Vorschau: Selbstbewusste Herthaner gegen den Vizemeister
„Wir haben grundsätzliches Verständnis für die Bedürfnisse der Verbände und Nationalmannschaften. Aber gerade in diesen Zeiten kommen Spieler an ihre Belastungsgrenzen und insbesondere die Sinnhaftigkeit von Freundschaftsspielen kann man hinterfragen.“ Viel treffender als Michael Preetz es auf der jüngsten Spieltagspressekonferenz fomulierte, kann man es kaum zusammenfassen. Inmitten einer Pandemie werden Spieler um die halbe Welt geschickt, um unter anderem ein Turnier zu spielen, von dem eigentlich niemand weiß, was es da zu gewinnen gibt. Dann obendrein neben diesem “Turnier“ auch noch Freundschaftsspiele anzusetzen – also im Endeffekt Spiele, die ebenso bedeutungslos sind wie die Nations League, nur dass der UEFA hierfür bislang noch kein Fantasiewettbewerb eingefallen ist, der dem Ganzen künstlich Wichtigkeit verleiht – setzt der Absurdität die Krone auf.
Während man früher immer nur darum bangte, dass sich ja kein Spieler der eigenen Mannschat verletzten möge, muss man nun hoffen, dass alle Corona-frei zurückkehren. What a time to be alive. Doch immerhin gibt es Licht am Ende des Tunnels, denn glücklicherweise findet das nächste Länderspiel erst im März statt. Bis dahin hat Hertha also reichlich Zeit, dort anzuknüpfen, wo vor der Unterbrechung aufgehört wurde. Nach zuletzt vier Punkten aus zwei Spielen mit jeweils sehr überzeugenden Auftritten befindet sich das Team von Bruno Labbadia im Aufschwung. Dieser soll nun – trotz anstehender Herkulesaufgabe – fortgesetzt werden. Am Samstagabend geht es gegen den amtierenden Vizemeister aus Dortmund.
Um einen detaillierten Einblick in die aktuelle Lage bei Borussia Dortmund zu bekommen, haben wir mit BVB-Experte Julius gesprochen.
Der einzige Hoffnungsträger im Kampf gegen das Imperium
So langsam fühlt es sich an wie bei „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Jahr um Jahr träumt der neutrale Fußballfan davon, dass es endlich mal ein Meisterrennen mit offenem Ausgang geben möge und setzt seine Hoffnungen dabei naturgemäß in den einzigen Verein, der berechtigte Ambitionen auf den Titel haben kann und nicht gleichzeitig von den Brausemillionen eines Rechtspopulisten in die Liga gekauft wurde – nur um dann Jahr ein Jahr aus wieder der Realität ins Auge blicken zu müssen, die lautet, dass am Branchenprimus aus München nun mal kein Vorbeikommen ist.
Auch in diesem Jahr keimt dieses kleine Fünkchen Hoffnung an so mancher Stelle wieder auf. Immerhin hat der FC Bayern einen gewissen Thiago an die Konkurrenz aus Liverpool verloren. Auch Philippe Countinho und Ivan Perisic wurden nach ihren Leihen wieder abgegeben. Zudem fällt Joshua Kimmich nach zugezogenem Meniskussschaden im Spiel gegen den BVB voraussichtlich bis Januar aus. Weniger optimistische Menschen könnten entgegnen, dass sich die Bayern in Person von unter anderem Leroy Sané jetzt allerdings auch nicht allzu verkehrt verstärkt haben. Aber an irgendetwas muss man sich ja hochziehen. Und dieser Umstand ist in dem Fall, dass der BVB im Gegensatz zu den Münchenern lediglich die Real-Leihgabe Achraf Hakimi hat abgegeben müssen, während alle übrigen Leistungsträger – allen voran Jadon Sancho, den viele schon in Manchester sahen – der Borussia erhalten geblieben sind.
Hierin besteht auch laut Julius der Trumpf in der aktuellen Spielzeit: „Was besonders positiv heraussticht und den Transfersommer zu einem, meiner Meinung nach, sehr gutem Transfersommer macht, ist die Tatsache, dass das Team größtenteils zusammengehalten wurde. Zu oft wurden in der Vergangenheit gefühlt die Hälfte einer Mannschaft innerhalb von einem Jahr durchgerauscht. Wenn man sich kontinuierlich verbessern will, braucht man in allen Bereichen Kontinuität. Zusätzlich hat man mit Jude Bellingham in einer komplizierten Wirtschaftslage eines der begehrtesten Talente der Fußballwelt verpflichten können und auch seine Leistungen in Schwarzgelb unterstreichen dies nochmal.“
Das verflixte zweite Gesicht
So darf beim Blick auf den Kader und auch angesichts von bislang lediglich drei Punkten Rückstand auf den FC Bayern also durchaus weiterhin auf ein spannendes Meisterrennen gehofft werden – wäre da nicht dieses zweite Gesicht, das der BVB partout nicht abstellen will. Nichts veranschaulicht diese zwei Gesichter des BVB so schön wie die ersten beiden Spieltage. Zum Saisonauftakt empfing der BVB daheim Borussia Mönchengladbach – die Positivüberraschung der vorangegangenen Spielzeit und ein Team, dem viele insbesondere dank Trainer Marco Rose in dieser Saison einiges zutrauen. Den BVB ließen die Vorschusslorbeeren für den Gegner indes kalt. Im Stile einer Spitzenmannschaft fertigten die Schwarz-Gelben Gladbach mit 3:0 ab, ohne wirklich überlegen gewesen zu sein. Aus vier Torschüssen erzielte man drei Treffer.
Genau diese Effizienz wurde eine Woche später jedoch schmerzlich vermisst. Trotz 80 Prozent Ballbesitz unterlagen die Dortmunder mit 0:2 in Augsburg. Einmal mehr – wie schon so oft in den zurückliegenden Jahren – ließ der BVB Punkte liegen, wo es eigentlich nicht passieren darf. So stellt Julius fest: „Diese Verzweiflung speist sich vor allem auch daraus, dass man sich das Zustandekommen einfach nicht wirklich erklären kann. Trainer, Spieler, alles wurde schonmal ausgetauscht, doch diese Aussetzer sind geblieben.
Zumindest in dieser Saison muss man aber fairerweise anmerken, dass die Spiele gegen Augsburg und Lazio zwar auch enttäuscht haben, aber zumindest mich persönlich noch nicht wieder zum Verzweifeln gebracht haben. Dafür war alles vor und nach diesen Niederlagen zu souverän und abgeklärt. Vielleicht müssen wir das zweite Gesicht in dieser Saison ja doch nicht so oft sehen.“ Aus blau-weißer Sicht darf jenes Gesicht aber gern noch zweimal in dieser Saison zum Vorschein kommen.
Verabschiedet sich Favre mit dem Titel?
Dass der BVB trotz dieses begnadeten Kaders immer wieder Leistungsschwankungen unterliegt und es daher noch nicht zum ersten ganz großen Wurf seit 2012 gereicht hat, ist zum einen mit dem jungen Alter von Leistungsträgern wie Sancho, Haaland und Reyna zu erklären. Zum anderen wird aber auch Trainer Lucien Favre immer wieder in die Argumentation mit aufgenommen, wenn es um die Suche nach Gründen für das Ausbleiben von Meisterschaften in den letzten beiden Jahren geht. Dass Favre ein Fußballlehrer ist, an dem sich die Geister scheiden, weiß man als Hertha-Fan nur allzu gut. Unbestritten sind seine Qualitäten als Taktiker und Tüftler. Ebenso bekannt ist aber gleichzeitig auch, dass der Schweizer nicht unbedingt als Menschenfänger bekannt ist. Eine Qualität, der in Dortmund seit Jürgen Klopp (zu) viel Stellenwert beigemessen wird. Immer wieder heißt es, Favre könnte einer Mannschaft nicht die letzten fehlenden Prozentpunkte an Leidenschaft vermitteln, die es braucht, um ein Team zur Meisterschaft zu führen. Wie nachvollziehbar und schlüssig diese Aussagen tatsächlich sind, müssen andere beurteilen.
Fakt ist, dass Favre nach Thomas Tuchel der BVB-Trainer mit dem besten Punkteschnitt ist und die Borussia – nachdem dort zwischenzeitlich unter anderem ein gewisser Peter Stöger im Amt war und den drögesten Fußball seit Thomas Doll hat spielen lassen – wieder zu einem Team mit Titelambitionen und einem klaren Konzept auf dem Platz geführt hat. So fasst auch Julius zusammen: „Einerseits ist es nicht von der Hand zu weisen, dass ein wenig mehr Konstanz im ersten Jahr seiner Amtszeit wohl die Meisterschaft bedeutet hätte, andererseits hat er, was Punkte und Platzierungen angeht, schon das herausgeholt was man von dieser Mannschaft erwartet.
Wer eine Meisterschaft als einziges Kriterium sieht, was über die Leistung eines BVB-Trainers entscheidet, hat wohl ein wenig verschlafen, dass die Bayern auch noch mitspielen. Seine Art scheint manche Fans nicht zufriedenzustellen, auch das darf man nicht außen vor lassen. Am Ende wird es ziemlich sicher auf eine Trennung hinauslaufen, und das ist auch okay, wenn man dann einen mindestens ebenso geeigneten Kandidaten als Nachfolger präsentieren kann. Favre hat dann drei Jahre gute Arbeit geleistet, den BVB als 2. der Liga stabilisiert und einige Youngstars zu Stars geformt, zum ganz großen Wurf hat es aber nicht gereicht. Nur Titel könnten dies noch ändern.“
Nachdem auch Thomas Tuchel nach einem Titel, dem Sieg des DFB-Pokals, gehen musste – gleichwohl die Gründe hier gänzlich anderer Natur waren – wäre es Favre zu wünschen, dass er in seiner (vielleicht) abschließenden Saison bei Borussia Dortmund das nachholt, was ihm mit Hertha vor nunmehr 11 ½ Jahren so haarscharf verwehrt blieb. Aber mit dem Punktesammeln dürfen er und seine Mannschaft sich gern noch eine Woche Zeit lassen.
[Titelbild: Lars Baron/Getty Images]
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