis Trainer/Fans ist es wahrscheinlich am wichtigsten, da hängt schon etwas davon ab. Abgesehen davon sind es nur drei Punkte und wir sind noch früh in der Saison. Ich befürchte weder einen Knick noch verspreche ich mir einen Schub. Ich denke, die Fußballer von heute sind Profis und hören sich hinterher auf YouTube eine Seelenreise an, die Ihnen die traumatische Erfahrung der Niederlage zu überwinden hilft.

Wie lautet dein Tipp für das Spiel?

Steven (Hertha-Fan): Ich bin sehr optimistisch, dass Ante Covic es versteht, seine Mannschaft auf so ein Spiel einzustellen. Dazu haben wir genügend Spieler im Kader, die mit solchen Situationen umgehen können und sich durch nichts beeindrucken lassen. Ich tippe auf ein 3:1 für Hertha.

Benjamin (Union-Fan): Egal ob Derby oder nicht: wenige Tage vor einem Spiel flüstert der Kopf nur noch und das Herz schreit um so lauter: “Die hau’n wa weg!”. Die Punkte bleiben in Köpenick: 2:1 für die Guten, so wie damals im Leichtathletikstadion.

Sebastian (Union-Fan): 2:1 für Union. Es wird mal Zeit für einen Heimsieg im Derby.

Steffen (Hertha-Fan): Derbys werden gewonnen! Diese Saison, nächste Saison und darüber hinaus. (Hertha, ey, bitte gewinne dieses verdammte Spiel!)

Daniel (Union-Fan): <a
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target=”_blank” rel=”noopener”>Union immer 3-0!</a>

Moritz (Hertha-Fan): Hertha gewinnt 2:1. Ich würde Selke ein Tor wünschen, aber vielleicht ist das zuviel, es ist ja noch nicht Weihnachten. Also Kalou und Ibi, wie immer.

*Titelbild: Boris Streubel/Bongarts/Getty Images