Herthaner im Fokus: Der Derby-Fluch hält an

Herthaner im Fokus: Der Derby-Fluch hält an

Liebe Leserinnen und liebe Leser, lasst uns kurz einmal in die Vergangenheit schauen. Erinnert ihr euch an den 9. April dieses Jahres? Damals fand der 29. Spieltag der letzten Bundesliga-Saison statt und Hertha BSC wurde im eigenen Stadion sang– und klanglos von enorm starken Unionern überrannt. Am Ende stand eine auch in der Höhe vollkommen gerechtfertigte 1:4-Niederlage und man hing im tiefen Abstiegsschlamassel fest. Beim Blick auf die Startelf des damaligen Spiels fällt auf, dass die einzigen Akteure, die auch beim Derby am 1. Spieltag der neuen Saison in der Startelf standen, Myziane Maolida und Marc-Oliver Kempf waren. Mit Sandro Schwarz steht ein neuer Trainer mit neuer Philosophie, neuem Auftreten und neuer Spielidee an der Seitenlinie und generell hat sich seitdem vieles getan. Doch etwas ist geblieben. Eine spielerische und taktische Überforderung, eine unerklärliche Gelähmtheit einzelner Akteure und die spürbare Angst vor dem Versagen. Es ist mittlerweile ein Mysterium, dass es kaum einer Hertha-Mannschaft gelingt, diese Dinge abzulegen. Sehr wahrscheinlich stecken die Probleme also in noch unergründeten Ecken. Aber nun erst einmal zum Spiel.

Selbes System, selbe Mannschaft, aber einer fehlt

Sandro Schwarz stellte wie schon in Braunschweig die Mannschaft in einem 4-3-3-System auf. Die personelle Aufstellung war fast gänzlich dieselbe. Im Tor stand die dänische Nummer 1 Oliver Christensen. Kapitän Marvin Plattenhardt als Linksverteidiger und Jonjoe Kenny als Rechtsverteidiger auf den Außen. Vor der Verteidigung agierten Ivan Sunjic, Kevin-Prince Boateng und Suat Serdar. In der Offensive sollten Myziane Maolida über links, Dodi Lukebakio über rechts und Davie Selke als üblicher Neuner für die Tore sorgen. Eine Änderung nahm Schwarz allerdings vor und die sorgte für Aufsehen und scheint kein Thema für nur ein Spiel zu sein.

(Photo by Mark Thompson/Getty Images)

Der in Braunschweig unglücklich agierende Marc-Oliver Kempf durfte gegen Union Berlin als Abwehrchef fungieren. Ihn an die Seite gestellt wurde Filip Uremovic. Der kroatische Neuzugang kam also zu seinem Bundesliga-Debüt. Dedryck Boyata, der über Jahre die Rolle des Abwehrchefs einnahm, bekam also die Quittung für seine schlechte Leistung in Braunschweig und wohl auch im Training und wurde nicht einmal mehr für den Spieltags-Kader berücksichtigt.

In unserer Analyse schauen wir heute auf unseren Torhüter, die unsichere Verteidigung, das Führungsspieler-Vakuum und wer sich Hoffnungen auf die Startelf machen kann.

Oliver Christensen: Dankbare Bälle, aber auch viel Pech

Der neue Stammtorhüter der Hertha leistete gegen Union Berlin eine viel bessere Arbeit als zuletzt in Braunschweig. Er zeigte mehr Ruhe und mehr Sicherheit. Gute Paraden gegen die Unioner Offensive belegen das. Insbesondere gegen Ryerson, der einen starken Tag erwischte und die Verteidigung vor viele Probleme stellte. Von eben jenem Ryerson wurde Christensen in der 27. Minuten zu einer Glanzparade gezwungen. Sieht man die Situation sehr kritisch, muss man vielleicht sogar sagen, dass Christensen diesen Ball auch haben muss. Zumindest war es ein dankbarer Ball um sich als Torhüter sehenswert auszeichnen zu können. In der Vergangenheit konnte sich nicht jeder Herthaner zwischen den Torpfosten so auszeichnen. Insgesamt wurde er zu fünf Paraden gezwungen, zweimal konnte er den Ball in brenzliger Situation klären. Eine weitere Unioner Großchance vereitelte er direkt nach Beginn der zweiten Halbzeit, als er einen Kopfball von Becker zur Ecke lenken konnte.

Christensen war wach und bei Standards präsent, wie bei Trimmels Freistoß in der 80. Minute. Immer wieder versuchte er das Spiel der Hertha einzuleiten, 18 seiner 23 Pässe fanden den Mitspieler, acht seiner 13 Versuche lange Bälle bei seinen Kollegen unterzubringen, waren erfolgreich. Bei den Gegentoren trifft Christensen keinesfalls eine Hauptschuld, allerhöchstens zum Teil. Beim 0:1 durch Siebatcheu könnte man ihm ein schlechtes Stellungsspiel unterstellen, als er zu sehr auf die kurze Ecke spekulierte. Beim 0:2 wirkte er zu zögernd. Ein entschiedenes Rauskommen hätte womöglich einen Sieg im Zweikampf mit Becker bedeutet. Beim 0:3 sah er auf der Linie unglücklich aus. Doch eins vereint diese drei Gegentore. Bei allen schlief die komplette Verteidigung. Die schlief allerdings häufiger als nur die drei Mal. Und wenn am Ende der Kette Christensen nicht gewesen wäre, hätte das Spiel schon viel früher entschieden sein können.

(Photo by ODD ANDERSEN/AFP via Getty Images)

Die Absprache mit seinen Kollegen funktioniert noch nicht reibungslos, was angesichts der noch jungen Saison aber verständlich ist. Es wäre schön und vor allem sehr wichtig, sehr bald eine Stamm-Innenverteidigung zu haben. Bekanntlich war das letzte Saison die größte Baustelle der Hertha. Es ist oft gemein, Vergleiche zu ziehen, doch sieht man sich die Unterschiede zwischen Oliver Christensen und Marcel Lotka an, fällt auf, dass der Däne aktuell eher den ruhigen Akteur gibt und weniger den des Wachrüttlers. Dabei wird letzterer gerade dringend gebraucht.

Dedryck Boyata: Dramatischer Abstieg eines Führungsspielers

In Köpenick war er nicht nur nicht in der Startelf. Nein, der Belgier war nicht einmal im Kader. Laut Sandro Schwarz eine Konsequenz aus den Eindrücken vom Spiel in Braunschweig und der Trainingswoche. Es könnte also durchaus sein, dass das Spiel gegen die Löwen Dedryck Boyatas letztes Spiel im Dress der Hertha gewesen ist. Der Absturz des Innenverteidigers konnte schneller kaum gehen. Nach zwei Jahren wurde ihm die Kapitänsbinde abgenommen und nun wurde ihm auch der Rang als Abwehrchef abgelaufen. Sportlich hat Schwarz genug Argumente auf seiner Seite. Zumindest dann, wenn Marc-Oliver Kempf tatsächlich eine Reaktion im Training zeigte.

(Photo by Martin Rose/Getty Images)

In den letzten Jahren war Boyata trotz gelegentlicher Aussetzer einer der besten Verteidiger von Hertha BSC. Sein Standing im Team war extrem hoch, die Mannschaft wählte ihn nicht grundlos zweimal zum Kapitän. Doch er hatte zunehmend mit sich selbst zu kämpfen, zuletzt kamen Wechselgerüchte auf. Nachdem Boyata also noch die gesamte Vorbereitung mitgemacht hatte, steht sein Verbleib in Berlin nun mehr denn je auf der Kippe. Es droht der nächste Führungsspieler zu gehen. Es stellt sich die Frage, wie Sandro Schwarz und Fredi Bobic dieses Führungsvakuum angehen möchten. Insbesondere, wenn auch noch Maximilian Mittelstädt verkauft werden sollte. In der Innenverteidigung gibt es aktuell keinen, der auf diesem Niveau Boyatas Führungsrolle ausfüllen könnte.

Marc-Oliver Kempf: Kein Abwehrchef

Auch nicht Marc-Oliver Kempf. Der war in Köpenick zwar bemüht und gab sich nicht auf. Doch die Rolle Boyatas wird er Stand jetzt nicht ausfüllen können. Dafür hat auch er zu viel mit sich selbst und seinem riskanten Spiel zu tun. Immerhin konnte er sechsmal in teilweise höchster Not klären. 68 Mal war er am Ball. Doch viel zum Aufbauspiel konnte er nicht beitragen. Ganze elf Fehlpässe stehen in seiner Statistik, alles andere als sicher. Nur 45 Prozent, als neun von 20 Zweikämpfen konnte er für sich entscheiden. Beim ersten Gegentreffer war Siebatcheu zu schnell für ihn. Er konnte den Stürmer nicht mehr am Kopfball hindern. Ebenso war er beim 0:2 gegen den schnellen Becker zu langsam. Sein Klärungsversuch sah einigermaßen spektakulär aus, retten konnte er allerdings nichts mehr.

(Photo by ODD ANDERSEN/AFP via Getty Images)

Wir wissen nicht, wie die Spieler im Training drauf sind und was sie dort zu bieten haben. Doch auch wenn Kempf wohl eine gute Reaktion auf seine schwache Leistung in Braunschweig zeigte, konnte er diese leider nicht im Derby bestätigen. Und irgendwo sollte auch dieser Punkt in der Bewertung zählen. Es steht noch viel Arbeit für das Trainerteam an. Eine echte Hierarchie in der Verteidigung scheint es nicht mehr zu geben. Möglicherweise müssen die Karten gänzlich neu gemischt werden.
Doch immerhin …

Filip Uremovic: Kleiner Lichtblick, aber noch überfordert

… einer konnte die Situation zumindest etwas für sich nutzen. Neuzugang Filip Uremovic zeigte sich engagiert, konnte mehrmals klären. Allein schon nach wenigen Sekunden, als er Rani Khediras Torschuss blockte. Insgesamt blockte er drei Bälle und klärte drei weitere. Vier Tacklings gelangen ihm und zweimal konnte er einen Unioner durch einfaches Ablaufen vom Ball trennen. Insgesamt war er 61 Mal im Ballbesitz und konnte 90 Prozent, also 43 von 48 Pässen bei seinen Mitspielern unterbringen. Offensiv versuchte er es zum Beispiel in der Nachspielzeit. Sein Kopfball war allerdings letztendlich zu ungefährlich.

(Photo by ODD ANDERSEN/AFP via Getty Images)

Doch auch er musste bei den ersten beiden Gegentoren feststellen, dass es ihm deutlich an Tempo fehlt, um gegen schnelle Gegenspieler bestehen zu können. Im Gesamtgefüge war Filip Uremovic ein kleiner Lichtblick, der in brenzligen Situation allerdings noch schnell überfordert war. Die Kommunikation mit seinen Mitspielern ist noch nicht ausgereift. Trotzdem scheint er jemand zu sein, der den Konkurrenzkampf in der Innenverteidigung oder auch auf der Position des Rechtsverteidigers ankurbeln könnte. Gerade auf der rechten Außenposition scheint es nötig zu sein, denn …

Jonjoe Kenny: Maximal Überfordert

… ein weiterer Neuzugang, nämlich Jonjoe Kenny, tat sich im Derby sehr schwer und war des Öfteren maximal überfordert. Zwar konnte auch er ein paar Punkte für sich sammeln, wie fünf Aktionen, die er klären konnte. Insgesamt war Kenny 80 Mal am Ball und damit einer der aktivsten Herthaner, allerdings fabrizierte er dramatische 26 Ballverluste. Von ihm ging keine Sicherheit aus. Dank einiger Tacklings konnte er immerhin acht von 13 Zweikämpfen gewinnen. 37 seiner 55 Pässe kamen beim Mitspieler an, zu wenig für einen Spieler auf seiner Position. Auch Versuche die Offensive in Szene zu setzen schlugen häufig fehl. Nur einer von acht langen Bällen kam beim Mitspieler an. Immerhin konnte er in der 60. Minuten mit einer Flanke für Wilfried Kanga für etwas Torgefahr sorgen. Doch defensiv machte ihm insbesondere Unions Ryerson das Leben enorm schwer. Mehrmals kam er gegen den Norweger zu spät oder setzte zu einer schlechten Grätsche ins Lehre an.

(Photo by ODD ANDERSEN/AFP via Getty Images)

Aktuell ist Jonjoe Kenny einer der größten Verlierer der unsicheren Verteidigung. Möglicherweise kann er zu einer festen Größe wachsen, dazu ist aber allgemeine Abwehrsicherheit gefordert. Zudem ist er nicht darum zu beneiden, Boateng und Lukebakio, die beide defensiv kaum Unterstützung liefern, als Zuarbeiter auf seiner Spielseite zu haben. Urgestein Peter Pekarik oder Filip Uremovic sitzen ihm im Nacken und könnten nach zwei sehr schwachen Spielen den Briten auf seiner Position ablösen.

Das Mittelfeld: Einfallslos, langsam und kein Bindeglied

Das Dreiergespann, bestehend aus Abräumer Ivan Sunjic und Kevin-Prince Boateng und Suat Serdar blieb gegen Union extrem blass. Noch vor wenigen Tagen wurde insbesondere Ivan Sunjic für sein Spiel in Braunschweig gelobt. Doch kaum trifft man auf einen Gegner, dessen Qualitäten etwas höher anzusetzen sind, steht man vor Problemen. Zumindest scheint es so.

hertha

(Photo by Martin Rose/Getty Images)

Die drei wurden zunehmen kaltgestellt. Kevin-Prince Boateng ist aus körperlichen Gründen kaum in der Lage, Extrawege zu gehen und als wirkliches Bindeglied zwischen Sturm und Abwehr zu wirken. Suat Serdar versucht es zu häufig mit Solo-Aktionen. Seine Dribblings gehen meistens ins Leere oder in die Beine von Gegenspielern. Durch ihre Limitierungen waren sie auch nicht in der Lage die Offensive in Szene zu setzen. Davie Selke und Myziane Maolida hingen komplett in der Luft, Dodi Lukebakio konnte erst nach den verschiedenen Wechseln aufspielen. Das Spiel der Hertha wirkt momentan ideenlos und sehr statisch. Um sich ein endgültiges Urteil dazu bilden zu können, ist es allerdings noch zu früh. Das Dreiergespann jetzt schon wieder auseinanderzureißen würde die nächste große Baustelle im Team eröffnen. Womöglich kann hier der wohl festzustehende Neuzugang Jean-Paul Boetius Abhilfe schaffen.

Dodi Lukebakio: Mr. Derby arbeitet zu wenig

Ein kleiner, netter Fakt gefällig? Dodi Lukebakio ist Mr. Derby. Der Belgier hat mittlerweile drei Tore in Berliner Derbys erzielt und ist damit der torgefährlichste Spieler dieser Duelle, Sheraldo Becker ist ihm dicht auf den Fersen. Immerhin eine nette Statistik, die sich Herthaner schönreden können.

hertha

(Photo by Martin Rose/Getty Images)

Insgesamt war das Spiel von Dodi Lukebakio in der ersten  Halbzeit nicht vorhanden. Ähnlich wie bei der gesamten Offensive und dem Mittelfeld der Hertha. Er und Kenny konnten sich in keiner Weise ergänzen, das Spiel miteinander bestand praktisch nicht. Erst in der zweiten Halbzeit, beim Stand von 0:3, als Sandro Schwarz mehr dynamische Power einwechselte, konnte auch er sein Spiel entfalten. Nur eines von sechs seiner gefürchteten Tempodribblings konnte er in irgendeiner Form positiv gestalten. Insgesamt war er an 33 Aktionen beteiligt, der Großteil davon in der Schlussphase. Er brachte 71 Prozent, also zehn von 14 Pässen beim Adressaten unter. Sein Tor zum Ehrentreffer in der 85. Minute war sehenswert und zeigte, dass er das Spiel der Hertha durchaus beleben kann, allerdings nur im Zusammenspiel mit ähnlichen Spielertypen, die ihn ebenfalls in Szene setzen können. Ansonsten ist Dodi Lukebakio keine große Hilfe in einem Spiel, in dem vor allem verteidigt werden muss. Diese Form von Einsatz ließ er im Vergleich zum Pokal-Spiel leider vermissen. Das leidige Thema der Konstanz …

Wilfried Kanga und Chidera Ejuke: Hoffnungsvolle Power für die nächsten Wochen

Chidera Ejuke bekam bereits gegen Braunschweig seine ersten Minuten, Wilfried Kanga nun im Derby. Die beiden zeigten, dass sie in der Lage sind, das Angriffsspiel anzukurbeln und vor allem mit ihrem Tempo für Gefahr zu sorgen. Beide halfen ab der 56. Minute mit. Durch den unglücklichen 0:3-Treffer war da das Spiel allerdings schon vor ihrer Einwechslung entschieden. Ejuke setzte zu mehreren Dribblings an. Vier von fünf konnte er erfolgreich beenden. Alle seine Pässe – fünfzehn Stück – kamen an. Vier von fünf Zweikämpfen gewann er. Alles Statistiken, die belegen, dass er ein höheres Niveau als der Durchschnitt im Team hat. Er besitzt mehr Tempo, mehr Kraft und Durchsetzungsvermögen und zeigte viel mehr Engagement als Myziane Maolida, den er ersetzte.

hertha

(Photo by Martin Rose/Getty Images)

Wilfried Kanga war bei seinem Debüt wesentlich besser im Spiel als Davie Selke. Er zeigte sich ballsicher, passsicher – alle seine sechs Pässe kamen an – und nach 60 Minuten konnte er mit einem Schuss aus der Luft nach Flanke von Kenny auch für erste Gefahr sorgen. Zu diesem Zeitpunkt war es die erste Chance der Hertha aus dem Spiel heraus. Beide haben gezeigt, dass sie definitiv Anwärter auf einen Startelf-Platz sind und dem Offensivspiel der Hertha viel mehr Unberechenbarkeit ermöglichen können.

Vermasselter Saisonstart, aber es ist bei weitem nichts verloren

Von einem Zweitligisten aus dem Pokal geworfen, am ersten Spieltag das Derby verloren. Schlechter kann eine Saison eigentlich nicht starten und wir wollen das hier auch überhaupt nicht schönreden. Aber das Pokal-Aus muss man verkraften können, damit muss jede Mannschaft rechnen. Die Derbyniederlage ist gerade für den Kopf und für die Laune ein Problem. Doch wie man an der Reaktion der Hertha-Fans gesehen hat, weiß man diese einzuordnen. Die Anforderungen in Berlin sind mittlerweile andere, als in den letzten drei Jahren.

hertha

(Photo by ODD ANDERSEN/AFP via Getty Images)

Ein Abwärtsstrudel zu Beginn der Saison muss dringend unterbunden werden, wenn man nicht schon in einem ist. Sieht man diese Niederlage sportlich und vergleicht man sie mit einem Spiel gegen einen Gegner, der Union ebenbürtig gewesen wäre, also SC Freiburg, Borussia Mönchengladbach oder Mainz 05, wären Spiel und Ergebnis möglicherweise ähnlich gewesen. So muss vor allem der Kopf freigemacht werden um sich schnell von der Derby-Klatsche erholen zu können. In der Mannschaft hapert es an einfachsten und grundsätzlichen Dingen. Gegen Union fehlte die Kompromisslosigkeit in den Zweikämpfen. Fredi Bobic sagte im „Doppelpass“ bei Sport1, dass es Zeit brauchen würde, bis gewisse Dinge funktionieren. Zusätzlich betonte auch er, dass Dedryck Boyata sportlich aktuell keine Hilfe ist. Es kommen schwere Gegner auf die Hertha zu. Spiele, in denen es nicht leicht wird, zu bestehen. Aber man hat nichts zu verlieren und kann theoretisch befreit aufspielen. Die Mannschaft hat sich noch nicht gefunden, das Selbstverständnis fehlt bisher.

Es bedarf klarer Ansagen und Taten des Trainerteams, damit sich ein schlagkräftiges Team bilden kann. In nahezu allen Mannschaftsteilen gibt es Probleme, aber auch großes Potential diese zu beseitigen. Die Zeiten sind nicht einfach, aber die Saison ist lang und noch ist rein gar nichts verloren. Allgemein tut es Hertha-Spielern, Fans und dem Verein wohl besser, wenn man den Derbys und der Berliner Rivalität nicht mehr Bedeutung schenkt, als sie verdienen. Und schon gar nicht braucht man über jedes Stöckchen aus Köpenick springen, was hingehalten wird. Man muss sich auf sich selbst konzentrieren. Ausschließlich auf sich selbst.

(Titelbild: Martin Rose/Getty Images)

Herthas Transfersommer – Mehr Stringenz, aber noch viele Baustellen

Herthas Transfersommer – Mehr Stringenz, aber noch viele Baustellen

„Es wird natürlich […] einen größeren Umbruch geben. Das ist klar“, mit diesen Worten ließ sich Fredi Bobic kurz vor dem Ende der vergangenen Saison zitieren. Ein mehr oder weniger großer Kader-Umbruch im Sommer, das ist in den vergangenen Jahren bei Hertha BSC eine Art Tradition geworden – zumindest in den letzten beiden Jahren war der Kader vor Saisonstart kräftig umgekrempelt worden.

Grund für den Umbruch ist neben finanziellen Zwängen sicher die Unzufriedenheit mit dem sportlichen Abschneiden im Vorjahr – aber wohl auch der neue Trainer. Mit Sandro Schwarz hat Hertha für die kommende Spielzeit einen Trainer verpflichtet, der einen klaren Plan mitbringt – entsprechend soll der Kader auch auf diese Spielphilosophie ausgerichtet werden.

Englische Härte für hinten rechts

In den vergangenen drei Jahren war die Rechtsverteidiger-Position häufig die Problemzone schlechthin bei Hertha BSC. Seit dem Abgang von Valentino Lazaro hat kein Spieler auf dieser Position dauerhaft überzeugt – am ehesten wohl noch Peter Pekarík, dessen Zenit allmählich aber auch überschritten scheint. Mit Jonjoe Kenny unternimmt man nun einen neuen Versuch, die Lücke hinten rechts zu schließen. Der Engländer kommt ablösefrei von Everton.

Der 25-Jährige hat seine Stärken hauptsächlich im defensiven Bereich. Dass er für die Bundesliga genügend Physis und Tempo mitbringt, konnte Kenny bereits eine Saison lang auf Schalke unter Beweis stellen. Nicht nur wegen fünf Scorern dürfte Kenny diese Saison in guter Erinnerung behalten haben. Dank seiner aggressiven Spielweise gegen den Ball, mit der Kenny seine Gegenspieler unter Druck setzt und viele Bälle erobert, stieg er auf Schalke schnell zum Publikumsliebling auf.

hertha

(Photo by Ronald Wittek/Pool via Getty Images)

Mit seinem proaktiven Spielstil gegen den Ball dürfte er gut zu dem Fußball passen, den Sandro Schwarz mit Hertha spielen will. Ob seiner Schwächen mit dem Ball am Fuß – in den ersten Testspielen im Hertha-Dress war bei Kenny der eine oder andere Wackler zu beobachten – sollte er sich eines Stammplatzes trotzdem nicht allzu sicher sein. Mit Eigengewächs Julian Eitschberger und dem ewigen Peter Pekarík warten gleich zwei Konkurrenten auf ihre Möglichkeit.

Filip Uremovic – zukünftiger Führungsspieler?

Einen weiteren ablösefreien Neuzugang präsentierte Hertha bereits Ende Mai mit Filip Uremovic. Der 25-jährige Kroate kommt von Rubin Kasan und dürfte als Niklas-Stark-Ersatz eingeplant sein. Als rechtsfüßiger Innenverteidiger dürfte er mit Linus Gechter und Dedryck Boyata um Spielzeit konkurrieren.

hertha

(Photo by FRANCK FIFE/AFP via Getty Images)

Inwiefern er sich in diesem Konkurrenzkampf wird durchsetzen können, ist unklar – und wird mit Sicherheit auch daran hängen, wie viel Zeit Uremovic zur Eingewöhnung in Berlin benötigen wird. Bei Rubin Kasan war der Kroate bereits im Sommer 2020 mit nur 23 Jahren zum Kapitän ernannt worden – es besteht also die Hoffnung, dass er auch in Berlin zügig zu einem in der Team-Hierarchie wichtigen Spieler aufsteigt.

Uremovic verfügt über ein solides Aufbau- und Kopfballspiel sowie über eine saubere Zweikampfführung. Am auffälligsten sind vielleicht seine mitunter spektakulären Rettungstaten, in denen er in letzter Sekunde noch Schüsse blockt oder Gegenspieler abgrätscht. Es bleibt allerdings zunächst abzuwarten, welche Rolle Uremovic unter Sandro Schwarz einnehmen wird.

Ein Hertha-Eigengewächs kehrt zurück

Eher ein halber Neuzugang ist Jessic Ngankam. Greuther Fürth zog zwar zu Beginn der Transferperiode die Kaufoption für den 22-Jährigen, bereits am Tag darauf nutzte Hertha aber die vereinbarte Rückkaufoption und holte Ngankam somit für ein Minus von knapp 500.000 Euro zurück. Nachdem Ngankam sich in der Vorsaison das Kreuzband gerissen hatte und erst gegen Saisonende zurückkehrte (mit drei Scorern in sechs Bundesliga-Spielen), ist es durchaus etwas überraschend, dass Hertha das Eigengewächs bereits zu dieser Saison zurückholte.

(Photo by Adam Pretty/Getty Images)

Ngankam dürfte allerdings sehr gut zu Herthas neuer Pressing-Philosophie passen, in seinen wenigen Auftritten in Herthas Mannschaft zeichnete er sich neben seinen offensiven Qualitäten insbesondere durch seine Arbeit gegen den Ball aus. Und auch seine Torgefahr konnte er im Saisonendspurt bei Greuther Fürth unter Beweis stellen, er traf in den letzten beiden Spielen gegen Dortmund und Augsburg. Die Vorbereitung verpasste er größtenteils verletzungsbedingt, nach seiner Rückkehr dürfte er allerdings den Konkurrenzkampf im Sturmzentrum und auf den Flügeln beleben.

Hertha nutzt die Leihspieler-Sonderregel für die russische Liga

Erstmal nur leihweise kommt Chidera Ejuke zu Hertha – möglich machen das die Sonder-Regeln der FIFA, wonach alle ausländischen Spieler ihre Verträge in der russischen Premier League für zunächst ein Jahr aussetzen können. Der Nigerianer nutzte diese Regelung, um ZSKA Moskau zu verlassen und sich Hertha BSC anzuschließen. Auch der linke Flügel gehörte in der abgelaufenen Saison zu Herthas Problemzonen – Myziane Maolida konnte in seiner ersten Saison nicht wirklich überzeugen, was Tayfun Korkut und Felix Magath dazu verleitete, zentrale Mittelfeldspieler wie Suat Serdar oder Jurgen Ekkelenkamp auf dem linken Flügel aufzubieten.

Mit Chidera Ejuke ergänzt dort nun ein Spieler Herthas Kader, der auf dem Papier alles mitbringt, um Hertha weiterzuhelfen: Tempo, ein sehr gutes 1-gegen-1 sowie einen starken Abschluss. Als Rechtsfuß mag er es, von der linken Seite nach innen zu ziehen und selbst abzuschließen. Gleichzeitig weiß er allerdings auch seine Mitspieler in Szene zu setzen – sollte er seine fünf Tore und fünf Vorlagen aus der letzten Saison für Hertha in der Bundesliga abliefern können, wären vermutlich alle zufrieden.

(Photo by Dean Mouhtaropoulos/Getty Images)

Ejukes Transfer verzögerte sich allerdings durch Visum-Probleme, erst kurz vor dem Ende des Trainingslagers konnte er erstmals zur Mannschaft stoßen. Demzufolge wird auch Ejuke erst noch Eingewöhnungszeit benötigen – man sollte also vor allem zu Saisonbeginn keine überzogenen Erwartungen an den 24-Jährigen stellen.

Ivan Sunjic – der Ascacibar-Ersatz

Auch nur per Leihe, allerdings mit Kaufoption, kommt Ivan Sunjic nach Berlin. Der Kroate wurde vom englischen Zweitligisten Birmingham City geholt und ist auf der Sechs beheimatet. Dort soll er als Ersatz für Santiago Ascacíbar fungieren. Nach dem Ende des Trainingslagers äußerte sich Fredi Bobic bereits äußerst wohlwollend über den Kroaten: „Sunjic hält die Position, wie er sie zu halten hat. Es gibt keine  Ausbrüche mehr nach rechts vorn oder links vorn oder überallhin auf dem  Platz. Er hält die Position, tut dem  Gegenspieler weh, klaut die Bälle, macht auch Fouls, wenn es sein muss, und ist fußballerisch im Aufbauspiel sehr, sehr sicher.“

(Photo by Mark Thompson/Getty Images)

In diesem Statement scheint Sunjics fußballerisches Profil bereits durch: Seine Stärken liegen vor allem im defensiven Bereich, er besticht durch seine Arbeit gegen den Ball. Er gewinnt Zweikämpfe, fängt Pässe ab, ohne dabei kopflos zu agieren oder sich vom Gegner in die Falle locken zu lassen. Trainer Schwarz wünscht sich von Sunjic vor allem ein „Vorwärtsverteidigen“ – ein Indiz dafür, dass Sunjic auch aufgrund von Herthas neuer Spielphilosophie verpflichtet wurde.

Mehr Stringenz in der Transferpolitik

Insgesamt hinterlässt die bisherige Sommertransferperiode einen ganz anderen Eindruck als die letzten Sommer. Anstatt die Windhorst-Millionen relativ planlos in einzelne, teure Spieler zu investieren oder wie im vergangenen Sommer auf Schnäppchenjagd zu gehen, bemüht man sich sichtlich, dem neuen Trainer Sandro Schwarz einen zu seiner Philosophie passenden Kader zur Verfügung zu stellen. Während in den letzten Jahren immer wieder extrem unrunde Kader standen, in denen ein Spieler fußballerisch kaum zum anderen passte, besteht nun Hoffnung, dass ein ausgewogenerer Kader für bessere Ergebnisse sorgt. Wie viel sich aus den Überlegungen und Plänen der Hertha-Verantwortlichen auch tatsächlich auf den Platz überträgt, bleibt aber abzuwarten.

Das liegt auch den Fragezeichen, die auch noch ein paar Tage vor Saisonbeginn bleiben. Zum einen fehlt Herthas Aufgebot noch ein qualitativ hochwertiger Stürmer. Davie Selke präsentierte sich in der Vorbereitung zwar einmal mehr willig, doch die Zweifel an ihm bleiben. Stevan Jovetic verpasste große Teile der Vorbereitung, sein Körper lässt quasi keine Planbarkeit zu, zumal er nicht zum Profil passt, das sich Schwarz für seinen Stoßstürmer wünscht. Ngankam bleibt nach seiner erneuten Verletzung ein Fragezeichen, Derry Scherhant und Luca Wollschläger konnten in der Vorbereitung zwar überzeugen, aber sie werden noch viel Zeit brauchen, um wirklich auf Bundesliga-Niveau anzukommen.

Darüber hinaus gilt Krzysztof Piatek als klarer Verkaufskandidat. Neben ihm könnten noch weitere Spieler den Verein verlassen – ein weiteres Aufgabenfeld, das noch nicht vollends abgearbeitet werden konnte und den Kader nicht fertig werden lässt. Es bleiben somit noch einige Fragezeichen, die den von Schwarz angestoßenen Prozess in jedem Fall verlangsamen werden – was zum Saisonstart wohl spürbar sein wird. Der eingeschlagene Weg ist erkennbar, das angestrebte Ziel aber noch nicht ganz.

[Titelbild: Martin Rose/Getty Images]