Zurück zum Wesentlichen: Nachdem auch mehr als ein Jahr nach Beginn der Pandemie der Fußball seine Sonderstellung immer weiter ausreizt und heiter seine Akteure rund um den Erdball schickt, sind nun alle wieder zurück bei ihren Vereinen. Aus rein nüchterner, sportlicher Sicht kam die Auszeit für Hertha jedoch tatsächlich gelegen. Sami Khedira konnte das Training wieder aufnehmen und wird am Sonntag, ebenso wie Kapitän Dedryck Boyata, im Kader stehen. Dass seine Antreiberqualitäten vonnöten sein werden, steht wohl außer Frage. Denn zum Abschluss des 27. Spieltags ist es zum nunmehr vierten Mal in der ersten Liga so weit: Das Derby steht auf dem Programm!
Im Vorfeld des Spiels gegen Union Berlin haben wir mit Hans-Martin, bekannt durch den Blog und Podcast textilvergehen, gesprochen und von ihm Einblicke in das Unioner Seelenleben während dieser so verrückten Saison bekommen.
Verkehrte Welt in Berlin
Dass Hertha und Union vor einem Aufeinandertreffen am 27. Spieltag 14 Punkte trennen, ist auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches. In der Saison 2010/2011, als sich die beiden Rivalen am 21. Spieltag in der zweiten Liga gegenüberstanden, waren es gar 20 Punkte. Allerdings waren es zu diesem Zeitpunkt erwartungsgemäß die Blau-Weißen, die von der Tabellenspitze grüßten, während Union sich im Abstiegskampf befand.
Heute haben sich die Vorzeichen gedreht. Nicht nur die Ligazugehörigkeit beider Teams hat sich geändert, sondern – zumindest, was die aktuelle Spielzeit betrifft – auch die Rangordnung. Hertha bangt dieser Tage um den Verbleib im Oberhaus. Parallel dazu hat Union das Saisonziel des Klassenerhalts faktisch schon erreicht und kann die verbleibenden acht Partien quasi als Bonus angehen.
Ein Satz, den im Vorfeld der Saison so wohl niemand erwartet hätte, wie auch Hans-Martin sagt: „Die Saison übertrifft wirklich alles, was ich zu hoffen gewagt hätte. Gerade nach dem Verlust von Sebastian Andersson hatte ich einen deutlich schwierigeren Verlauf erwartet. Aber Urs Fischer ist es einerseits gelungen, erneut viele neue Spieler einzubinden, und andererseits sozusagen unter Volllast die Spielweise der Mannschaft umzustellen und deutlich weiterzuentwickeln.“
Schwächephase vor dem Derby?
Die „umgestellte Spielweise“ ist dabei sogar fast noch beeindruckender als Unions Tabellenplatz. Während das Mittel der Wahl im letzten Jahr noch in Standards oder langen Bällen auf Andersson bestand, weiß Union nun auch aus dem Spiel heraus Chancen zu kreieren und hat sich in der Hinrunde hinter dem FC Bayern und Borussia Dortmund zum torgefährlichsten Team der Liga gemausert. Zur ganzen Wahrheit zählt aber auch, dass der Höhenflug in den zurückliegenden Spielen nicht mehr fortgesetzt werden konnte. Zu den beachtlichen 28 Zählern aus der ersten Saisonhälfte kamen bis heute nur noch zehn hinzu (zum Vergleich: Hertha holte im selben Zeitraum sieben Punkte). Auch die Torausbeute ist bei weitem nicht mehr so furchteinflößend wie noch in der Hinrunde. Acht Treffer erzielten die Eisernen seit dem 18. Spieltag und damit genauso viele wie Hertha.
Defensiv steht Union derweil weiterhin stabil, hat mit 32 kassierten Toren eine der sichersten Abwehrreihen der Liga. Der Schuh drückt aktuell also vor des Gegners Gehäuse.
Angesprochen darauf sagt Hans-Martin: „Zum einen spielt sicher die Verletzung von Max Kruse eine gewichtige Rolle. Auch wenn ich finde, dass die Mannschaft das insgesamt erstaunlich gut abgefangen hat, so ist er doch in seiner individuellen Klasse und sehr speziellen Spielweise nicht vollständig zu ersetzen. Hinzu kam eine deutlich geringere Effizienz. In der Hinrunde wurden aus 23 xG (expected goals, Anm. d. Red.) noch 32 Tore erzielt, in der bisherigen Rückrunde 8 aus 14. Kruses Fehlen ist da sicher ein Faktor, aber auch individuelle Schwankungen.“
Tatsächlich mangelt es Union neben Max Kruse an einem weiteren Akteur, der als Abschlussspieler fungieren kann. Nach der Verletzung von Awoniyi, mit fünf Treffern immerhin der zweiterfolgreichste Spieler bei den Köpenickern, versuchte es Urs Fischer zuletzt meist mit Joel Pohjanpalo als zweitem Angreifer. Getroffen hat der Finne in dieser Zeit kein einziges Mal. Dabei waren die Chancen, insbesondere am zurückliegenden Spieltag gegen Frankfurt, als man bei der 2:5-Niederlage satte 25 Torschüsse zustande brachte, zuhauf da. Doch auch hier war es wieder Max Kruse, der für die einzigen beiden Treffer sorgte. Dass es Union aber nicht gerecht würde, allein Kruse für die starke Saison verantwortlich zu machen, zeigte sich nach dessen Verletzung beim letzten Derby, in deren Folge er mehrere Wochen ausfiel und Union auch ohne sein Zutun unter anderem den BVB und Leverkusen schlug sowie Bayern und Wolfsburg einen Punkt abluchste. Dass Unions fußballerische Weiterentwicklung auch ohne den ehemaligen Nationalspieler Bestand hat, konnte man während dieser Phase sehen. Dennoch bleibt festzuhalten, dass es aktuell an einigen Stellen hakt, während der Trend bei Hertha (endlich) wieder in die andere Richtung zu zeigen scheint.
Mehr als ein kurzes Luftholen im Abstiegskampf?
Der Sieg gegen Leverkusen, noch dazu in dieser nicht für möglich gehaltenen Art und Weise, hat im blau-weißen Teil der Hauptstadt für ganz tiefes Durchatmen gesorgt. Damit hat Hertha nun aus den vergangenen drei Partien sechs Punkte geholt und mit dem Dreier gegen die Werkself auch endlich mal ein Spiel gegen ein Top-Team gewonnen. Dass es in der Mannschaft zu stimmen scheint, konnte auch schon in den Spielen davor konstatiert werden. Allein helfen in dieser so schwierigen Phase nun mal nur Punkte. Während Union also weitestgehend befreit in die Partie gehen kann, liegt der Druck ganz klar aufseiten von Hertha. Für gewöhnlich ist das nicht gerade die Stärke der Alten Dame.
Doch gegen Augsburg und Leverkusen hat das Team gezeigt, dass man ihm mit dieser Einschätzung vielleicht unrecht tut. Mit der Rückkehr von Sami Khedira und Dedryck Boyata sind in jedem Fall zwei enorm wichtige Spieler, nicht nur für den Platz, sondern auch für die Kabine, wieder fit. Gleichwohl es insbesondere bei Kapitän Boyata am Sonntag noch nicht für die Startelf reichen dürfte, sind das allemal gute Nachrichten, die Hertha im Abstiegskampf dringend gebrauchen kann.
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