Die Lust des Scheiterns

Die Lust des Scheiterns

Das Pokal-Aus in der ersten Runde ist absolut enttäuschend. Natürlich bedeutet das noch nicht den Untergang des Fußball-Abendlandes. Auch jene Forderungen nach personellen Konsequenzen – abgesehen von dringen notwendigen Transfers – kommt absolut verfrüht. Dennoch bietet das Pokalspiel am Freitag gegen Eintracht Braunschweig (4:5) eine wunderbare Gelegenheit einen Blick darauf zu werfen, warum wir den Fußball so lieben und warum wir trotz unzähligen Enttäuschungen unserer „Alten Dame“ nicht untreu werden können. Kurze Warnung: Es wird philosophisch.

Wer hat Fußball eigentlich zum König gekrönt?

Fußball ist ein Spiel, dem oft nachgesagt wird, dass wenig passiert. Tore sind im Vergleich zu Handball oder Eishockey eher selten. Schöne Spielzüge sind weniger von abschließendem Erfolg gekrönt als beim Football und neben Basketball wirkt die schönste Nebensache der Welt fast schon statisch. Trotzdem beherrscht „König Fußball“ die Welt. Gerade weil so wenig geschieht, gewinnt die einzelne Situation enorm an Bedeutung. Sie sticht heraus und geht nicht in der Gesamtheit des Spiels unter.

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Natürlich gibt es legendäre Begegnungen. 7:1 gegen Brasilien, 0:1 gegen die DDR oder das Wunder von Bern kann man hier aus deutscher Sicht aufzählen. Aber auch in unspektakulären und unwichtigen Spielen ereignet sich Großes. Erinnert ihr euch noch daran, als Marcelinho das Ding gegen Freiburg von der Mittellinie aus vollem Lauf reingemacht hat? Oder als Alex Alves gegen Köln das gleiche direkt nach dem Anstoß vollbracht hat? Die geteilten Erzählungen über legendäre Spiele und große Momente zementieren das kollektive Gedächtnis jedes Sports und damit auch des Fußballs.

Fußball scheint das Rezept hier perfektioniert zu haben. Einerseits gelingt gerade so wenig, dass einzelne Situationen und Aktionen im Gedächtnis blieben, andererseits sind es diese singulären Momente, die ein Spiel unvergesslich machen, aber eben auch für sich stehen können. Das lässt sich natürlich auch für andere Sportarten konstatieren, aber vielleicht ist es eben genau die exakte Mischung dieser Komponenten, die dieses Spiel zum weltweiten Erfolg verholfen hat.

Wir halten also fest: Fußball lebt vom Scheitern. Im Kontrast zum Nichterfolg gewinnt der Erfolg an Bedeutung. Gleichzeitig ist sichtbarer Erfolg relativ selten. Die Betonung liegt hier auf sichtbar. Erfolg des einen Teams ist gleichzeitig Nichterfolg des Anderen und umgekehrt. Eine kluge Raumdeckung und diszipliniertes Verschieben unterbindet Anspielstationen. Das ist allerdings nicht so spektakulär wie ein Tackle kurz vom Touchdown. Außerdem besteht eine direkte Beziehung zwischen den beiden Mannschaften. Man kann den Erfolg des Gegners unmittelbar beeinflussen und verhindern. Beim Darts etwa, geht das in diesem Maße nicht.

Die Welt ist riskant

Soweit so klassisch die Überlegungen zum „schönen Spiel“. Ich hatte euch ja am Anfang dieses Texts einen philosophischen Einschlag versprochen. Hier kommt er nun. Der belgische Philosoph Mark Coeckelbergh veröffentlichte 2013 ein Buch namens „Human Being @ Risk“. Darin stellte er die These auf, dass der Mensch, sobald er in Verbindung mit seiner Umwelt tritt – also im Prinzip ab dem Moment, in dem er beginnt zu existieren- Risiken ausgesetzt und daher verwundbar sei. Das Umgehen mit diesen Risiken und der Vulnerabilität bestimmt die menschliche Natur und seine Entwicklung. Das ist eine krasse Simplifizierung dieses Buches, in dem es natürlich nicht um Fußball geht, sondern um Transhumanismus und Human Enhancement. Beides sind eng mit einander verwandte Begriffe und kurz gesagt: es geht dabei um die künstliche Erweiterung des Potential des Menschen und seiner Fähigkeiten.

Coeckelbergh’s Ansatz ist dennoch aufschlussreich und im Rahmen des kleinen intellektuellen Gedankenspiels dieses Artikels wollen wir ihn uns zu Nutze machen. Denn laut Coeckelbergh versucht der Mensch zwar die Risiken, die ihn umgeben, zu minimieren, ist dabei aber nur bedingt erfolgreich. Anstatt die resultierende Verwundbarkeit zu eliminieren, transformiert er sie lediglich. Ein Beispiel: Ein Airbag im Auto hat klar das Ziel unsere Verwundbarkeit zu reduzieren. Doch mit der Existenz dieser Technologie entsteht plötzlich ein neues Risiko: nämlich, dass sie versagt. Gleichzeitig kann uns das Wissen um den Airbag dazu verleiten mehr Risiken einzugehen, da wir uns in trügerischer Sicherheit wägen. Man muss sich das Ganze wie eine Hydra vorstellen. Schlägt man einen Verwundbarkeits-Kopf ab, wachsen zwei neue nach.

Jetzt sind Airbags natürlich eine wunderbare Erfindung und haben eine Menge Leben gerettet. Sie minimieren also tatsächlich unsere Verwundbarkeit. Das ist auch im Einklang mit dem Ansatz von Coeckelbergh. Die Verwundbarkeit wird ja nur transformiert und nicht Eins-zu-Eins ersetzt. Was man dennoch im Hinterkopf behalten sollte ist, dass solange man als Mensch mit seiner Umwelt interagiert, man Risiken ausgesetzt, ergo verwundbar ist.

Fußball als Risikogeschäft

Kehren wir jetzt zum eigentlichen Thema dieses Artikels zurück: Fußball. Wir haben ja schon erfahren, dass Scheitern hier maßgeblich dazu gehört. Gleichzeitig steht viel auf dem Spiel: Abstieg, Meisterschaft oder einfach nur die Stimmung der Fans. Auch hier zeigt sich: durch unsere Wertschätzung gegenüber unserer Mannschaft gehen wir das Risiko der Verwundbarkeit ein. Würden wir uns nicht für Hertha interessieren, könnte Hertha uns auch nicht enttäuschen. Dinge zu wertschätzen bedeutet daher immer (!) sich verwundbar zu machen. Gleichzeitig müssen wir Dinge und Personen wertschätzen, da wir soziale Wesen und allein nicht überlebensfähig sind. Mit der Welt zu interagieren, bedeutet also auch mit Anderen zu interagieren. Das bedeutet Andere wertschätzen zu müssen, was schlussendlich Verwundbarkeit bedeutet. An diesem Beispiel kann man die Argumentation Coeckelberghs gut nachvollziehen.

Fußball ist ein Massenereignis und viel schöner, wenn man es zusammen, zum Beispiel im Stadion, mit Freunden oder beim Public Viewing erlebt. Wie schon erwähnt, machen wir uns durch unser Mitfiebern verwundbar und weil im Fußball eben so wenig gelingt, geschieht das in einem besonderen Maße. Beobachtet doch mal zum Spaß, wie sich eure Stimmung im Laufe eines einzelnen Spieltags verändert. Die Vorfreude, aber vielleicht auch das schlechte Gefühl in der Magengrube, dass was schiefgehen könnte. Dann die Hymne, das Gefühl mit allen Zuschauer*innen verbunden zu sein. Der Anpfiff. Die Enttäuschung über die erste leichtfertig vertane Großchance, die aber schnell vergessen ist, wenn der Ball endlich im Netz zappelt. Ich könnte noch ewig so weiterschreiben, aber ich denke, mein Punkt ist klar: Dadurch, dass Fußball uns wichtig ist, kann alles was um ihn herum passiert uns auch in einer emotionalen Weise verletzen. Wenn wir ihn spielen, kommt sogar noch das Potential der physischen Verletzung dazu.

Durch Fußball mit der eigenen Verwundbarkeit umgehen

Wenn es also das endlose Schicksal des Menschen ist, sich mit seiner eigenen Verwundbarkeit herumschlagen zu müssen, braucht es geeignete Transformationen. Coeckelbergh nennt Spiritualität, Religion, Technologie oder auch staatliche Organisation als Beispiele dieser Umwandlungen. Ich würde an dieser Stelle argumentieren, dass man auch den Sport in diese Liste aufnehmen kann.

Foto: IMAGO

Im Wettkampf gibt es einen klar abgesteckten Rahmen, in dem man sich auf die gegenseitige Verwundbarkeit geeinigt hat. Regeln bestimmen, was erlaubt ist und was nicht. Gleichzeitig bieten soziale Skripte (prototypische Abläufe in bestimmten Situationen) Halt und Orientierung. Die eigene Verwundbarkeit wird also formalisiert und abstrahiert. In der Auseinandersetzung mit den existenziellen Risiken des Lebens haben wir uns so einen Raum geschaffen, in dem wir zwar noch verwundbar sind, aber natürlich in einer ganz anderen Art und Weise, als wir es zum Beispiel in einem Auto oder einer extrem gefährlichen Situation wären.

Fußball wird so zum Mittel um das ständige „Being-at-Risk“ zumindest für 90 Minuten zu transformieren und ertragbar zu machen. Selbst wenn der Verein für uns alles ist, wir unsere Tochter Hertha und unseren Sohn Hanne nennen: Die Qualität des Risikos einer Niederlage im Fußball ist niemals die Gleiche, wie die einen schweren Autounfall ohne Airbag zu erleben. Wir sehen hier also eine produktive Art und Weise Verwundbarkeit zu erfahren und mit ihr umzugehen.

Warum wir trotzdem gucken, obwohl es weh tut

I hurt myself today
To see if I still feel
I focus on the pain
The only thing that’s real

Mit diesen Zeilen aus dem Song „Hurt“ von Reznor, am ehesten bekannt durch das Cover von Johnny Cash, lässt sich die Erfahrung eines Spieltags aus Hertha-Sicht ziemlich treffend zusammenfassen. Zumindest in der letzten Spielzeit. Warum tun wir uns das also an? Warum werden wir nicht alle Bayern-Fans? Diese Frage lässt sich sicher aus der Perspektive vieler Vereine stellen. Warum wir Fans werden und auch bleiben, würden den Rahmen dieses Artikels endgültig sprengen. Dennoch lassen sich ein paar Schlussfolgerungen aus den vorangegangenen Gedanken ableiten.

Da wir uns unweigerlich mit unserer eigenen Verwundbarkeit auseinandersetzen müssen, suchen wir Kanäle, um das möglichst produktiv zu tun. Hier kommt der Sport ins Spiel. Fußball im speziellen, auch durch sein Dasein als globales Massenphänomen, bietet die Möglichkeit diese Verwundbarkeit im besonderen Maße auszutesten und eben auch mit extrem vielen Menschen zu teilen. Man könnte sich natürlich auch als Reitsport-Ultra versuchen, aber hier Mitstreiter*innen zu finden, ist im Vergleich zum Fußball eher schwer.

Dadurch, dass Fußball von so vielen Menschen geguckt, gespielt und geliebt wird, ist sein wahrgenommener Wert enorm groß. Dadurch steigt auch das Risiko der Verwundbarkeit. Was wir mehr wertschätzen, kann uns auch mehr wehtun.

Doch wenn sich am Samstag um 15:30 Uhr Millionen Menschen vor dem Fernseher und in den Stadien versammeln, steht zwar etwas extrem Wertvolles auf dem Spiel, aber dieser Wert ist sehr abstrakt. Wenn wir uns fragen, was uns unser eigenes Leben wert ist, haben viele eine konkrete Antwort, die auch mit dem Drang zur Selbsterhaltung zusammenhängt. Der große Wert des Fußballs hingegen ist biologisch nicht wirklich begründet. Wir würden auch weiterleben, wenn es ihn nicht gäbe. Selbst wenn es sehr schwer wäre.

Ihr seid hart, wir sind Hertha

Die Hertha bietet – und da ist sie nicht allein – die Möglichkeit ein sehr hohes Risiko einzugehen. Hertha Saisons sind immer Wundertüten. Erst spielt man um die Meisterschaft mit, nur um dann nächste Spielzeit direkt abzusteigen. Das ständige Auf und Ab ist vielleicht das, was es so schwer, aber eben auch so faszinierend macht Fan von einem Verein, wie Hertha zu sein.

Foto: IMAGO

Das Meme der erfolgsverwöhnten Bayern-Fans hingegen,  trägt leider ein gewisses Körnchen Wahrheit in sich. Doch wo Erwartungshaltung und Wirklichkeit so weit auseinanderklaffen wie in Charlottenburg, wo Erfolg und Misserfolg so nah beieinander liegen, wie zwischen zwei Spieltagen bei Hertha, da liegt eben auch das Risiko nicht nur maximal enttäuscht zu werden, sondern auch maximal erleichtert und glücklich.

Hertha nimmt die existenzielle Komponente des Fußballs und potenziert sie um ein Vielfaches. In Hertha we trust, and by Hertha we’re failed. Oder wie es die Marketing-Abteilung ausgedrückt hat: „We try. We fail. We win.”

Hertha-Fans müssen eine enorme Leidensfähigkeit mitbringen. Eine Eigenschaft für die sie, eventuell, irgendwann kathartisch belohnt werden. Das trifft natürlich auf viele Vereine gleichermaßen zu, doch die Vereinsbrille, sei mir in diesem Fall vergönnt – es ist ja immerhin ein Hertha-Blog.

Was bleibt?

Fußball bietet nicht nur die Möglichkeit Erfolg und Misserfolg hautnah und eng beieinander zu erfahren, sondern diese Erfahrung auch zu teilen. Im Sport und speziell im Fußball können wir unsere eigene Verwundbarkeit produktiv verarbeiten. Hertha treibt dieses Prinzip auf die Spitze, was Erfolge zwar seltener, aber eben auch wertvoller macht. Dadurch steigt aber eben auch das Potential der Verwundbarkeit.

Das hier formulierte Gedankenspiel ist keinesfalls als abschließende Analyse zu verstehen. Mir ist bewusst, dass man über viele Punkte trefflich streiten kann. Was ich versucht habe, ist zu zeigen, dass wir Fußball auch deshalb verfolgen, weil wir – obwohl es nur eine Nebensache ist – für 90 Minuten das Gefühl haben können, als hinge das Schicksal der Welt vom Ausgang dieses Spiels ab. Wir simulieren einen existenziellen Konflikt und können so mit der realen existenziellen Gefahr der Welt besser umgehen.

Risiko, Scheitern und Erfolg. Angst, Freude und Enttäuschung. Liebe, Hass und Verzweiflung. Das alles wird in diesem magischen Spiel unmittelbar greifbar. Vielleicht sogar mehr als in jedem anderen.

Wahrscheinlich werden wir nie wissen, warum gerade Fußball so erfolgreich ist. Wir waren ja nicht dabei, als er erfunden wurde. Was wir jedoch wissen, ist dass, obwohl sich das jüngste Ausscheiden aus dem DFB-Pokal anfühlt wie ein Schlag in die Magengrube, sich die Welt morgen auch noch dreht. Wenn zum Glück auch teilweise um den Fußball.

[Titelbild: IMAGO]

Ein Abend, der bleibt

Ein Abend, der bleibt

Das emotionale Weiterkommen im DFB-Pokal gegen Dynamo Dresden kann dem Verein einen unschätzbaren Auftrieb geben. Und auch wenn nicht, wird dieser intensive Abend in den Gedächtnissen bleiben. Ein Kommentar.

Wenn wir uns auf diesem Blog nach Spielen melden, dann meist mit einer Einzelkritik. Dazu werden Statistiken gebolzt, individuelle und mannschaftstaktische Aspekte analysiert und versucht, in den Kontext des Spiels einzubinden. Doch nicht nach diesem Mittwochabend, nicht nach solch einem unfassbaren Stück Fußball.

Foto: Maja Hitij/Bongarts/Getty Images

So könnte man sicherlich kritisch hinterfragen, warum es Hertha mit 63% Ballbesitz, 55% gewonnen Zweikämpfen und 28 zu 13 Schüssen (zwölf zu drei aufs Tor) nicht geschafft hat, den Tabellenvorletzten der zweiten Liga zu Hause souverän zu schlagen und wieso es stattdessen drei Gegentore, zwei Rückstände, 120 Minuten und ein Elfmeterschießen gebraucht hat, um die Sachsen niederzuringen. Auch könnten Einzelaktionen wie Starks Einsteigen vor dem Elfmeter zum 2:2 oder Krafts misslungenem Abwehrversuch des Tores zum 2:3 nun zerpflückt werden. Dass Hertha am Mittwochabend nicht alles richtig gemacht und es einmal mehr an der miesen Chancenverwertung und mangelhaften Abwehrarbeit gekrankt hat, ist wohl unstrittig.

So hat sich die Partie im ersten Durchgang wie eine Kopie des letzten Ligaspiels gegen Hoffenheim angefühlt, in welchem sich Hertha ebenfalls nicht für eine starke Anfangsphase mit Toren belohnt und anschließend den Faden verloren hatte. Ruhephasen wären grundsätzlich in Ordnung, würden sie, wie aktuell bei den Blau-Weißen, nicht mit Sicherheit in Gegentoren münden. So auch gegen Dresden geschehen.

Ein neues Selbstbewusstsein

Doch ein Fußballspiel ist manchmal auch einfach nur das, was man daraus nach dem Schlusspfiff macht. Und so dient dieser Kommentar nicht dazu, einmal mehr auf den offensichtlichen Defiziten der Mannschaft herumzuhacken, sondern dazu, die positiven Eigenschaften von Spielern und Trainer ins Flutlicht zu rücken. Oder um es ruppig zu formulieren: nach so einem Fußballfest ist es doch scheißegal, was genau weshalb nicht gepasst hat. Dinge können auch tot-analysiert werden, doch auch für einen Taktikliebhaber wie mir, der oft zur nüchternden Bewertung greift und Sachverhalte faktisch aufarbeiten will, fühlt sich das in dem Kontext dieser Pokalnacht unangebracht an.

Foto: Maja Hitij/Bongarts/Getty Images

Nein, lasst uns das Positive herausarbeiten, und das ist mit dem Wort “Mut” wohl durchaus passend getroffen. Das hatte bereits mit der Aufstellung begonnen, mit der Ante Covic eine klare Richtung vorgegeben hatte. Mit Dilrosun, Lukebakio, Kalou, Duda, Darida und Wolf hatte Herthas Trainer nahezu alles aufs Feld gestellt, das als “technisch beschlagen” eingestuft werden kann. Covic wollte gegen Dresden Fußball spielen lassen, die individuelle Überlegenheit seiner Mannschaft selbstbewusst präsentieren. Während ein Pal Dardai vor solch einem Spiel noch einen Abnutzungskampf ausgerufen und dem Gegner dann dadurch den Zahn gezogen hätte, dass man eben noch mehr kratzt und beißt, will Nachfolger Covic ganz bewusst das Spielerische in den Fokus rücken und einen individuell schwächeren Gegner lieber dominieren, als sich auf sein Niveau “herunterzulassen”.

Das ist eine erkennbare Entwicklung in der Haltung des Vereins. In den letzten Jahren ein Verfechter des Understatements, präsentiert sich Hertha nun mit breiter Brust. Wenn man Waffen wie Duda und co. hat, wieso diese dann nicht auch benutzen? Hört sich selbstverständlich an, wurde in den vergangenen Jahren jedoch deutlich konservativer gehandhabt.

Blau-weißes Herz

Diese neue Mentalität, die wir bereits Mitte Oktober unter die Lupe genommen haben, hatte sich auch im Spiel gezeigt. “Das war ein unglaubliches Spiel. Ich denke, dass wir die Fans nicht nur verwöhnt haben, aber am Ende sind wir weitergekommen – das zählt. Wir haben nach den Rückschlägen weiter an uns geglaubt und uns immer wieder Torchancen erspielt”, sagte Marko Grujic nach dem Spiel. Und tatsächlich war es beeindruckend zu sehen, wie die Mannschaft trotz des so bescheidenen Spielverlaufs immer wieder zurückkam und sich nicht von der Hoffnung verabschiedete, den Platz noch als Sieger zu verlassen.

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“Wir wissen, was wir nach Rückstand tun müssen, um ein Spiel noch umzubiegen. Auch nach dem 2:3 haben wir den Glauben nicht verloren. Ich bin unheimlich stolz auf die Truppe, auch wenn die Art und Weise des Weiterkommens nicht gut für die Nerven war”, erklärte Covic. Acht Rückstände in elf Pflichtspielen sind zwar eine miserable Bilanz, sorgen in solchen Momenten wohl allerdings für eine gewisse Ruhe. Und so spielte Hertha trotz fortlaufender Rückschläge weiter Fußball, lief unermüdlich an, ließ nie den Kopf hängen – es sollte sich lohnen.

Es war schlichtweg imponierend, welch großes blau-weißes Herz die Mannschaft am Mittwochabend zeigte, mit welch unbedingtem Kampfes- und Siegeswillen sie die widrigen Umstände der Partie einfach nicht akzeptieren wollte. Sinnbildlich dafür stand Jordan Torunarigha, der nach einem Zweikampf aufgrund von Schmerzen zwischendurch kaum noch laufen konnte, jedoch auf dem Platz blieb und den Ball in der 120. Minute zum 3:3 in die Maschen drosch. Es hätte an diesem Abend genügend Gelegenheiten gegeben, den Kopf in den Sand zu stecken, doch anders als in den vergangenen Jahren kapitulierte man nicht. “Es ist nämlich ein immer wiederkehrendes Charakteristikum dieser Mannschaft, sich großen Widerständen gegenüber zu ergeben, anstatt gegen sie anzukämpfen”, schrieb ich im noch im November 2018 – davon war am Mittwoch nichts mehr zu sehen. Stattdessen hat man eine Mannschaft gesehen, die alles für den Sieg geopfert, nie den Glauben verloren und es einfach erzwungen hat.

Ein Sieg, sie alle zu tragen

Und so steht Hertha BSC im Achtelfinale des DFB-Pokals, nachdem man sich gegen einen Zweitligisten durchgesetzt hat. Ganz nüchtern betrachtet klingt dies nach keinem Grund, frenetisch zu jubeln, doch ist dieses Weiterkommen potenziell so viel mehr wert.

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Zum einen, weil Hertha es endlich einmal geschafft hat, den großen Rahmen eines Spiels mit fußballerischem Leben zu füllen und der allgemeinen Wahrnehmung als “graue Maus” nun wirklich nicht gerecht zu werden. Olympiastadion, 70.000 Zuschauer (darunter 35.000 Dresdner, die der Partie eine noch dichtere Atmosphäre schenkten), Flutlicht, K.O.-Spiel – alles stand für einen großen Abend bereit. Und Hertha wusste diese Rahmenbedingungen zu nutzen, indem es einen der spektakulärsten Pokalspiel der letzten Jahre ablieferte. “Die Kulisse war der Wahnsinn – ich glaube, ich habe noch nie vor so vielen Fans gespielt. Das gibt einem unglaublich viel Motivation”, zeigte sich Dodi Lukebakio begeistert.

Es gibt so Spiele, die bleiben einfach in Erinnerung. Diese “Weißt du noch damals, als …?”-Spiele. Hertha produzierte in den vergangenen Jahren nicht allzu viele von diesen Erinnerungen, zumindest nicht in positiver Hinsicht. Doch Partien wie die am Mittwochabend bleiben. Sie werden zu Geschichten, zu Legenden, zu Gründen, die man aufzählt, warum man Anhänger dieses Vereins ist. Fußball ist Theater, Fußball ist Storytelling, und Hertha hat mit dem 8:7 n.E. gegen Dynamo Dresden ein dramaturgisches Meisterwerk auf die Bühne gebracht. Das soll keine unkritische Schönmalerei sein, Hertha hätte das Spiel auch souveräner hinter sich bringen oder sogar verlieren können, doch ein Fußballspiel ist manchmal eben auch einfach nur das, was man nach dem Schlusspfiff daraus macht. Und in Jahren wird man sich nicht an die zahlreichen liegengelassenen Torchancen oder Krafts Patzer erinnern, sondern an Torunarighas Last-Minute-Tor, den Elfmeterkiller und wie laut das Olympiastadion denn tatsächlich werden konnte. Diese Erinnerungen bleiben, alles andere verblasst.

Erfolgreiche Generalprobe fürs Derby

Ein anderer Aspekt ist das bevorstehende Spiel für die “alte Dame”. Das lang ersehnte und medial bereits aufgebauschte Stadtderby mit Union Berlin wirft bereits seit einigen Tagen seinen Schatten voraus und drohte den Fokus aufs Pokalspiel sogar leicht zu verrücken. Doch anstatt sich von der Partie in Köpenick verrückt machen zu lassen, nutzte Hertha die Begegnung mit Dresden dazu, sich für eben jenes Derby einzustimmen.

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Denn das Pokalspiel konnte durchaus als Generalprobe für den kommenden Samstag angesehen werden: ein individuell schwächerer Gegner, der vor allem über die Leidenschaft ins Spiel findet und von seinen lautstarken Fans angepeitscht wird – das trifft sowohl auf Dresden, als auch auf die “Eisernen” zu. Ich will ganz ehrlich sein, ich hatte meine Zweifel, ob Hertha im Derby an das vermeintliche Feuer der Unioner herankommen wird. Rennen sich ein Dilrosun oder Duda genauso die Seele aus dem Leib wie ein Parensen oder Polter? Gibt Hertha ebenso 110%? Ich bin mir nicht sicher gewesen und da das Derby vermutlich durch Attribute wie Kampf, Wille und Hingabe entschieden wird, sehe ich diese Fragen als entscheidend an.

Am Mittwoch hat mir das Team allerdings eindrucksvoll bewiesen, dass sie diese Attribute auch am Samstag auf den Platz bringen und Union keinen Meter schenken wird. “Das gibt uns so viel, vor allem im Hinblick auf das Derby. Wir haben das Spiel gewonnen, sind im Pokal weiter dabei und freuen uns jetzt auf Union. Das wird ein geiles Spiel, in dem wir Derby-Mentalität zeigen müssen”, sagte Davie Selke nach dem Pokal-Weiterkommen. Diese “Derby-Mentalität” haben die Jungs in blau-weiß auf ganzer Linie bewiesen und somit äußerst gute Voraussetzungen für das Spiel in der Alten Försterei geschaffen. “In zwei Tagen werden wir wieder so fit sein, dass wir bei Union alles geben können, so ein Sieg kann auch beflügeln. Auf das Derby ist jeder heiß. Solche Spiele kitzeln aus einem nochmal ein paar Prozente raus”, so Marius Wolf. Ich habe ebenfalls nicht die Sorge, dass Hertha aufgrund der 120 Minuten in den Beinen zwangsläufig einen spürbaren Nachteil haben muss – stattdessen hoffe ich, dass der Eintracht-Frankfurt-Effekt einsetzt. Bei den Hessen sind seit längerer Zeit trotz immens vieler Spiele kaum Ermüdungserscheinungen zu erkennen, da die Europa-Nächte sie eher beflügeln als belasten. Diesen Antrieb erhoffe ich mir von dem Sieg über Dresden, sodass auch der Abend gegen Union einer ist, der bleibt.