Herthaner im Fokus: Am Boden

von Apr 11, 2022

Hertha verliert ein Bundesligaspiel. Soweit so gut, soweit bekannt und soweit mittlerweile die Regelmäßigkeit. Doch die Niederlage gegen den 1.FC Union Berlin bedeutet etwas anderes. Es ist eine Zäsur, deren Auswirkung nicht nur eine schwere Niederlage und ein weiterer Rückschlag im Abstiegskampf ist, es ist viel mehr. Es ist eine Frage von Charakter, Qualität und Interesse, sich mit einer Situation zu befassen und wie man sich nach Außen hin präsentiert. Und es ist in gewisser Weise eine Frage des Respekts vor zehntausenden Fans, die das erste Mal nach zwei Jahren Pandemie wieder im Stadion waren. Die hier gewohnte Analyse muss einem emotionalen Kommentar weichen.

Kein gewöhnlicher Text

Ich bin schon lange Fan von Hertha BSC, doch selten war ich den Tränen aus reiner Wut so nahe wie während ich diese Zeilen hier verfasse. Das hier wird kein gewöhnlicher „Herthaner im Fokus“-Text. Ich weiß nicht wie groß das Interesse ist, nach diesem Spiel die Zweikampfwerte von Dedryck Boyata zu lesen und eingeordnet zu bekommen. Übrigens gewann er gerade mal 25 Prozent dieser.

Trotzdem werden auch heute wieder Herthaner im Fokus sein. Es geht um die sensationelle Kulisse, die die Fans im Olympiastadion boten. Es geht darum wie sich Felix Magath und Fredi Bobic präsentieren. Und es geht um den Charakter einer Mannschaft, die wieder einmal vollkommen in sich zusammengefallen ist. Es geht außerdem um das aktuell wohl einzig Positive bei Hertha BSC: Die Jugendarbeit.

Die Hertha-Fans: Ein Fußballfest wird zum Fiasko

Es war angerichtet. Das erste Derby im Berliner Olympiastadion vor vollem Haus nach neun Jahren. Durch die Pandemie war es wirklich Jahre her, dass das Stadion der Hertha restlos ausverkauft war. Und Berlin hatte sich dieses Derby redlich verdient. Wir hatten in den letzten Wochen bereits Derby-Szenen aus Köln oder Bremen gesehen und fieberten seit Wochen auf das in Berlin stattfindende Event hin.

Und die Bilder, die entstanden, sind aller Ehren wert und versprachen genau das, was wir uns erhofften. Ein Fanmarsch durch die Stadt mit zehntausenden Fans, die ihre Rückkehr ins Stadion kaum erwarten konnten. Das sich immer mehr füllende Stadion, diese Lust, dieses kribbeln im ganzen Körper. Beide Fangruppierungen präsentierten ihre Choreographien, zündeten in großen Mengen Pyrotechnik und sorgten für geschichtsträchtige Bilder. Die Herthaner, die die Ostkurve in ein blau-weißes Meer verwandelten hüpften, sangen, feierten und feuerten die Mannschaft an.

(Photo by TOBIAS SCHWARZ/AFP via Getty Images)

Doch genauso brodelte es. Die Mannschaft, die diese Atmosphäre nicht ein einziges Mal wirklich auf ihr Spiel übertragen lassen konnte, wirkte gehemmt, verängstigt, überfordert und einfach qualitativ zu schwach, um irgendetwas dem Stadtrivalen entgegenzusetzen. Der herben 1:4-Klatsche folgte der Rapport bei den Ultras in der Ostkurve. Einige Spieler stellten sich den wütenden Fans und gaben ihre Trikots ab. Diese symbolische Aktion soll jeder für sich selbst bewerten. Ob das aber ein Motivationsschub für die nächsten Spiele ist, darf bezweifelt werden.

Felix Magath: Was war der spielerische Plan?

Aktuell wirkt Felix Magath noch nicht wie der große Heilsbringer. Seine größten Leistungen sind bisher eher schelmische Interviews zu geben, viel in Rätseln zu sprechen und vor allem die Gegner und auch leider seine eigene Mannschaft vor eben jene zu stellen. Beim Blick auf die Startelf musste man sich vor Verwunderung direkt wieder die Augen reiben.

(Photo by TOBIAS SCHWARZ/AFP via Getty Images)

Magath stellte das Team erneut in einem 4-1-4-1 auf, welches im zweiten Durchgang zu einem 5-3-2 wurde. Und dabei wurde wieder einmal kräftig durchgemischt. Die größte Überraschung war auf der Position des Linksverteidigers. Marvin Plattenhardts Ausfall wurde durch den 18-jährigen Juniorenspieler Julian Eitschberger kompensiert, der zu seinem Profidebüt kam. Weshalb Maximilian Mittelstädt zunächst auf der Bank platznehmen musste, wurde nicht ersichtlich. Marc Oliver Kempf und Dedryck Boyata stellten die Innenverteidigung, Peter Pekarik war wieder auf der rechten Seite zu finden. Das Mittelfeld, bestehend aus Linus Gechter, Vladimir Darida, Santiago Ascacibar und Lucas Tousart sollte für eine stabile Zentrale sorgen, aber versprach genauso wenig Tempo wie zuvor in Leverkusen. Im Sturm waren überraschend Myziane Maolida und Stevan Jovetic Teil der Startelf.

Doch stutzig machte vor allem, wer alles auf der Bank saß. Aufgrund der verletzt fehlenden Niklas Stark und Kevin-Prince Boateng konnten generell schon zwei Lautsprecher und Leistungsträger nicht am Spiel teilnehmen. Belfodil, der zwar glücklos in Leverkusen agierte, aber trotzdem für Spielwitz sorgen kann, fehlte, genauso wie die Power von Marco Richter, Suat Serdar oder Jurgen Ekkelenkamp. Die Aufstellung war schon früh eine Absage an kreatives Offensivspiel. Es bestand kein Plan, der zu Toren hätte führen können. Mehr als halbgare Konter waren nicht drin, ein sinnvoll aufgebauter Angriff war ebenso wenig vorhanden.

(Photo by Boris Streubel/Getty Images)

Es stellen sich Fragen, Herr Magath. Weshalb durften diese drei Spieler schon wieder nicht von Anfang an oder gar nicht spielen? Weshalb wurde ein Maximilian Mittelstädt erst zur 2. Halbzeit eingesetzt und der junge Julian Eitschberger einer vollkommen unnötigen Situation ausgesetzt? Und weshalb wird ein Spieler eingesetzt, dessen Name auch nach dem Spiel dem Trainer vollkommen unbekannt zu sein scheint? Was für peinliche und dramatische Zustände sind das in diesem Klub?

Fredi Bobic: Ist der Ernst der Lage von Hertha bekannt?

Es ist grotesk und macht geradezu aggressiv. Vor allem aber wird man sauer und fühlt sich als Fan von Hertha BSC komplett abgewatscht, bei sämtlichen Äußerungen des Sportvorstands der Hertha. Nach einem 1:6 gegen RB Leipzig die Niederlage schönzureden, war schon ein großes Stück Kunst.

Sich aber nach einer brutalen Derby-Klatsche bockig dem Interview zu stellen, dem Reporter mit schnippigen und süffisanten Antworten entgegenzutreten und die Niederlage praktisch als nichtig zu erklären, weil die Konkurrenz ebenso federn lassen hat, grenzt an einer Realitätsferne, die ihres Gleichen sucht. Fredi Bobic scheint vollkommen überfordert zu sein mit der Situation. Diesen unausgeglichen, ohne Qualität ausgestatteten Kader, der sämtlichen Charakter vermissen lässt, hat leider er zu großen Teilen mit zu verantworten.

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(Photo by ODD ANDERSEN/AFP via Getty Images)

Ob er, wie im Interview behauptet, wirklich nicht sein Trikot den Fans gegeben hätte, darf genauso hinterfragt werden. Auch in diesem Punkt scheint er in keiner Weise nachvollziehen zu können, unter welchem Druck die Mannschaft, die Spieler, ja einzelne Menschen, stehen. Fredi Bobic ist ganz weit weg von der Mannschaft und den Individuen dieses Vereins. Er scheint die Strömungen weder zu begreifen noch einordnen zu können und ist damit momentan nicht im Geringsten eine Hilfe im Abstiegskampf.

In der Niederlage zeigt man sein wahres Gesicht

Wie kann es sein, dass ein 20-jähriger Torhüter, der nur wenige Bundesligaspiele auf dem Buckel hat und im Sommer nach Dortmund wechselt, die emotionalsten Worte verliert? Wo ist der Kapitän, wo sind gestandene Spieler, die sich vor die Mannschaft stellen und den Geist des Teams beschwören oder sich äußern, weshalb es wieder einmal fehlgeschlagen ist?

Wieso muss ein Marcel Lotka, den Tränen nahe und um Argumente ringend im Interview stehen und praktisch darum betteln, dass die Mannschaft nicht absteigt? Wieso verlässt seit Jahren ein Dedryck Boyata als Kapitän Spiel für Spiel, Niederlage für Niederlage, als aller erstes den Platz und hat sich noch nie einem Interview gestellt? Warum äußern sich keine gestandenen Spieler wie Vladimir Darida, Ishak Belfodil oder Stevan Jovetic?

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(Photo by TOBIAS SCHWARZ/AFP via Getty Images)

Bei Hertha BSC gibt es keine Hierarchie, ja nicht einmal nennenswerte Identifikation, das wurde wieder einmal klar. Maximilian Mittelstädt schien das Sprachrohr zwischen Mannschaft und Fans zu sein, doch auch das wollte er im Interview nicht mehr ausführen. Die Verantwortung will keiner haben, sie wird einfach weitergeschoben, wo es nur geht. Im Abstiegskampf muss es genau diese Führungsspieler geben, denn sonst wird es ganz dunkel und vor dieser Dunkelheit steht die Hertha unmittelbar.

Die Identifikation mit dem Verein hat Potential

So oft wie schon von Tiefpunkten in dieser Saison gesprochen wurde, kann es eigentlich kaum sein, dass es noch schlimmer kommt. Aber wie wir sehen, kann das jede Woche tatsächlich der Fall sein. Die brutale Niederlage gegen Union Berlin gilt nicht nur als einer der Tiefpunkte der Saison. Sie gilt als ein Tiefpunkt vieler Jahre. In diesem Derby ist etwas zerbrochen, was zwar schon lange bröckelte, aber nun lauter und härter denn je nur so zerschellte.

Doch so viel wie in den letzten Jahren bei Hertha BSC schieflief, gibt es eine Sache, die in diesem Club besser läuft denn je und was wieder ein Aushängeschild und klarer Weg des Vereins werden muss. Die Jugendarbeit. Im Derby standen mit Marcel Lotka, Julian Eitschberger, Linus Gechter, Marton Dardai und Maximilian Mittelstädt fünf Eigengewächse auf dem Feld. Ihnen ganz besonders merkt man das Engagement und das Leid an. Sie alle sind talentierte Fußballer, die den Verein sehr weit führen könnten, doch es muss verdammt viel in anderen Bereichen passieren, dass das wirklich möglich sein kann.

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(Photo by Boris Streubel/Getty Images)

Doch sollte das eines Tages auch auf fruchtbaren Boden stoßen, kriegt man auch die aktuell stark leidende Verbindung zu den Fans wieder hin. In dieser Hinsicht zumindest bietet Hertha BSC einiges, was Potential birgt. Doch die zahlreichen Baustellen sind momentan woanders. Und sie gilt es verdammt nochmal schnell zu beenden.

[Titelbild:TOBIAS SCHWARZ/AFP via Getty Images]

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ÜBER DEN AUTOR

Johannes Boldt

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