Herthas Hymnen-Historie
Wenn Hertha am kommenden Wochenende in Köpenick aufläuft, wird natürlich nicht unser Stadionsong „Nur nach Hause“ von Frank Zander gespielt. Trotzdem bieten Derbys immer die Gelegenheit, sich mit den Identifikationsfaktoren seines Vereins auseinanderzusetzen. Ein solcher Faktor ist die Vereinshymne, die Tausende gemeinsam singen, wenn das Team den Platz betritt. In Herthas Fall hat diese Hymne eine durchaus interessante Historie vorzuweisen, in der der Klub selbst nicht immer die beste Rolle spielte.
Nur nach Hause – so simpel wie emotional
Fragt man Herthafans nach ihren emotionalsten Stadion-Momenten, geht es oft gar nicht um das Spiel selbst, sondern das Auflaufen der Mannschaften auf den Rasen des Olympiastadions. Denn in diesem Moment singt das Stadion traditionell gemeinsam „Nur nach Hause“ von Frank Zander. Objektiv betrachtet hat der Song wenig Originelles: Schließlich ist es eine Cover-Melodie, die sich Zander bei Rod Stewart („We are Sailing“) abgeschaut hat. Und auch der Textinhalt ist nicht allzu komplex. Aber das Lied berührt uns Herthaner. Es spricht auf sehr emotionaler Ebene das an, was uns Herthaner zusammenhält. Dass man auch nach Niederlagen und sportlichen Krisen doch wieder zusammenkommt und noch ein gemeinsames Bier trinkt, bevor man irgendwann nach Hause geht.
Aber wie lange singen die Herthafans dieses Lied eigentlich schon? Wie ist es entstanden? Und welche Fan-relevanten Lieder gab es vorher und währenddessen? Klar ist, dass Herthas Hymnen-Historie vor „Nur nach Hause“ recht schnell erzählt ist. Denn: Nach 1961 gab es schlichtweg nur einen einzigen Song, der vor Hertha-Spielen im Olympiastadion ertönte, und zwar „Blau-weiße Hertha“ von den „Drei Travellers“.
Die „Travellers“ waren ein Berliner Trio, das in den Nachkriegsjahren entstand und sich bis tief in die 1970er-Jahre hinein als deutschlandweit bekannte Gesangs- und Kabarettgruppe einen Namen machte – insbesondere in den 1950er-Jahren fielen die drei Berliner durch zeitkritische, pazifistische Texte auf, weil sie sich beispielsweise in ihren Liedern gegen die Remilitarisierung Deutschlands nach dem 2. Weltkrieg aussprachen. Warum sich das Trio 1961 dann daran machte einen Song für Hertha zu komponieren, ist nicht bekannt. Aus Geschichtsbüchern geht aber hervor, dass dem Verein das Lied so gut gefiel, dass man „Blau-weiße Hertha“ noch im selben Jahr zur offiziellen Vereinshymne machte. Und obwohl in dem Lied noch von der Weddinger „Plumpe“, dem alten Hertha-Stadion gesungen wird, wird es heute noch im Olympiastadion gespielt.
„Eine Hymne entsteht, so etwas kann man nicht vorhersehen“
Doch dann kam das Jahr 1993 und der unglaubliche Auftritt der „Hertha-Bubis“ im DFB-Pokal. Während Herthas Profimannschaft im Achtelfinale gegen den späteren Finalisten Bayer Leverkusen ausschied, setzten sich die Amateure Runde für Runde durch, unter anderem gegen Bundesligisten wie den 1. FC Nürnberg, um dann im Halbfinale im Heimspiel gegen den Chemnitzer FC antreten zu müssen.
Vor diesem Spiel kontaktiere die damalige Klubführung den gebürtigen West-Berliner Frank Zander und bat ihn, vor dem Spiel vor der Ostkurve ein paar Lieder anzustimmen. Zander ist bekennender Herthafan und war Anfang der 1990er-Jahre durch seinen Song „Hier kommt Kurt“ bekanntgeworden. In Interviews beschreibt Zander, dass er „Nur nach Hause“ schon einige Jahre zuvor coverte und auch einen neuen Text für das Lied schrieb – allerdings noch ohne Hertha-Bezug.
Erst in der Nacht vor dem Halbfinale texte er den Song dann nochmals um und dichtete die Zeilen, die wir alle bis heute im Stadion singen. Und Zander traf damit sofort die blau-weiße Seele: Noch während der Erstaufführung des Songs im Stadion streckten die Fans ihre Schals in die Höhe und sangen den Refrain mit.
„Eine Hymne entsteht, so etwas kann man nicht vorhersehen“, sagte Zander vor einigen Jahren in einem „Welt“-Interview. In diesem Moment im März 1993 ist im Berliner Olympiastadion genau das passiert. Der Rest ist Geschichte: Der Song wurde professionell aufgenommen und wird seitdem beim Einlaufen der Teams gesungen.
Eine andere Hymne Seeed eben nicht
Dass „Nur nach Hause“ auch heute noch der Fansong Nummer eins ist, ist aber keine Selbstverständlichkeit. Denn komischerweise war es schon zweimal die Klubführung selbst, die den Song verbannen bzw. an den Rand stellen wollte. 2006 war es Herthas damaliger Manager Dieter Hoeneß, der in Interviews mit der Idee kokettierte, der Berliner Szene-Band Seeed den Auftrag zu erteilen, eine neue Fanhymne zu schreiben.
Schon damals beschwerte sich die Fanszene massiv – auch Zander zeigte sich enttäuscht, und so wurde der Plan wieder eingestellt. 2018 folgte dann ein erneuter Anlauf des Vereins, den Zander-Song zu entwerten. Herthas Marketing-Experte Paul Keuter kokettierte nicht nur mit einer Hymne von Seeed, sondern schaffte gleich Fakten. Vor dem ersten Heimspiel der Saison 2018/2019 teilte Hertha via Mail seinen Mitgliedern mit, dass man „Nur nach Hause“ ins Vorporgramm der Spiele lege, um „Dickes B“ während des Einlaufens zu spielen. In der Fanszene resultierte das in purer Entrüstung. Schon vor dem Spiel hissten die Ostkurven-Fans ein Banner mit der Aufschrift: „Nur nach Hause – Jetzt!“. Hertha musste reagieren und stellte das Programm wieder um – seitdem gab es keine Änderungen mehr.
“Hey, was geht ab?! Wir feiern die Meisterschaft!”
Nur ein einziges Mal in den vergangenen knapp 30 Jahren hätte es ein Lied fast geschafft, diesen von Frank Zander beschriebenen, magischen Moment zu knacken, um zur neuen Fanhymne zu werden. Frühjahr 2009: Hertha stand unter Lucien Favre etwa zehn Spieltage vor Saisonschluss auf Platz eins der Tabelle und hatte wirklich gute Aussichten auf die Meisterschaft.
Die Berliner Band „Die Atzen“ hatten kurz zuvor den Partyhit „Hey, das geht ab. Wir feiern die ganze Nacht“ herausgebracht. Die Ostkurve dichtete den Song um und sang Spiel für Spiel „Hey, das geht ab! Wir holen die Meisterschaft!“. Die Situation eskalierte im April 2019, als die Atzen dann selbst IN die Ostkurve kamen, sich das Mikro schnappten und das Lied gemeinsam mit den Fans sangen. Pure Ekstase.
Leider nur war es dann die Mannschaft, die verhinderte, dass sich der Song etablierte. Denn wie wir alle wissen, verlor Hertha dien letzten Saisonspiele, rutschte Platz für Platz ab und verpasste am letzten Spieltag bei bereits abgestiegenen Karlsruhern sogar den Champions-League-Einzug. In der folgenden Saison spielte das Team dann ab Spieltag eins gegen den Abstieg – der auf die Meisterschaft bezogene Songtext ergab vor diesem Hintergrund keinen Sinn mehr. Nur in der Rückrunde der ersten Abstiegssaison gab es noch Versuche, den Song als “Hey, das(was) gebt ab, die Hertha steigt niemals ab!” weiterzutragen. Sollte Hertha doch nochmal in diese Tabellenregionen vorstoßen, kann es aber gut sein, dass genau dieses Lied ein Revival erfährt.
[Titelbild: Maja Hitij/Getty Images]
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