Die Lust des Scheiterns

Die Lust des Scheiterns

Das Pokal-Aus in der ersten Runde ist absolut enttäuschend. Natürlich bedeutet das noch nicht den Untergang des Fußball-Abendlandes. Auch jene Forderungen nach personellen Konsequenzen – abgesehen von dringen notwendigen Transfers – kommt absolut verfrüht. Dennoch bietet das Pokalspiel am Freitag gegen Eintracht Braunschweig (4:5) eine wunderbare Gelegenheit einen Blick darauf zu werfen, warum wir den Fußball so lieben und warum wir trotz unzähligen Enttäuschungen unserer „Alten Dame“ nicht untreu werden können. Kurze Warnung: Es wird philosophisch.

Wer hat Fußball eigentlich zum König gekrönt?

Fußball ist ein Spiel, dem oft nachgesagt wird, dass wenig passiert. Tore sind im Vergleich zu Handball oder Eishockey eher selten. Schöne Spielzüge sind weniger von abschließendem Erfolg gekrönt als beim Football und neben Basketball wirkt die schönste Nebensache der Welt fast schon statisch. Trotzdem beherrscht „König Fußball“ die Welt. Gerade weil so wenig geschieht, gewinnt die einzelne Situation enorm an Bedeutung. Sie sticht heraus und geht nicht in der Gesamtheit des Spiels unter.

Photo by Friedemann Vogel/Bongarts/Getty Images

Natürlich gibt es legendäre Begegnungen. 7:1 gegen Brasilien, 0:1 gegen die DDR oder das Wunder von Bern kann man hier aus deutscher Sicht aufzählen. Aber auch in unspektakulären und unwichtigen Spielen ereignet sich Großes. Erinnert ihr euch noch daran, als Marcelinho das Ding gegen Freiburg von der Mittellinie aus vollem Lauf reingemacht hat? Oder als Alex Alves gegen Köln das gleiche direkt nach dem Anstoß vollbracht hat? Die geteilten Erzählungen über legendäre Spiele und große Momente zementieren das kollektive Gedächtnis jedes Sports und damit auch des Fußballs.

Fußball scheint das Rezept hier perfektioniert zu haben. Einerseits gelingt gerade so wenig, dass einzelne Situationen und Aktionen im Gedächtnis blieben, andererseits sind es diese singulären Momente, die ein Spiel unvergesslich machen, aber eben auch für sich stehen können. Das lässt sich natürlich auch für andere Sportarten konstatieren, aber vielleicht ist es eben genau die exakte Mischung dieser Komponenten, die dieses Spiel zum weltweiten Erfolg verholfen hat.

Wir halten also fest: Fußball lebt vom Scheitern. Im Kontrast zum Nichterfolg gewinnt der Erfolg an Bedeutung. Gleichzeitig ist sichtbarer Erfolg relativ selten. Die Betonung liegt hier auf sichtbar. Erfolg des einen Teams ist gleichzeitig Nichterfolg des Anderen und umgekehrt. Eine kluge Raumdeckung und diszipliniertes Verschieben unterbindet Anspielstationen. Das ist allerdings nicht so spektakulär wie ein Tackle kurz vom Touchdown. Außerdem besteht eine direkte Beziehung zwischen den beiden Mannschaften. Man kann den Erfolg des Gegners unmittelbar beeinflussen und verhindern. Beim Darts etwa, geht das in diesem Maße nicht.

Die Welt ist riskant

Soweit so klassisch die Überlegungen zum „schönen Spiel“. Ich hatte euch ja am Anfang dieses Texts einen philosophischen Einschlag versprochen. Hier kommt er nun. Der belgische Philosoph Mark Coeckelbergh veröffentlichte 2013 ein Buch namens „Human Being @ Risk“. Darin stellte er die These auf, dass der Mensch, sobald er in Verbindung mit seiner Umwelt tritt – also im Prinzip ab dem Moment, in dem er beginnt zu existieren- Risiken ausgesetzt und daher verwundbar sei. Das Umgehen mit diesen Risiken und der Vulnerabilität bestimmt die menschliche Natur und seine Entwicklung. Das ist eine krasse Simplifizierung dieses Buches, in dem es natürlich nicht um Fußball geht, sondern um Transhumanismus und Human Enhancement. Beides sind eng mit einander verwandte Begriffe und kurz gesagt: es geht dabei um die künstliche Erweiterung des Potential des Menschen und seiner Fähigkeiten.

Coeckelbergh’s Ansatz ist dennoch aufschlussreich und im Rahmen des kleinen intellektuellen Gedankenspiels dieses Artikels wollen wir ihn uns zu Nutze machen. Denn laut Coeckelbergh versucht der Mensch zwar die Risiken, die ihn umgeben, zu minimieren, ist dabei aber nur bedingt erfolgreich. Anstatt die resultierende Verwundbarkeit zu eliminieren, transformiert er sie lediglich. Ein Beispiel: Ein Airbag im Auto hat klar das Ziel unsere Verwundbarkeit zu reduzieren. Doch mit der Existenz dieser Technologie entsteht plötzlich ein neues Risiko: nämlich, dass sie versagt. Gleichzeitig kann uns das Wissen um den Airbag dazu verleiten mehr Risiken einzugehen, da wir uns in trügerischer Sicherheit wägen. Man muss sich das Ganze wie eine Hydra vorstellen. Schlägt man einen Verwundbarkeits-Kopf ab, wachsen zwei neue nach.

Jetzt sind Airbags natürlich eine wunderbare Erfindung und haben eine Menge Leben gerettet. Sie minimieren also tatsächlich unsere Verwundbarkeit. Das ist auch im Einklang mit dem Ansatz von Coeckelbergh. Die Verwundbarkeit wird ja nur transformiert und nicht Eins-zu-Eins ersetzt. Was man dennoch im Hinterkopf behalten sollte ist, dass solange man als Mensch mit seiner Umwelt interagiert, man Risiken ausgesetzt, ergo verwundbar ist.

Fußball als Risikogeschäft

Kehren wir jetzt zum eigentlichen Thema dieses Artikels zurück: Fußball. Wir haben ja schon erfahren, dass Scheitern hier maßgeblich dazu gehört. Gleichzeitig steht viel auf dem Spiel: Abstieg, Meisterschaft oder einfach nur die Stimmung der Fans. Auch hier zeigt sich: durch unsere Wertschätzung gegenüber unserer Mannschaft gehen wir das Risiko der Verwundbarkeit ein. Würden wir uns nicht für Hertha interessieren, könnte Hertha uns auch nicht enttäuschen. Dinge zu wertschätzen bedeutet daher immer (!) sich verwundbar zu machen. Gleichzeitig müssen wir Dinge und Personen wertschätzen, da wir soziale Wesen und allein nicht überlebensfähig sind. Mit der Welt zu interagieren, bedeutet also auch mit Anderen zu interagieren. Das bedeutet Andere wertschätzen zu müssen, was schlussendlich Verwundbarkeit bedeutet. An diesem Beispiel kann man die Argumentation Coeckelberghs gut nachvollziehen.

Fußball ist ein Massenereignis und viel schöner, wenn man es zusammen, zum Beispiel im Stadion, mit Freunden oder beim Public Viewing erlebt. Wie schon erwähnt, machen wir uns durch unser Mitfiebern verwundbar und weil im Fußball eben so wenig gelingt, geschieht das in einem besonderen Maße. Beobachtet doch mal zum Spaß, wie sich eure Stimmung im Laufe eines einzelnen Spieltags verändert. Die Vorfreude, aber vielleicht auch das schlechte Gefühl in der Magengrube, dass was schiefgehen könnte. Dann die Hymne, das Gefühl mit allen Zuschauer*innen verbunden zu sein. Der Anpfiff. Die Enttäuschung über die erste leichtfertig vertane Großchance, die aber schnell vergessen ist, wenn der Ball endlich im Netz zappelt. Ich könnte noch ewig so weiterschreiben, aber ich denke, mein Punkt ist klar: Dadurch, dass Fußball uns wichtig ist, kann alles was um ihn herum passiert uns auch in einer emotionalen Weise verletzen. Wenn wir ihn spielen, kommt sogar noch das Potential der physischen Verletzung dazu.

Durch Fußball mit der eigenen Verwundbarkeit umgehen

Wenn es also das endlose Schicksal des Menschen ist, sich mit seiner eigenen Verwundbarkeit herumschlagen zu müssen, braucht es geeignete Transformationen. Coeckelbergh nennt Spiritualität, Religion, Technologie oder auch staatliche Organisation als Beispiele dieser Umwandlungen. Ich würde an dieser Stelle argumentieren, dass man auch den Sport in diese Liste aufnehmen kann.

Foto: IMAGO

Im Wettkampf gibt es einen klar abgesteckten Rahmen, in dem man sich auf die gegenseitige Verwundbarkeit geeinigt hat. Regeln bestimmen, was erlaubt ist und was nicht. Gleichzeitig bieten soziale Skripte (prototypische Abläufe in bestimmten Situationen) Halt und Orientierung. Die eigene Verwundbarkeit wird also formalisiert und abstrahiert. In der Auseinandersetzung mit den existenziellen Risiken des Lebens haben wir uns so einen Raum geschaffen, in dem wir zwar noch verwundbar sind, aber natürlich in einer ganz anderen Art und Weise, als wir es zum Beispiel in einem Auto oder einer extrem gefährlichen Situation wären.

Fußball wird so zum Mittel um das ständige „Being-at-Risk“ zumindest für 90 Minuten zu transformieren und ertragbar zu machen. Selbst wenn der Verein für uns alles ist, wir unsere Tochter Hertha und unseren Sohn Hanne nennen: Die Qualität des Risikos einer Niederlage im Fußball ist niemals die Gleiche, wie die einen schweren Autounfall ohne Airbag zu erleben. Wir sehen hier also eine produktive Art und Weise Verwundbarkeit zu erfahren und mit ihr umzugehen.

Warum wir trotzdem gucken, obwohl es weh tut

I hurt myself today
To see if I still feel
I focus on the pain
The only thing that’s real

Mit diesen Zeilen aus dem Song „Hurt“ von Reznor, am ehesten bekannt durch das Cover von Johnny Cash, lässt sich die Erfahrung eines Spieltags aus Hertha-Sicht ziemlich treffend zusammenfassen. Zumindest in der letzten Spielzeit. Warum tun wir uns das also an? Warum werden wir nicht alle Bayern-Fans? Diese Frage lässt sich sicher aus der Perspektive vieler Vereine stellen. Warum wir Fans werden und auch bleiben, würden den Rahmen dieses Artikels endgültig sprengen. Dennoch lassen sich ein paar Schlussfolgerungen aus den vorangegangenen Gedanken ableiten.

Da wir uns unweigerlich mit unserer eigenen Verwundbarkeit auseinandersetzen müssen, suchen wir Kanäle, um das möglichst produktiv zu tun. Hier kommt der Sport ins Spiel. Fußball im speziellen, auch durch sein Dasein als globales Massenphänomen, bietet die Möglichkeit diese Verwundbarkeit im besonderen Maße auszutesten und eben auch mit extrem vielen Menschen zu teilen. Man könnte sich natürlich auch als Reitsport-Ultra versuchen, aber hier Mitstreiter*innen zu finden, ist im Vergleich zum Fußball eher schwer.

Dadurch, dass Fußball von so vielen Menschen geguckt, gespielt und geliebt wird, ist sein wahrgenommener Wert enorm groß. Dadurch steigt auch das Risiko der Verwundbarkeit. Was wir mehr wertschätzen, kann uns auch mehr wehtun.

Doch wenn sich am Samstag um 15:30 Uhr Millionen Menschen vor dem Fernseher und in den Stadien versammeln, steht zwar etwas extrem Wertvolles auf dem Spiel, aber dieser Wert ist sehr abstrakt. Wenn wir uns fragen, was uns unser eigenes Leben wert ist, haben viele eine konkrete Antwort, die auch mit dem Drang zur Selbsterhaltung zusammenhängt. Der große Wert des Fußballs hingegen ist biologisch nicht wirklich begründet. Wir würden auch weiterleben, wenn es ihn nicht gäbe. Selbst wenn es sehr schwer wäre.

Ihr seid hart, wir sind Hertha

Die Hertha bietet – und da ist sie nicht allein – die Möglichkeit ein sehr hohes Risiko einzugehen. Hertha Saisons sind immer Wundertüten. Erst spielt man um die Meisterschaft mit, nur um dann nächste Spielzeit direkt abzusteigen. Das ständige Auf und Ab ist vielleicht das, was es so schwer, aber eben auch so faszinierend macht Fan von einem Verein, wie Hertha zu sein.

Foto: IMAGO

Das Meme der erfolgsverwöhnten Bayern-Fans hingegen,  trägt leider ein gewisses Körnchen Wahrheit in sich. Doch wo Erwartungshaltung und Wirklichkeit so weit auseinanderklaffen wie in Charlottenburg, wo Erfolg und Misserfolg so nah beieinander liegen, wie zwischen zwei Spieltagen bei Hertha, da liegt eben auch das Risiko nicht nur maximal enttäuscht zu werden, sondern auch maximal erleichtert und glücklich.

Hertha nimmt die existenzielle Komponente des Fußballs und potenziert sie um ein Vielfaches. In Hertha we trust, and by Hertha we’re failed. Oder wie es die Marketing-Abteilung ausgedrückt hat: „We try. We fail. We win.”

Hertha-Fans müssen eine enorme Leidensfähigkeit mitbringen. Eine Eigenschaft für die sie, eventuell, irgendwann kathartisch belohnt werden. Das trifft natürlich auf viele Vereine gleichermaßen zu, doch die Vereinsbrille, sei mir in diesem Fall vergönnt – es ist ja immerhin ein Hertha-Blog.

Was bleibt?

Fußball bietet nicht nur die Möglichkeit Erfolg und Misserfolg hautnah und eng beieinander zu erfahren, sondern diese Erfahrung auch zu teilen. Im Sport und speziell im Fußball können wir unsere eigene Verwundbarkeit produktiv verarbeiten. Hertha treibt dieses Prinzip auf die Spitze, was Erfolge zwar seltener, aber eben auch wertvoller macht. Dadurch steigt aber eben auch das Potential der Verwundbarkeit.

Das hier formulierte Gedankenspiel ist keinesfalls als abschließende Analyse zu verstehen. Mir ist bewusst, dass man über viele Punkte trefflich streiten kann. Was ich versucht habe, ist zu zeigen, dass wir Fußball auch deshalb verfolgen, weil wir – obwohl es nur eine Nebensache ist – für 90 Minuten das Gefühl haben können, als hinge das Schicksal der Welt vom Ausgang dieses Spiels ab. Wir simulieren einen existenziellen Konflikt und können so mit der realen existenziellen Gefahr der Welt besser umgehen.

Risiko, Scheitern und Erfolg. Angst, Freude und Enttäuschung. Liebe, Hass und Verzweiflung. Das alles wird in diesem magischen Spiel unmittelbar greifbar. Vielleicht sogar mehr als in jedem anderen.

Wahrscheinlich werden wir nie wissen, warum gerade Fußball so erfolgreich ist. Wir waren ja nicht dabei, als er erfunden wurde. Was wir jedoch wissen, ist dass, obwohl sich das jüngste Ausscheiden aus dem DFB-Pokal anfühlt wie ein Schlag in die Magengrube, sich die Welt morgen auch noch dreht. Wenn zum Glück auch teilweise um den Fußball.

[Titelbild: IMAGO]

Reich und Sexy – Von der Big City zum Big-City-Club

Reich und Sexy – Von der Big City zum Big-City-Club

Von der grauen Maus zum Big-City-Club. Mit diesem vollmundigen Versprechen wurde den Hertha-Fans ein Platz an der europäischen Sonne versprochen. Doch hat die alte Dame überhaupt das Potential dazu? Das und die Frage wo man als junger Millionär am besten lebt, klären wir in diesem Artikel.

Schaut man sich den europäischen Spitzenfußball an, fällt auf, dass die Hauptstädte der jeweiligen Länder fast ausnahmslos Spitzenclubs beherbergen. Frankreich hat PSG, Italien die Roma wie zuletzt auch Lazio und Spanien mit Atlético und Real sogar zwei äußerst hochklassige Teams. Der Spitzenreiter ist allerdings London. Von den 20 Mannschaften der Premier League sind sieben in der englischen Hauptstadt oder dem direkten Umland beheimatet. Davon sind drei – Chelsea, Arsenal und Tottenham – regelmäßig in Europa und Champions League zu finden. Einzig und allein Deutschland scheint die Ausnahme dieser Regel zu sein. Während Berliner Basketball, Volleyball, Eishockey und Handball durchaus erfolgreich ist, scheint der Fußball eher mittelmäßig zu sein.

Vorteile einer Hauptstadt

Zwar sind mit Union nun zwei Berliner Teams in der höchsten deutschen Spielklasse vertreten, doch ob die Köpenicker in den nächsten Jahren Champions League spielen werden, ist erstmal zu bezweifeln. Man könnte nun darüber spekulieren, warum es Hertha bisher nicht geschafft hat den vermeintlichen Hauptstadtbonus für sich zu nutzen. Wiederholte Ab- und Aufstiege, Fankonkurrenz durch starke andere Sportarten, allgemeine Klubvielfalt in Berlin und die grundlegende finanzielle Struktur der Bundesliga könnten Gründe sein. Die viel interessantere Frage ist jedoch nicht, woran es bisher gelegen hat, sondern ob es sich ändern kann.

(Photo by Maja Hitij/Bongarts/Getty Images)

Hauptstädte besitzen kein mystisches Energiefeld, welches jeden Fußball schneller, stärker und abschlusssicherer macht. Was sie meist ausmacht, ist erstens eine lange Geschichte und zweitens eine große Anzahl an Einwohnern. Beides nutzt dem Fußball. Gibt es einen Verein sehr lange, ist die Chance höher, dass er eine gute Infrastruktur aufbauen kann und viele Fans hat. Viele Einwohner bedeuten, dass auch allgemein mehr Menschen Fußball spielen, was einerseits mehr Fans und damit Geld bringt, aber andererseits auch mehr Talente hervorbringt, die dann ausgebildet werden können. Hertha zum Beispiel profitiert enorm von dem dichten Netz von fast 400 Vereinen in der Stadt, die viele Talente in Herthas Nachwuchsbereich spülen.

Fußball hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem Milliardengeschäft entwickelt. Gehälter, Beratergebühren und Ablösesummen sind exponentiell gestiegen. Gleichzeitig entdecken viele Spieler die Bedeutung einer guten Selbstvermarktung. Ob Rückennummer-Akronyme à la CR7 (oder alternativ AE9), Urlaub auf Mykonos, patentierte Jubel, Slogans wie „Unleash the wolf“ oder sympathische Tik-Tok Auftritte: Ein gutes Image bringt nicht nur Werbedeals, sondern erhöht auch das Interesse der Vereine. Diese definieren sich über ihre Spieler und wollen auch abseits des Platzes Geld mit ihnen, etwa durch Trikots, verdienen. 

Lieber Paris als Chemnitz

Nun tritt ein weniger offensichtlicher Punkt der Vereinswahl in den Vordergrund: der Flair und die Lebensqualität der Stadt. Sind die Spieler nicht gerade mit Training, Instagram oder Spielen beschäftigt, sind sie erst einmal oftmals Millionäre in ihren 20ern. Natürlich wollen die meisten von ihnen ihre Tage nicht in der Gartenlaube bei Bitburger 0,0% und 1,99€ Nackensteaks verbringen. Sie wollen ihr Geld ausgeben und, im Falle einer dahingehenden Selbstvermarktung, müssen sie das sogar tun. Nun kann man einen Porsche in jeder Stadt der Welt fahren. Doch ist ein Loft in Madrid, Paris oder Rom sicherlich schöner als eines in Rostock oder Hull. Es sollte einen also nicht wundern, wenn neben der Aussicht auf sportlichen Erfolg und finanziellen Anreizen auch die Lebensqualität einer Stadt eine Rolle bei Transfers spielt.

In einer 2019 veröffentlichten Studie kürte die Unternehmensberatung Mercer zum wiederholten Mal die Städte mit der höchsten Lebensqualität. Wien lag auf dem ersten Platz, gefolgt von Zürich. Die erste deutsche Stadt des Rankings war München: Platz 3. Die erste französische Stadt? Paris (Platz 39 – dahinter Lyon). Spanien: Barcelona (43) und Madrid (46). Rom liegt auf Platz 56, ist aber nur die zweite italienische Stadt. Mailand ist lebenswerter und liegt hinter Lyon auf Platz 41. Was auffällt ist, dass all diese Orte topklassige Fußballvereine aufweisen: PSG, Olympique, Barca, die schon erwähnten Atlético und Real, sowie den AS Rom und Inter und AC Mailand.

(Photo credit should read OLIVIER MORIN/AFP via Getty Images)

Das ist erstmal nur eine Korrelation und keine Kausalität. Zudem ist die jüngste Erfolgsgeschichte von PSG eher den Petrodollar aus Quatar zu verdanken, als dem Café au Lait am Champs-Élysées. Aber auch hier gilt: Es ist besser ein auf Lifestyle bedachter Millionär in Paris zu sein, als einer in Chemnitz. Wichtig ist hierbei festzuhalten, dass dieser Faktor, wenn überhaupt vor allem in den letzten Jahren bedeutsam wurde. Um die Vorzüge des Millonärdaseins genießen zu können, muss man erstmal Millionen verdienen.

An dieser Stelle kommt das Potential Berlins ins Spiel. In den letzten 30 Jahren nach dem Mauerfall, hat diese Stadt sich zu einem multikulturellen Sehnsuchtsort entwickelt. Im Ranking von Mercer liegt die deutsche Hauptstadt deshalb auf Platz 13 und damit vor Paris, Madrid, Rom oder Hamburg. Berlin ist also sexy, aber die Hertha war arm. Somit konnte der Hauptstadt-Flair-Bonus nur bedingt ausgespielt werden. Er reichte jedoch um Stars wie Marcelinho und Salomon Kalou an die Spree zu locken. Legendär sind die Partynächte des ersten und wenn man in der Vergangenheit Kalous Instagram-Stories verfolgte und er nicht gerade die DFL blamierte, dann sah man ihn hier oft im Kreis seiner Freunde und Familie, die sich allesamt sehr wohl zu fühlen schienen.  

Durch Tennor nicht mehr nur sexy

Schaut man sich andere Vereine in Deutschland an, dann ist Bayern München der erfolgreichste Klub. Dank guten Marketings, besondere Fürsorge durch die CSU, dem hervorragenden Verhandlungsgeschick bei Sponsoren-Deals mit Quatar Airways und natürlich auch dem durch die vorherigen Punkte begünstigten sportlichen Erfolg ist dieser Klub nicht nur reich, sondern auch in einer sexy Stadt (Platz 3) dahoam. Borussia Dortmund ist auch erfolgreich und finanziell stark aufgestellt. Das Problem liegt allerdings in Dortmund. Auch wenn das Ruhrgebiet mal Kulturhauptstadt war und Essen das ein oder andere Weltkulturerbe aufzuweisen hat, besticht dieser Teil Deutschlands nicht unbedingt durch seine Schönheit. Im Ranking von Mercer taucht keine Stadt des Ruhrgebiets auf, was ziemlich bemerkenswert ist, liegt Bagdad hier doch auf dem letzten (231.) Platz. Vielleicht wurden diese Städte aber auch gar nicht erst untersucht.

Foto: IMAGO

Durch den Einstieg von Tennor wurde aus Hertha nun aber plötzlich ein reicher Klub in einer sexy Stadt. Das ist eine vielversprechende Mischung. Unterm Strich bedeutet das jetzt nämlich, dass Hertha nicht nur mit einem attraktiven Lebensort um Spieler werben kann, sondern auch mit einem spannenden, finanzstarken Fußballprojekt. Somit ist das unsägliche Meme des „Big-City-Clubs“ vielleicht doch nicht ganz so weit hergeholt. Windhorst ist ein Geschäftsmann, der vom Sport nach eigenen Aussagen wenig Ahnung hat. Auch wenn sich jetzt viele Vereine beschweren, an bereitwilligen Abnehmern für sein Geld hätte es ihm wohl nicht gemangelt. Er wird sich daher ganz genau überlegt haben, welcher Standort in Kombination mit welchem Verein das größte Renditepotential bietet.

Man sollte den Faktor der Lebensqualität jedoch nicht überbewerten. Die Attraktivität des Standortes kann auch in der Fußball- und Fankultur liegen. Anthony Modeste zog die Kölner-Fanliebe dem chinesischen Geld vor und die Faszination des FC Liverpool liegt bestimmt nicht in den blühenden Landschaften dieser Industriestadt.

Auf Hertha bezogen bleibt jedoch festzustellen, dass auch wenn das Flanieren auf dem Ku’Damm die Spieler nicht unbedingt schneller macht: ein Loft in Charlottenburg ist für viele junge Spieler doch schöner als ein Einfamilienhaus in Köpenick.

[Titelbild: IMAGO]

Neue Leader für die Hertha

Neue Leader für die Hertha

Nach den Abgängen von Routiniers wie Vedad Ibisevic und Per Skjelbred klafft eine Führungslücke im Kader von Hertha BSC. Welche Spieler könnten nun Verantwortung übernehmen und was macht einen Führungsspieler überhaupt aus? Eine Analyse.

Nach der fast schon vernichtenden 0:4-Testspiel-Niederlage gegen die PSV Eindhoven blieben vor allem ratlose Gesichter zurück. Schließlich sollte nach der turbulenten vorherigen Saison alles anders und endlich die europäischen Qualifikationsplätze anvisiert werden. Auch wenn Testspiele nicht auf die Goldwaage zu legen sind, identifizierte Trainer Bruno Labbadia schnell eine Baustelle im Mannschaftsgefüge: „Das Krasseste fand ich, wie ruhig wir von der ersten bis zur letzten Minute auf dem Platz waren.“ Mangelnden Kommunikation als Grund der Niederlage oder zumindest ihrer Höhe sollte ein Grund zum Nachdenken sein, denn während man ein Spielsystem schnell umstellen kann, ist das Fehlen eines Kommunikationsklimas oder eines Leaders, der dieses herstellt, etwas, was wesentlich schwieriger zu etablieren ist.

Kraft, Skjelbred, Kalou und Ibisevic hinterlassen Lücke

Unter den zahlreichen Abgängen der letzten Saison befanden sich mit Per Skjelbred, Salomon Kalou, Vedad Ibisevic und Thomas Kraft vier verdiente Hertha-Spieler, die unfassbar wichtig für diesen psychologischen Aspekt des Spiels waren.

Foto: IMAGO

Skjelbred hat sich auf dem Platz stets aufgerieben. Kalou war nicht nur auf dem Feld mit den entscheidenden Toren zur Stelle, sondern auch wenn es um seine Mitspieler ging. Legendär seine Rolex-Tor-Wette mit Duda, die der Slowake verdient für sich entscheiden konnte. Ex-Kapitän Ibisevic war, auch wenn er zuletzt immer häufiger von der Bank kam oder nicht durchspielte, ein wichtiger spielerischer und mentaler Faktor. Das ging so weit, dass er Hoffnungsträger wie Davie Selke oder Krzysztof Piatek ihrerseits auf die Bank verwies. „Vedad Ibisevic war ein Achsenspieler, der einfach führt“, so Labbadia, „und genauso war Per Skjelbred ein Anstecker.” Auch Thomas Kraft trug seinerseits zum Klassenerhalt der Hertha bei. Von Klinsmann noch den fehlenden Mehrwert bescheinigt, coachte er im Rückspiel gegen Düsseldorf seine Mannschaft fast im Alleingang zum glücklichen 3:3 Unentschieden.

Diese vier Hertha-Veteranen haben also definitiv eine Lücke im Mannschaftsgefüge hinterlassen. Das wird noch deutlicher wenn man bedenkt, dass mit Ibisevic der amtierende Kapitän die Mannschaft verlassen hat. Bruno Labbadia steht also vor der Herausforderung die Mannschaft sowohl auf als auch neben dem Platz neu zu strukturieren.

Was macht einen Leader aus?

Zahlreiche Namen für die Kapitänsnachfolge geistern bisweilen durch die Medien. Die Sache scheint nicht so klar, auch wenn man bedenkt, dass zahlreiche der kolportierten Kandidaten beim Spiel gegen Eindhoven auf dem Platz standen und dort nur bedingt überzeugen konnten. Doch was zeichnet einen erfolgreichen Leader überhaupt aus?

Das Alter kommt einem zunächst in den Sinn. Doch das Lebensalter ist nie eine kausale Variable, sondern stets als bloße Orientierungsgröße zu verstehen. In der Tat erscheint Erfahrung die wichtigere Eigenschaft zu sein. Klar hängen Alter und Spielerfahrung oft zusammen, doch auch jungen Spielern wie Joshua Kimmich, die aber bereits vergleichsweise viele Spiele absolviert haben, wird eine gewisse Führungsqualität attestiert. Vereinszugehörigkeit ist selbstverständlich auch ein wichtiger Gesichtspunkt, doch es scheint Spieler zu geben, die sich auf Anhieb eingewöhnen und Verantwortung übernehmen.

Foto: IMAGO

Dedryck Boyata ist an dieser Stelle als aktuelles Beispiel zu nennen. Die schnelle Adaptation des Belgiers zeigt, dass auch die Persönlichkeit eine entscheidende Rolle spielt. Nicht jeder Spieler ist dafür geeignet eine Führungsrolle zu übernehmen. Umgekehrt gibt es einzelne Spieler, die sobald sie auf dem Platz stehen, sofort zu den aktivsten Kommunikatoren gehören. In einem jüngst von der „Zeit“ veröffentlichen Transkript des Spiels Dortmund-Bayern fiel – neben der beeindruckenden Trivialität der Kommandos – auf, dass ein Spieler, wie Mo Dahoud, der eigentlich schon auf dem Abstellgleis geparkt war, anstandslos zu den lautesten Spielern zählte.

Ein weitere wichtiger Faktor ist natürlich die Sprache auf dem Platz. Dabei ist es nicht unbedingt nötig, fehlerfrei Schiller rezitieren zu können, doch das Selbstbewusstsein eines Spielers und die Integration in die Mannschaft dürfte mit der Beherrschung der Sprache zusammenfallen. Das stellt insbesondere ausländische Transfers vor eine Herausforderung, wenn sie nicht, wie der bereits erwähnte Boyata Natural Born Leader oder des Englischen mächtig sind.

Was braucht die Mannschaft?

Bruno Labbadia muss seine Mannschaftsaufstellung also auch nach gruppenpsychologischen Gesichtspunkten gestalten. Dabei kann es zum Beispiel hilfreich sein Spieler aufzustellen, die schon lange zusammenspielen (Torunarigha/Maier/Mittelstädt), die gleiche Sprache sprechen (Redan/Zeefuik/Dilrosun/Rekik) oder sich um die Mannschaft verdient gemacht haben (Darida/Pekarik). Hinzukommt, dass die entsprechenden Spieler auch ein gewisses Maß an Leistung bringen müssen. Das betrifft im speziellen Niklas Stark. Der schon als Nachfolger von Ibisevic gehandelte Innenverteidiger hat eine Saison zum Vergessen hinter sich und seinen Stammplatz an Boyata und Torunarigha verloren. Vielleicht ist seine neue, ihm unter Labbadia zugedachte Position des tiefen Sechsers dazu geeignet, ihn zu alter Stärke und Präsenz zurückzuführen.

Eine unter professionellen Rugby-Spielern durchgeführte Studie konnte zeigen, dass ein Mannschaftskapitän ein vielfältiges Anforderungsprofil erfüllen muss (Cotterill & Cheetham, 2016). Neben seiner Rolle auf dem Platz muss er auch gewisse soziale Fähigkeiten mitbringen und als Schnittstelle zum Trainer und seinen Vorstellungen fungieren. Labbadia, der die Mannschaft erst seit kurzem trainiert und zudem in einer schwierigen Phase übernommen hat, tut also gut daran sich mit der Auswahl seines Kapitäns Zeit zu lassen bis er die Mannschaft vollkommen kennt.

Foto: IMAGO

Dabei darf er aber nicht vergessen, dass eine Mannschaft ein komplexes Gefüge vieler Bedürfnisse ist. Eine andere Studie aus dem Jahr 2014 konnte zeigen, dass unter den circa 4.500 befragten Spielern und Coaches, der Kapitän einer Mannschaft nicht immer als Leader wahrgenommen wird (Fransen et al., 2014). Das hebt die Bedeutung der so wichtigen informellen Leader, gerne auch mal als „Kabinenspieler“ titulierten Akteure hervor. Lukas Podolski bei der WM 2014 ist hier sicher ein hervorragendes Beispiel. Ein weiteres Exemplar ist Thomas Müller, der nicht müde wurde bei der WM 2018 seine Mitspieler weiter anzutreiben, auch wenn man schon 0:2 gegen Südkorea zurücklag und das Ausscheiden so gut wie sicher war.

Besonders junge Spiele sind besonders pflegebedürftig und ruhen sich gerne mal auf ihren scheinbaren Erfolg aus. Will Hertha wirklich eine junge und entwicklungsfähige Mannschaft aufbauen, ist es umso wichtiger, dass es Spieler und Verantwortliche gibt, die einen guten Draht zu den Stars von Morgen haben und sie antreiben, ihr Potential auszuschöpfen. Hierbei ist eine unterstützende Haltung wesentlich besser geeignet als eine rüde und abweisende (Fransen et al., 2018). 

Geld allein reicht nicht

Will Hertha die hochgesteckten Ziele erreichen, reichen die Windhorst-Millionen alleine nicht aus. Sie müssen vielmehr in kluge und durchdachte Transfers investiert werden. Auf und neben dem Platz muss eine Mannschaft stehen, die die Vision des Vereins und des Trainers teilt und in der Lage ist, sich auch in schwierigen Zeiten selbst aus dem Sumpf zu ziehen. 

Dabei sind spezielle Stellen, wie die für Arne Friedrich (mittlerweile Sportdirektor) extra geschaffene Position des „Performance Managers“ sicher ein Schritt in die richtige Richtung. Die wenigen Informationen über seine Arbeitsweise deutete daraufhin, dass die Bedürfnisse und Beziehungen der Spieler durchaus ernstgenommen wurden. Alles in allem ist es der Mannschaft und den vorrangig jungen Spielern zu wünschen, dass sie in einer unterstützenden und wachstumsorientierten Umgebung Fußball spielen können. Davon profitieren nicht nur die Spieler, sondern auch der Verein, der sein Image als sicherer Hafen für junge Talente weiter ausbauen kann. Hier baut Trainer Labbadia bereits vor, indem er immer wieder betont, eine “neue Achse” aufbauen zu müssen und dass dieser Prozess ein schwieriger wie langwieriger sei. Damit moderiert der Übungsleiter eine gesunde Erwartungshaltung und Geduld.

Die neue Spielzeit verspricht wegweisend für Hertha zu werden. Millionen wurden investiert, neue spannende Spieler und Trainer geholt und Erwartungen formuliert. Es ist nun an allen Beteiligten auf und neben dem Platz den Worten und dem Geld, Taten folgen zu lassen. Erfahrene und geachtete Spieler müssen das Heft in die Hand nehmen und anleiten. Es ist dabei am Trainerteam, die Stellschrauben so zu drehen, dass das möglichst ungehindert möglich ist. Ein wichtiger Schritt dabei ist der Etablierung einer offenen und konstruktiven Kommunikation. Die geschieht möglichst nicht über Facebook-Live und Sport Bild, sondern findet vorrangig dort statt, wo sie hingehört und wo die Spiele letztendlich auch entschieden werden: auf dem Platz.

[Titelbild: IMAGO]

“Zecke” Neuendorf – Seine Arbeit bei der U23

“Zecke” Neuendorf – Seine Arbeit bei der U23

Pal Dardai, Ante Covic, Michael Hartmann – in den vergangenen Jahren haben immer wieder ehemalige Hertha-Spieler ihr Handwerk als Trainer bei Hertha BSC gelernt. So auch seit ein paar Jahren Andreas „Zecke“ Neuendorf. Wir werfen einen Blick auf seine Arbeit bei der U23 und seine Perspektive.

Als Ante Covic am 1. Juli 2019 als neuer Cheftrainer von Hertha BSC vorgestellt wurde, war das nicht nur für die Profimannschaft ein einschneidender Wechsel. Auch in der zweiten Mannschaft sollte nun nach sechs Spielzeiten unter Covic erstmals ein neuer Trainer an der Seitenlinie stehen. So übernahm Andreas Neuendorf, der zuvor die U17 trainiert hatte, das Amt des Cheftrainers der U23.

Erste Schritte als Trainer

Als Spieler absolvierte Neuendorf insgesamt rund 200 Bundesligapartien für Leverkusen und Hertha. Brilliert hat der Mittelfeldspieler jedoch nur selten. Über seine Zeit als Fußballprofi sagt er selbst: „Ich war nie der grandiose Spieler. Ich war ein ordentlicher Mitspieler“. Und tatsächlich bleiben bei einem Blick auf „Zecke“ Neuendorfs Spielerkarriere neben den sportlichen Erfolgen vor allem die Ereignisse und Geschichten abseits des Platzes im Kopf, die den Mann mit verschmitztem Grinsen und Berliner Schnauze zum Publikumsliebling machen.

Foto: IMAGO

Im Sommer 2014 startete Neuendorf dann seine Trainerkarriere und führte den damaligen Landesligisten BFC Preussen direkt im ersten Jahr überraschend zum Aufstieg. Ein Jahr später übernahm der Ex-Herthaspieler einen Trainerposten in der U15 der „Alten Dame“. Nach zwei Spielzeiten wechselte er zur U17 des Vereins und trainierte dort unter anderem die vielversprechenden Talente Marton Dardai, Omar Rekik und Lazar Samardzic. Zweimal in Folge landete er mit der U17 auf dem zweiten Tabellenplatz der B-Junioren Bundesliga. Im Sommer 2019 folgte der nächste Schritt in seiner Trainerkarriere. Er übernahm den Trainerposten bei der 2. Mannschaft von Hertha BSC und beerbte so Ante Covic. Seine erste Saison bei der U23 lief dabei auch recht erfolgreich. Insgesamt neun Spieltage stand man auf dem ersten Tabellenplatz der Regionalliga Nordost, spielte um den Aufstieg mit und schoss in 24 Spielen 59 Tore (Spitzenwert). Für den Aufstieg reichte es am Ende dennoch nicht und man landete auf einem soliden 5. Platz.

Neuendorf ist gleichzeitig auch als Karrierecoach tätig. Er soll die besten Jugendspieler auf dem Weg in die Profimannschaft fördern. Dabei kann „Zecke“ wohl auch von seinen Erfahrungen als Spieler zehren und aufzeigen, wie man es vielleicht auch nicht macht. Angesprochen auf die vier besten Spieler, mit denen Kevin-Prince Boateng jemals zusammengespielt hat, nannte der Berliner Junge überraschend auch Neuendorf. „Ohne Spaß. Er war unglaublich”, schwärmte der ehemalige Herthaner: “Es kann sich keiner vorstellen, was er im Training gezeigt hat. Er war vielleicht bei 20 Prozent. ‘Zecke’ hätte locker einer der besten deutschen Fußballer jemals werden können.” Solch Potenzial auszuschöpfen ist nun die Aufgabe des gereiften Neuendorfs, der sein Wissen an die Jugend weitergeben kann. Bereits Ante Covic sagte, dass er sich seine zu lockere Art als Spieler in der Entwicklung als Trainer ausgetrieben hatte und nun umso motivierter wäre, 100 Prozent aus sich und den Spielern herauszuholen.

U23: Zwischen Spielerentwicklung und jährlichem Umbruch

Die U23 fungiert bei Hertha BSC als eine Schnittstelle zwischen der Nachwuchsabteilung des Vereins und der Profimannschaft. Talente sollen sich hier auf höherem Niveau entwickeln können, sodass sie sich dem professionellem Männerfußball annähern. Häufig haben Jugendspieler nach ihrer Zeit bei der U19 noch Vertragszeit beim Verein und es steht noch nicht fest, ob es für den Profifußball reichen wird. Das entscheidet sich dann in häufig in der zweiten Mannschaft. Ein sehr aktuelles Beispiel hierfür ist Jessic Ngankam. Dieser überzeugte bereits während seiner Zeit in der U19, für den Sprung in die Profimannschaft war er aber noch nicht weit genug. Also sammelte er in der U23 Spielzeit und konnte sich dort weiter verbessern. Labbadia holte ihn daraufhin zur Profimannschaft, in der er nun vorerst fest eingeplant zu sein scheint.

Foto: IMAGO

Die Aufgabe des Trainers der zweiten Mannschaft ist es also Talenten Spielzeit in einer stärkeren und körperlich robusteren Liga zu geben und sie weiterzuentwickeln. Es ist Unterschied, ob ich gegen 17- bis 19-Jährige spiele, oder aber gegen die erfahrene 30-jährige Regionalliga-Kante. Dazu müssen sie ihren Stärken entsprechend bestmöglich in die Mannschaft und das System eingebunden werden. Gleichzeitig soll der sportliche Erfolg nicht ausbleiben. Unterstützt wird Neuendorf bei seiner Arbeit von den Assistenztrainern Malik Fathi, der ebenfalls als Spieler bei Hertha aktiv war, und Levent Selim.

Eine zusätzliche Herausforderung stellt dabei die hohe jährliche Fluktuation im Kader dar. In den letzten vier Jahren verließen immer mindestens zehn Spieler die Mannschaft. Die meisten davon, weil sie keine sportliche Perspektive im Verein hatten. Die entstandenen Lücken im Kader werden dann zum größten Teil mit Spielern aus der eigenen Jugend gefüllt. In diesem Sommer kamen zum Beispiel Jonas Michelbrink und Jonas Dirkner zur Mannschaft und sind direkt gesetzt. Besteht dann für bestimmte Positionen immer noch Bedarf, schaut man sich nach externen Neuzugängen um. So kam für die Saison 2020/2021 zum Beispiel Cihan Kahraman vom Berliner AK als Verstärkung für das zentrale Mittelfeld. Drei erfahrene Spieler komplettieren aktuell den Kader der zweiten Mannschaft. Tony Fuchs (Kapitän), Bilal Cubuckcu und Rico Morack sollen die jungen Spieler an die Hand nehmen und der Mannschaft mit ihrer Erfahrung weiterhelfen.

Im Kader der 2. Mannschaft gibt es also nahezu jedes Jahr einen größeren Umbruch und viele Personalwechsel. Dennoch schaffte man es in den letzten Jahren konstant in die obere Tabellenhälfte der Regionalliga Nordost. Aber auch innerhalb der Saison gibt es immer wieder Veränderungen im Kader. Häufig bekommen Spieler aus der Profimannschaft spontan Einsatzzeiten bei der U23, um im Spielrhythmus zu bleiben oder um nach einer Verletzung Spielpraxis zu sammeln. So machten Jordan Torunarigha und Alexander Esswein in der letzten Saison jeweils zwei Spiele für die Regionalligamannschaft. Genauso werden immer wieder Spieler aus der U19 für einige Spiele hochgezogen, um sich auf höherem Niveau ausprobieren zu können. Lazar Samardzic und Marton Dardai sind hier Beispiele aus der vergangenen Saison. So kommt es nur selten vor, dass in zwei aufeinanderfolgenden Spielen die gleiche Startelf auf dem Platz steht.

Variabel, mutig, offensiv

Diese Gegebenheit wirkt sich auch auf das Spielerische aus und erfordert eine hohe Flexibilität im System. Diese bringt Neuendorf mit und ließ seine Mannschaft in der Saison 2019/2020 in verschiedensten taktischen Formationen auflaufen. Man agierte zu Beginn der Saison häufig in einem System mit Dreierkette, zum Beispiel dem 3-5-2. Am häufigsten ordneten sich die Spieler über die Saison aber in einem sehr offensiven 4-4-2 an. Aber auch ein 4-2-3-1 oder ein 3-4-3 ließ der Ex-Herthaspieler spielen. Den Spielstil seiner Mannschaft bezeichnet Neuendorf als passend zu Berlin und als „frech und mutig“. Das trifft durchaus zu, denn gegen die zahlreichen etablierten Traditionsvereine in der Liga spielt man einen mutigen Offensivfußball. Man zeigt mit unter das beste Positions- und Ballbesitzspiel der Liga und ist den meisten Teams auch technisch weit überlegen. Gegen tiefstehende Gegner versucht man mit vielen Positionswechseln und Rochaden zu arbeiten. Gleichzeitig probiert man den Gegner zu locken und Lücken zu finden.

Unter Druck legt man viel Wert auf einen flachen und geordneten Spielaufbau. Selbst wenn man stark gepresst wird, versucht man sich noch spielerisch zu befreien und zeigt sich dabei recht kombinationssicher. Im späteren Spielverlauf fehlt der Mannschaft manchmal die Konzentration und Ausdauer, sodass sich hin und wieder Fehler einschleichen. Überspielt man die erste Linie geht es zumeist darum die schnellen Offensivspieler, die man mit Ngankam, Palko Dardai, Maurice Covic und Ruwen Werthmüller zur Verfügung hat/hatte, einzusetzen. Dabei sollen die Spieler immer wieder in Eins-gegen-eins-Situationen kommen, um die individuelle Überlegenheit des Kaders auszunutzen. Diese Stärken kann man auch im Umschaltspiel nach Ballgewinn immer wieder gut auf den Platz bringen.

Foto: IMAGO

Schafft man es seinen Spielstil gut auf den Platz zu bringen, zeigt die Mannschaft einen sehr attraktiven und temporeichen Offensivfußball. Neuendorf scheut sich dabei auch nicht davor viel Offensivpersonal auf den Platz zu schicken. Das birgt jedoch immer ein gewisses Risiko und so konnte man in der letzten Saison zahlreiche Torspektakel beobachten. Man schoss in der letzten Saison zum Beispiel in vier Spielen fünf oder mehr Tore. Besonders zum Ende der Saison fehlte es der Mannschaft aber an Konstanz und Balance zwischen Offensive und Defensive. Immer wieder kassierte man Tore, nachdem man sehr weit aufgerückt war. Entweder nach einem Ballverlust, bei dem das Gegenpressing nicht erfolgreich war. Oder nachdem das eigene hohe Pressing überspielt wurde.

Gegen den Ball zeigen sich die Blau-Weißen nämlich ebenfalls sehr aktiv. Neuendorf möchte mit seinem Team frühe Ballgewinne erzielen und das Gegnerteam aus der eigenen Hälfte fernhalten. Spätestens ab der Mittellinie wird der Gegner unter Druck gesetzt und situativ wird hoch gepresst. Das auch meist sehr erfolgreich. Hin und wieder ist man jedoch gezwungen etwas tiefer zu stehen. Dort gelingt es der Mannschaft nicht immer Zugriff auf die Gegenspieler zu erhalten und ist etwas anfälliger.

Wie genau sich die Mannschaft taktisch ausrichtet, hängt stark von dem Personal ab, das auf dem Platz steht und natürlich auch vom Gegner. Zumeist wird aber ein sehr aktiver Ansatz gewählt. Neuendorf schafft es sehr gut seine Spieler sowohl zu fordern, als auch in Situationen zu bringen, die ihnen besonders gut liegen. So kann man seine Arbeit bisher positiv bewerten. Sportlich zeigt er sich mit seinen Teams stets erfolgreich und schaffte es auch Spieler weiterzuentwickeln und an den Profibereich heranzuführen. Dafür sprechen auch die zahlreichen Spieler, die zwar nicht bei der Hertha den Weg in Profibereich gefunden haben, sondern an anderer Stelle. Die aktuellsten Beispiele hierfür sind Dennis Smarsch (Wechsel zu St. Pauli), Luis Klatte (Wechsel zu Hansa Rostock) und Niko Bretschneider (Wechsel zum MSV Duisburg), die allesamt in der letzten Saison Spiele für die zweite Mannschaft gemacht haben.

Zu Beginn der neuen Saison gelang es nur teilweise seine Offensivstärke auf den Platz zu bringen. Dennoch zeigt man sich erneut recht erfolgreich und geht mit zwei Siegen und einem Unentschieden aus den ersten drei Spielen. Und das obwohl man sich laut Neuendorf eigentlich noch in der Vorbereitung befindet.

Pal Dardai, Ante Covic und bald „Zecke“ Neuendorf?

Der Karriereweg eines Trainers lässt sich in der Regel kaum voraussagen. Aktuell arbeitet Neuendorf an seinem Schein zum Fußballlehrer und hospitierte dafür unter anderem bei Bruno Labbadia in der ersten Mannschaft. Mit dieser Lizenz dürfte der ehemalige Herthaspieler dann auch eine Profimannschaften trainieren. Die Saison 2020/2021 wird Neuendorf definitiv auf der Trainerbank der zweiten Mannschaft verbringen. Aktuell ist davon auszugehen, dass er diese Position auch noch eine Weile bekleiden wird. Wo es Neuendorf langfristig hinführt, lässt sich schwer sagen. „Ich kann mir vorstellen, dass ich irgendwann bei einem Bundesligisten im Trainerteam bin“, sagte er vor zwei Jahren der „11 Freunde“. Ob das als Chef- oder Co-Trainer sein wird und bei Hertha oder bei einem anderen Verein, wird sich zeigen.

Neuendorf scheint jedoch fest in Berlin und bei Hertha BSC verankert zu sein. So unterstützte er zuletzt die Fan-Initiative „Aktion Herthakneipe“ und bezeichnet sich selbst als Herthafan. Gleichzeitig ist er bei den Fans des Hauptstadtklubs sehr beliebt und wird häufig als „echtes Original“ oder „richtiger Berliner“ gefeiert. Umso schöner wäre es, wenn er dem Verein möglichst lange erhalten bleibt.

Der direkte Sprung zum Cheftrainer von Hertha BSC wird Neuendorf, anders als einem Dardai oder Covic, in den nächsten Jahren wohl verwehrt bleiben. Nachdem sich Covic zuletzt als Fehlgriff herausstellte und die Ansprüche in Berlin seit dem Windhorst-Engagement stark gestiegen sind, wirkt eine interne Lösung für den Cheftrainerposten in Zukunft eher unrealistisch. Zudem hat Bruno Labbadia noch mindestens zwei Jahre Vertrag bei der Hertha. Neuendorfs nächste Station wird also vermutlich entweder bei einem anderen Verein liegen oder er wird eine Alternativposition zum Cheftraineramt bei Hertha übernehmen.

[Titelbild: IMAGO]