Endlich wieder Europa – Ein Kommentar

Ich war zarte neun Jahre alt, als ich das erste Mal die Schattenseiten des Fandaseins zu spüren bekam. Die Saison 2004/2005 war die erste, in der ich meine Mutter überreden konnte, regelmäßig mit mir ins Stadion zu gehen.  Es war der Höhepunkt der Schaffenszeit des einzigartigen Marcelinho. Der wohl beste Spieler, der je in blau-weiß aufgelaufen ist, spielte in diesem Jahr phasenweise die Sterne vom Himmel. Noch immer allgegenwärtig ist sein Tor gegen den SC Freiburg, als er den späteren Torwarttrainer Richard Golz von der Mittellinie überlupfte. Auch Auftritte wie das 4:1 gegen Schalke oder das 6:0 gegen Gladbach prägten meine erste komplette Saison als Stadionbesucher.
Am letzten Spieltag jener Saison hatte Hertha die Chance, dem Ganzen die Krone aufzusetzen. Das Team von Falko Götz ging als Tabellenvierter in den letzten Spieltag, mit einem Zähler Rückstand auf den Drittplatzierten VfB Stuttgart. Da dieser jedoch gegen den Meister aus München antreten musste, war davon auszugehen, dass ein Sieg beim Heimspiel gegen Hannover genügen würde, um sich an den Schwaben vorbeizuschieben und damit für die Champions League-Qualifikation zugelassen zu werden. Das Ende vom Lied ist wohl jedem bekannt. Die Bayern erledigten ihre Hausaufgaben, Hertha jedoch mitnichten. Bastürk, Gilberto und Co. wirkten durch die riesige Chance, etwas Großes zu erreichen, schlichtweg gehemmt und vermochten es nicht, die Kugel über die Linie zu drücken. Für mich brach damals eine Welt zusammen. Nach Abpfiff weinte ich mich in den Schoß meiner Mutter, während parallel dazu mein großes Idol Marcelinho – ebenfalls mit tränenüberflutetem Gesicht – von Dieter Hoeneß getröstet werden musste.

Beim letzten europäischen Auftritt Herthas war noch Lucien Favre Trainer der Alten Dame. (Photo by Joern Pollex/Bongarts/Getty Images)

Hertha und die Europa-Allergie

Nun ja. Zugegeben hört sich das alles arg überdramatisiert an, führt man sich vor Augen, was in den darauffolgenden Jahren mit zwei Abstiegen binnen dreier Saisons noch folgen sollte. Aber für einen damals 9-jähirgen war dieses Ereignis eines der Prägendsten in der Zeit als Hertha-Fan. Auch, weil die darauffolgende Saison in Europa – schließlich war Hertha mit dem vierten Platz für den UEFA Cup qualifiziert – fußballerisch eher Magerkost bot. Hertha brachte damals das Kunstwerk fertig, sich mit einem geschossenen Tor in sechs Spielen für das Sechszehntelfinale zu qualifizieren, in dem man dann jedoch in der Summe mit 0:3 Rapid Bukarest unterlag.

Auch die nächste europäische Saison stand unter keinem guten Stern. Erneut ging Hertha zum Saisonende hin die Puste aus. Im Frühling 2009 schnupperte Hertha unter Lucien Favre bis kurz vor Schluss an der Meisterschaft, um dann in der Endtabelle abermals auf Rang 4 einzufahren. Was danach passierte, wirkt heute wie ein längst zu Ende geträumter Albtraum. Während die „Alte Dame“ erneut auf europäischem Parkett überwinterte, stürzte man in der Liga krachend ab und musste am Ende den Gang in die zweite Liga antreten.

Es kam eine Zeit, die man sich heute immer wieder in Erinnerung rufen sollte, wenn man gerade wieder im Inbegriff ist, den aktuellen Trainer und/oder Teile der Mannschaft zu verfluchen. Nach drei Saisons, in denen man jeweils auf-bzw abstieg, folgten zwei trostlose Jahre in der ersten Liga. Im letzten der Beiden landete Hertha nur wegen der besseren Tordifferenz nicht in der Relegation.

Die Väter des Erfolgs: Trainer Dardai und Manager Preetz (Photo by Alexander Hassenstein/Bongarts/Getty Images)

Dardai und Preetz führen Hertha ins internationale Geschäft

In jener Phase lief Hertha Gefahr, eine Mannschaft zu werden, deren Ambition maximal das gesicherte Mittelfeld sein darf. Einstige Leistungsträger wie Raffael oder Ramos vermisste man schmerzlich. Exemplarisch für diese triste Zeit ist, dass in der Rückrunde der Saison 14/15 das Offensivspiel einzig und allein an Valentin Stocker hing. Es machte sich die Befürchtung breit, dass die Alte Dame eine graue Maus werden würde. Diese Aussicht zerstörte das Trainerteam um Pal Dardai und Rainer Widmaier eindrucksvoll. Hertha präsentierte sich zur Saison 2015/2016 wie ausgewechselt. Neben dem Trainerteam, das Hertha endlich wieder Selbstbewusstsein und eine Spielidee einflößte, war dies vor allem der hervorragenden Arbeit von Michael Preetz zu verdanken, der mit den Transfers von Niklas Stark, Mitchell Weiser und Vedad Ibisevic den Grundstein für den Erfolg Herthas legte. Dass Hertha es am Ende wieder einmal verpasste, einer guten Saison den krönenden Abschluss zu verleihen und schlussendlich wegen einer Niederlage in Brondby das internationale Geschäft nicht erreichte, ist heute nur noch eine Randnotiz. Denn anders als in den Vorjahren bewahrte man diesmal die Ruhe und belohnte sich für die kontinuierliche und gute Arbeit der letzten Jahre. Das Ergebnis ist nun, dass Hertha erstmals seit acht Jahren wieder auf europäischer Bühne spielt: Mit Pal Dardai, der beim eingangs beschriebenen 0:0 gegen Hannover noch als Spieler 90 Minuten lang auf der Bank saß und mit Michael Preetz, einem der letzten Berliner Torschützen in der Champions League, als Väter des Ganzen. Hätte ich das als 9-jähriger gewusst, wären die Tränen mit Sicherheit schneller getrocknet.

Pal Dardai – Mehr Hertha geht nicht

Pal Dardai – Mehr Hertha geht nicht

Hertha BSC wurde am 25. Juli 125 Jahre alt, genau 20 davon wird die “alte Dame” bereits von einem Menschen begleitet, der ihr als Spieler und Trainer schon so viel gegeben und wohl noch lange nicht genug hat. Pal Dardai ist sowohl Herz, als auch Gesicht dieses Vereins und soll anlässlich der Herthaner Jubiläumswoche geehrt werden.

Dabei wäre ihm das wohl gar nicht recht. Er mache doch nur seinen Job und einem Bauarbeiter würde ja auch nicht applaudiert werden – solche Antwort bekäme man wohl, nachdem er die folgende Huldigung gelesen hätte. Denn das ist Pal Dardai – bodenständig. Eitelkeit kennt er nicht.

Seine Anfänge

So war das bereits als Spieler. Neben all den extrovertierten Ballkünstlern Südamerikas im Team war er stets jemand, der sich zurückhielt und einfach seiner Arbeit nachging. Ohne großes Aufmucken in den Medien, ohne unbedingtes Ausschöpfen der Möglichkeiten, die eine Stadt wie Berlin zu bieten hat, egal wie unprofessionell sie für einen Fußballprofi vielleicht seien. Durchzechte Partynächte, verrückte Frisuren oder das Schwänzen von Trainingseinheiten hätte ihm nicht fremder sein können.

Dardai stand auf und neben dem Feld für Verlässlichkeit und unbedingte Disziplin. Er räumte für die Marcelinhos, Gilbertos und Bastürks auf, brachte den nötigen Kampf in die Partie und zeigte Attribute, die dieser Mannschaft voller Diven und Schönwetterfußballern sonst gefehlt hätten.

Und genau diese Eigenschaften ließen ihn all diese Spieler und verschiedene Phasen von Hertha BSC überleben. Diese Eigenschaften sind der Grund für die Rekordanzahl von 297 Spielen für die “alte Dame”. Dardai durchlebte Herthas glanzvolle Jahre in der Champions League, den stetigen Rutsch ins Mittelmaß, die Fast-Meisterschaft 2009 und den darauffolgenden Abstieg. Und immer war er ein essenzieller Teil der Mannschaft, des Vereins, der blau-weißen Geschichte. Eben weil er zeitlose Eigenschaften in sich vereint. Auf dem Feld zeichneten ihn selbstloser Einsatzwille, eine große Lauf- und Zweikampfstärke, aber auch ein herausragendes taktisches Verständnis für Räume und Laufwege aus. Dadurch kam nahezu kein Trainer an ihm vorbei, obwohl sein Stil so oft als “überholt” galt.

So schien es eigentlich ausgeschlossen, dass Pal Dardai jemals aufhören könnte, doch irgendwann einmal trifft das unausweichliche Karriereende jeden Fußballer, auch den scheinbar ewigen. Bei dem Ungar war es der 15. Mai 2011. Nach 15 Jahren als Hertha-Spieler war die Zeit gekommen, die Fußballschuhe an den Nagel zu hängen.

Diese und die Zahl seiner Spiele für diesen Verein hätte wohl niemand für möglich gehalten, als er 1997 als unbekannter Jugendspieler nach Berlin kam. Auch er selbst nicht, so sagte er einmal in einem Spox-Interview: “Ich dachte mir, ich mache es wie viele andere Ausländer auch: Eine Weile bleiben, gutes Geld verdienen und dann wieder ab nach Hause. Mir war dabei nicht klar, dass Berlin nicht irgendeine Stadt in Deutschland ist. Ich habe schnell gesehen, dass mein Leben hier gut ist, der Verein ist gut, die Trainingsbedingungen sind gut. Wohin hätte ich denn gehen sollen? Alle vier, fünf Jahre wurde unser Kabinentrakt renoviert, das war für mich wie ein Vereinswechsel.”

Es sollte nicht seine letzte Kabinenrenovierung in Berlin bleiben. Es sollte nicht das Ende seiner blau-weißen Zeit sein.

Eine Ära prägen

“Eins ist sicher: Ich werde bis zum Tod dafür arbeiten, dass wir uns frühzeitig sichern, damit unsere Fans nicht zittern müssen. Ich werde alles dafür geben, die Dinge so schnell wie möglich zu stabilisieren”, so äußerste sich Pal Dardai bei seinem Amtsantritt am 5.2.2015. Hertha BSC hatte gerade Jos Luhukay entlassen, steckte tief im Abstiegskampf und stellte ihn überraschend als Lösung für diese große Aufgabe vor.

Zweieinhalb Jahre ist aus der Interims- eine Traumlösung geworden. Pal Dardai ist immer noch Trainer bei Hertha BSC und ja, er hat die Dinge stabilisiert – und wie!

Was seit seiner Amtsübernahme mit diesem Verein passiert ist, hätte sich wohl keiner ausmalen können. Hertha hielt in seiner ersten Saison die Klasse, um sich in den beiden Jahren darauf für den europäischen Wettbewerb zu qualifizieren.

Doch nicht nur das, Hertha besitzt wieder eine klare Philosophie, sei es der Spielstil, oder die Einkaufs- und Personalpolitik. Der Verein hat wieder Galionsfiguren, die Hertha verkörpern: Mitchell Weiser, Niklas Stark oder Marvin Plattenhardt – Spieler, die Dardai formte.

Hertha spielt einen klar wiedererkennbaren Fußball, fördert junge Spieler und vor allen Dingen die Eigengewächse, wie Torunarigha oder Mittelstädt. Der Kader und Taktik wird sukzessive verbessert, so auch die Trainings- und Methoden. Dardai bringt diesen Verein mit seinem Team in einer Weise voran, die es seit vielen Jahren nicht mehr gab.

Und all das in einer Bescheidenheit und Klarheit, die ihresgleichen sucht. Dardai brüstet sich nicht mit seinen Erfolgen, er sucht sie nur durchgängig. Dabei agiert er ehrlich, fair und direkt: Bringt ein Spieler keine Leistung oder Motivation, ist er raus. Zieht er mit und zeigt, dass er sich verbessern will, ist Dardai der letzte im Verein, der ihn hängen lassen wird. Dadurch verließen schon viele Spieler den Verein, doch die Folge war, dass er ein Team geformt hat, das diesen Namen verdient. Eine Mannschaft, die Teamgeist, Professionalität und Erfolgshunger versprüht und somit Mannschaften wie Wolfsburg, Mönchengladbach, Leverkusen oder Schalke in den letzten Jahren hinter sich ließ.

Dadurch ist auch noch lange kein Ende der Dardai-Ära zu sehen, die es höchstwahrscheinlich werden wird. Hertha verbessert sich dank eines klaren Konzeptes von Jahr zu Jahr, was ohne Dardai in dieser Weise kaum möglich wäre.

Dardai lebt Hertha aber nicht Berlin

Doch warum ist das Verhältnis von Hertha und Dardai so fruchtbar? Das lässt sich an seinen einzigartigen Charaktereigenschaften festmachen.

“Ich muss sagen, ich bin sehr wenig in der Stadt unterwegs, ich brauche den Trubel nicht. Mir ist die Stadt zu voll, zu viele Leute, zu viele Autos. Ich bin lieber in meinem Haus samt Garten. Da habe ich alles, was ich brauche: meine Familie, nette Nachbarn, meinen kleinen Weinkeller”, sagt er in einem Interview mit der Berliner Zeitung.

Das verrät viel über sein Wesen, das diesem Club so gut tut. Für Dardai gibt es in Berlin nur Hertha, dem widmet er seine volle Aufmerksamkeit und Leidenschaft. Dadurch ist er im Verein omnipräsent, kümmert sich um sein Profi-Team, erarbeitete aber mit Ante Covic ein einheitliches Konzept für die Jugendförderung und mit Michael Preetz eine klare Einkaufsstrategie, um den eingeschlagenen Spielstil immer weiter zu fördern und variantenreicher zu gestalten.

So herrscht gerade der feuchte Traum eines Fußballliebhabers: Mit Preetz, Herthas Rekordtorschützen und Dardai, der Rekordspieler leiten zwei absolute Vereinslegenden die erfolgreichste Phase der letzten Jahren ein.

Darüber hinaus brachte Dardai die Fans hinter sich und das nicht nur aufgrund seiner Spielerhistorie. Es ist seine bereits oft erwähnte Bodenständigkeit, die ihn so sympathisch macht. Der Vereinsanhänger weiß zu jeder Sekunde, dass Dardai alles für Hertha BSC gibt und wie kein anderer mit der “alten Dame” verbunden ist. So waren seine Worte zum Amtsantritt keine Floskeln, sondern Aussagen, die seine Liebe zu Hertha ausdrückten und wie nahe er sich den Fans fühlt. Auch ihm tat es damals weh, Hertha in solch einer Situation zu sehen.

Zudem macht ihn seine so menschliche Art so greifbar. Wenn er vom “Bayern-Bonus” spricht, nachdem dieser noch den Ausgleich gegen seine Mannschaft schoss, dann ist das vielleicht ungeschickt, spricht aber eben auch dafür, dass noch sehr viel Spieler und Fan in ihm steckt, dass vom mittlerweile so kalten und aalglatten Profi-Geschäft immer häufiger unterbunden wird. Wenn er einen Journalisten auf einer Pressekonferenz zusammenfaltet, weil er einen Spieler von ihm kritisiert hat, dann könnte man das zwar eleganter lösen, jedoch spricht es eben auch für seinen ausgeprägten Beschützerinstinkt, weil er sich zu jedem Zeitpunkt vor seine Mannschaft stellen will. Es sind schließlich “seine Jungs” und viele von ihnen noch “Babys” – eben Teil seiner großen Hertha-Familie, für die er alles gibt.

Und sollte seine hoffentlich immer währende Profi-Trainerkarriere bei Hertha BSC doch irgendwann ihr Ende finden, so geht er eben einen Schritt zurück und arbeitet wieder im Jugendbereich.

“Niemand glaubt mir das, aber genau so wird es sein! Ich kenne den Verein und diese Kabine seit gefühlt hundert Jahren. Wenn man mir bei Hertha sagt, es geht nicht mehr – ob das in sechs Wochen ist oder in sechs Jahren –, dann sage ich: Dankeschön, und alles ist gut. Ich gehe im Kabinentrakt einfach eine Etage höher. Mein Schreibtisch steht immer noch in der Nachwuchsabteilung.”

Pal Dardai – So wenig Berlin und doch geht mehr Hertha nicht!