Nader El-Jindaoui: Marketing-Transfer oder sinnvolle sportliche Verstärkung?

Nader El-Jindaoui: Marketing-Transfer oder sinnvolle sportliche Verstärkung?

Viele haben nicht schlecht gestaunt, als Hertha BSC am 03. Juni 2022 Nader El-Jindaoui offiziell für die U23 verpflichtet hat. Schon alleine, dass dies einen eigenen Artikel auf der vereinseigenen Website wert ist, zeigt die mögliche Trag- und Reichweite dieses Transfers. Anders als bei den sonstigen Spielern der zweiten Mannschaft von Hertha ohne Profivertrag, kann von El-Jindaoui sogar ein beflocktes Trikot im Fanshop gekauft werden, was zum Release direkt einen Zusammenbruch des Online-Shops zur Folge hatte. Doch wer ist Nader El-Jindaoui überhaupt und warum hat Hertha ihn verpflichtet?

Ein zweigleisiges Leben

Nader El-Jindaoui ist Influencer und hat über 1,2 Millionen Abonnenten auf Youtube und 1,6 Millionen Follower bei Instagram. Zahlen, von denen man bei Hertha nur träumen dürfte. Der Fußballbundesligist und Hauptstadtverein besitzt mit nicht mal 73.000 Youtube-Abonnenten und 244.000 Instagram Followern nur einen Bruchteil der Social-Media-Reichweite des 25-Jährigen. El-Jindaoui betreibt den eigenen Youtube-Kanal zusammen mit seiner Frau Louisa. Das Ehepaar hat ein Kind und lässt die Follower in Form von Videotagebüchern (sog. Vlogs) am Leben der Familie teilhaben. Die wöchentlich erscheinenden Videos haben Aufrufzahlen von ein bis zwei Millionen. Auch hier zum Vergleich: Herthas Youtube-Videos erreichen im Normalfall zwischen 10.000 und 50.000 Aufrufen.

Doch Nader El-Jindaoui ist gleichzeitig Fußballspieler. Einer, der seit Jahren probiert, von den höchsten Amateurligen in den Profisport zu gelangen. Sein Körper hat ihm ein ums andere Mal einen Strich durch die Rechnung gemacht. Doch dazu später mehr. Ähnlich wie man das Leben des gebürtigen Berliners von außen unter zwei sehr verschiedenen Ansätzen verfolgen kann, wird auch dieser Artikel ebenjene zwei Aspekte thematisieren: Die des Influencers, der von Social Media leben kann und die des (Profi-)fußballers, der fast alles dafür gibt, seinen seit Jahren verfolgten Traum leben zu können.

Die Bedeutung von Social Media für Fußballvereine

Mit der Verpflichtung wird bei Hertha BSC die Hoffnung verbunden sein, dass ein Teil der Reichweite von El-Jindaoui auf den Verein abfärbt. Und zumindest bei den Videos mit und über Jindaoui funktioniert das auch. Sein Vorstellungsvideo sowie der Trainingsauftakt der U23 wurde von einer mittleren sechsstelligen Zuschaueranzahl geklickt (also zehnmal so viel wie „normale“ Videos). Auch rein finanziell dürfte sich der Neuzugang für Hertha lohnen. Wie bereits erwähnt brach die Website des Fanshops nur wenige Minuten nach der Veröffentlichung von El-Jindaouis Trikotnummer und offizieller Beflockung zusammen. Wie hoch die Verkaufszahlen von seinem Trikot am Ende tatsächlich sein werden, wird nur Hertha sagen können. Dass viel Geld eingenommen wird, ist aber sehr wahrscheinlich.

 

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Doch wie viel bringt das mögliche Social-Media-Wachstum am Ende des Tages? Der „traditionelle“ Weg um Fußballfan zu werden ist die Mitnahme ins Stadion durch den Vater, meist im Kindesalter. Natürlich gab und gibt es Ausnahmen, aber auf den überwiegenden Teil der Fans dürfte das zutreffen. Wie wahrscheinlich ist es also, dass durch El-Jindaoui Menschen Fan von Hertha BSC werden, die sonst nichts mit dem Verein zu tun haben? Und bei denen, die Fan werden: wie lange bleibt das der Fall, sobald Jindaoui nicht mehr bei Hertha ist? Die Chance, dass durch seine Verpflichtung neue Fans mit Herz und Seele gewonnen werden, ist tendenziell gering einzuschätzen.

Und trotzdem besteht zumindest die Chance. Social Media wird gerade von Jugendlichen viel genutzt und eventuell gewinnt man so den einen oder anderen Fan, der als Kind oder Jugendlicher sonst niemals mit Hertha in Kontakt gekommen wäre. Je größer und präsenter Hertha in den gängigen sozialen Medien vertreten ist, desto höher ist die Chance, dass sich neue Fans gewinnen lassen. Für den Ausbau ebenjener Aktivitäten könnte die Verpflichtung von Jindaoui ein echter Coup sein.

Ausbildungshelfer bei Hertha II

Dennoch darf die Social-Media-Reichweite von und durch El-Jindaoui kein Selbstzweck sein. Sie darf ebenso wenig der einzige Grund für seine Verpflichtung sein. Am Ende des Tages ist die U23 Herthas zweithöchste Profimannschaft, sie dient der Aus- und Weiterbildung junger Talente sowie deren Heranführung an den Profikader. Die Plätze sind begrenzt und sollten von Spielern gefüllt werden, die sportlichen (Achtung, Klinsmann lässt grüßen) Mehrwert bieten. Ein paar Spieler nehmen jedoch eine etwas andere Rolle ein. Cimo Röcker, Tony Fuchs und Maurice Covic sind alle über 23 und ihre Aufgabe ist es, als sogenannte Ausbildungshelfer den Nachwuchsspielern die nötige Unterstützung für deren sportlichen Werdegang zu geben.

Foto: Tobias Schmidt/Hertha BSC

Auch Nader El-Jindaoui ist bereits 25, somit kein Talent im eigentlichen Sinne mehr. Auch Jugendabteilungsleiter Pablo Thiam sieht in ihm eher einen Spieler, der als Mentor fungieren soll: „Er wird unserer jungen Mannschaft mit seiner Erfahrung extrem guttun.“ Diese Rolle nimmt der im Wedding aufgewachsene Fußballer voll an: „Ich will vorangehen bei den Jungs und ihnen was beibringen.“ Und trotzdem will er sehen, ob nicht doch noch mehr drin ist. In seinem eigenen Video rund um die Vertragsunterschrift sagt er: „Natürlich habe ich den Traum Profi zu werden, und am liebsten würde ich gern Profi in Berlin werden.“ Aber bevor soweit sei, müsse er seine Arbeit machen, gut spielen und dann werde man sehen, für was es am Ende reicht. Aber wie kommt es, dass ein mittlerweile 25-jähriger noch immer vom Profifußball träumt? Dazu ist ein Blick in die sportliche Vergangenheit von Nader El-Jindaoui nötig. Dieser Blick ist einer, der sich lohnt und der das Potential für ein modernes Fußballmärchen bietet. Doch der Reihe nach.

Wenn gesundheitliche Probleme eine Karriere stagnieren lassen

Laut eigener Aussage hat der im Kreuzberg geborene und früh nach Wedding gezogene El-Jindoaui erst mit zwölf Jahren begonnen Fußball zu spielen. Das ist vergleichsweise spät, ein Jessic Ngankam beispielsweise hatte zu diesem Zeitpunkt schon viele Jahre in der Akademie von Hertha BSC verbracht. Seine ersten Vereine waren die Reinickendorfer Füchse und Tennis Borussia. Bereits im Alter von 14 wurde Energie Cottbus auf ihn aufmerksam, die mit ihrer Profimannschaft zu diesem Zeitpunkt noch in der 2. Bundesliga vertreten waren. Mit 17 Jahren erlitt El-Jindaoui jedoch einen Epilepsie- Anfall, der ihn aufgrund falscher Medikation in der Behandlung länger ausfallen ließ. Sein Vertrag in Cottbus wurde nicht verlängert, es folgte ein Intermezzo in Chemnitz, bevor er vereinslos wurde. Seine ständigen Verletzungen machten es dem Linksaußen unmöglich, über längere Zeiträume konstant zu trainieren und zu spielen.

Erst als ein Arzt ihn auf große Zahnprobleme aufmerksam machte und El-Jindaoui diese ziehen ließ, verbesserte sich sein körperlicher Zustand. Dennoch fand er als damals 19-Jähriger keinen Verein, der ihn aufnehmen wollte. Die durchziehende Verletzungsproblematik in der noch jungen Karriere schreckte viele Interessenten ab. Dennoch schaffte es sein Berater Volker Diergardt, dem El-Jindaoui viel zu verdanken hat, ein zweiwöchiges Probetraining beim SV Babelsberg 03 zu organisieren. Die 1. Mannschaft war zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits voll, für El-Jindaoui eigentlich kein Platz mehr. Während des Probetrainings überzeugte er allerdings so sehr, dass ihm dennoch ein Vertrag angeboten wurde. Bereits am nächsten Tag stand El-Jindaoui gegen den BFC Dynamo in der Startelf.

Kurz davor und trotzdem nicht am Ziel

Nach anderthalb Jahren wechselte der wendige und schnelle Flügelspieler von Babelsberg in die zweite Mannschaft von Greuter Fürth. Er sammelte dort seine eigenen Spielszenen, um sich damit in der ersten Mannschaft zu bewerben. Die Verantwortlichen in Fürth waren überzeugt genug, um El-Jindaoui mit ins Trainingslager der Profimannschaft zu nehmen. Während des Trainingslagers verletzte er sich schon am zweiten Tag und musste nach Deutschland zurückkehren. Ein Arzt erklärte ihm, dass es erneut Problem mit seinem Kiefer geben würde. Zum zweiten Mal in seinem Leben stand Nader El-Jindaoui davor, dass seine Fußballkarriere aufgrund gesundheitlicher Probleme endete, bevor sie richtig begonnen hatte.

Es folgte eine kostspielige Operation, die sein Berater ihm finanzierte. El-Jindaoui kämpfte sich erneut zurück und bewarb sich mit seinen Spielszenen beim damaligen Bundesligisten Fortuna Düsseldorf, zunächst wie in Fürth für die zweite Mannschaft. Doch so richtig glücklich wurde er in Düsseldorf nicht, sodass er den Weg zurück nach Berlin antrat. Er entschied sich nach seiner eigenen Darstellung im dritten Anlauf für die Liebe und gegen den Fußball, heiratete seine jetzige Frau und war glücklich wie seit Langem nicht mehr. Der Traum vom Profifußball schien zu bleiben, was er war: Ein Traum.

Endlich glücklich

Es kam jedoch anders. Der Berliner AK meldet sich bei El-Jindaoui und bot ihm einen Vertrag an. Und der mittlerweile auf Youtube bekannte Influencer nahm das Angebot an. Es war zwar kein Profifußball, doch El-Jindaoui war froh, wieder regelmäßig Fußball spielen zu können, ohne Druck, einfach nur aus Freude am Fußball. Und als ob der Fußballgott es nach Jahren des Leidens gut mit ihm meinte, schien er jetzt angekommen zu sein. Rein statistisch lieferte der Flügelflitzer die beiden besten Saisons seiner Karriere ab, erzielte in 55 Spielen 20 Tore und bereitete 18 weitere vor. Die innere Ruhe und Gelassenheit schienen ihn endlich befreit aufspielen zu lassen, er erlitt keine einzige nennenswerte Verletzung.

 

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Mit Ablauf der vergangenen Saison folgt nun der Schritt zu Hertha BSC. El-Jindaoui will es noch einmal wissen. Er will wissen, ob er das Zeug zum Bundesligaspieler hat oder nicht. Doch gleichzeitig ist er nicht mehr verbissen danach, es unbedingt schaffen zu müssen. Mit seinem Social-Media-Auftritt verdient er mehr als genug Geld zum Leben. Die zweite Mannschaft von Hertha bietet ihm eine Plattform, sich zu beweisen. Er kann dort befreit und ohne Druck aufspielen. Qualitativ ist er gut genug, um in der Regionalliga mithalten zu können, das hat er beim BAK ausreichend bewiesen. Parallel bietet er als im Wedding aufgewachsener Straßenkicker Identifikation für die Fans und das Potential zum Führungsspieler in der U23. Und sollte sich herausstellen, dass El-Jindaoui eine ernsthafte Alternative für den Profikader ist, wird er auch dort seine Chance bekommen. Mit seinen Fähigkeiten als offensiver Außenspieler könnte er in eine Lücke stoßen, die bei Hertha seit Jahren besteht.

El-Jindaoui bei Hertha: Die entscheidende Frage

Ist Nader El-Jindaoui nun ein Marketing-Transfer oder tatsächlich eine sportlich sinnvolle Verstärkung? Diese Frage lässt sich recht eindeutig beantworten: sowohl als auch. Die Social-Media-Reichweite und Aufmerksamkeit des millionenfach geklickten Influencers könnte Herthas Auftritt in den Sozialen Medien mehr als guttun. Auch wenn sich damit nicht unmittelbar neue und langfristige Fans gewinnen lassen werden, steigert sich dennoch die Chance, dass Hertha in Zukunft durch die neuen Möglichkeiten von YouTube, Instagram & Co. profitieren wird. Und sei es „nur“ durch bessere Sponsoringmöglichkeiten.

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Foto: Tobias Schmidt/Hertha BSC

Gleichzeitig schlummert in El-Jindaoui unter Umständen tatsächlich das Potential zum Bundesligaspieler. Er bringt einen unmittelbaren sportlichen Mehrwert für die zweite Mannschaft von Hertha BSC, kann als Führungsspieler und Mentor vorgehen. Sollte das Niveau reichen, stellt er unter Umständen sogar eine ernstzunehmende Option für die Profimannschaft dar. Und wer weiß, vielleicht blickt man in ein paar Jahren auf diese Neuverpflichtung zurück, schaut anschließend auf den Rasen des Olympiastadions, auf dem El-Jindaoui gerade das Siegtor geschossen hat und denkt sich: „Es gibt sie noch, die modernen Fußballmärchen.“

Titelbild: Tobias Schmidt/Hertha BSC

Vorstellung von Sandro Schwarz – Aufbruchstimmung

Vorstellung von Sandro Schwarz – Aufbruchstimmung

Neue Saison, neuer Trainer, neues Glück. Nach dem Tanz auf der Rasierklinge und spät gelungenen Klassenerhalt in der vergangenen Saison soll in der kommenden Spielzeit alles anders werden. Auf seiner Antritts-Pressekonferenz hat sich der künftige Cheftrainer von Hertha BSC, Sandro Schwarz, gemeinsam mit Geschäftsführer Fredi Bobic den Medien gestellt. Und dabei einen guten ersten Eindruck hinterlassen.

Unser Artikel zum Startschuss der Sommervorbereitung.

Eine bewegte jüngere Vergangenheit – auf beiden Seiten

Wenn man die Erlebnisse der letzten Wochen und Monate von Sandro Schwarz und Hertha BSC mit einem gemeinsamen Wort beschreiben müsste, wäre „intensiv“ vermutlich eine ziemlich gute Wahl. Während der Hauptstadtklub in den letzten drei Jahren von einer Chaossaison in die andere taumelte, erlebte Schwarz ein ganz persönliches Abenteuer mit Höhen und Tiefen. Im Herbst 2020 hat er mitten zur Corona-Hochzeit in Russland bei Dinamo Moskau angeheuert und dort eine Mannschaft aus dem Tabellenmittelfeld der Liga zu einem Spitzenteam geformt. Mit Start des unsäglichen Angriffskrieges in der Ukraine begann eine emotional schwierige Zeit für Schwarz, er entschied sich jedoch bis Saisonende bei seiner Mannschaft zu bleiben.

Seit Anfang Juni war dann klar, dass Sandro Schwarz neuer Cheftrainer bei Hertha wird. Zu Beginn kritisch beäugt, kristallisierte sich relativ schnell heraus, dass er womöglich genau der Trainer sein kann, den die krisengebeutelten Blau-Weißen gebrauchen können. „Ich freue mich jetzt hier zu sein und bin seit Samstag in Berlin“, stellte sich der neue Übungsleiter lächelnd und dennoch fokussiert vor. Urlaub habe er kaum gehabt, in den letzten zwei Wochen hätte es viele Gespräche mit Mitarbeitenden gegeben. Auch eine Besichtigung der Trainingsplätze und Infrastruktur auf dem Gelände rund um den Schenckendorffplatz stand schon auf dem Plan. Schwarz wirkt trotz fehlender Pause ziemlich ausgeruht, strahlt von Beginn an Zuversicht und eine gewisse Vorfreude aus.

Wunschlösung auf dem Trainerstuhl

Dass es einen Neustart auf der Trainerposition benötigt, stand schon seit längerer Zeit fest. Bereits im letzten Sommer galt Pal Dardai keinesfalls als Wunschlösung von Fredi Bobic. Dies zeigte sich in der Kommunikation von Trainer und Manager auch recht schnell öffentlich. Die anschließenden Lösungen mit Tayfun Korkut und Felix Magath waren jeweils von vornherein bis Saisonende begrenzt. Bobic bestätigte dies auf der Pressekonferenz auch noch einmal selbst: „Für mich war frühzeitig klar, dass wir nach einem neuen Trainer suchen werden.“

Bobic

Photo by Martin Rose/Getty Images

Und auch wenn es mehrere Kandidaten gegeben hätte, wäre die Entwicklung wohl sehr deutlich in Richtung Schwarz gegangen. Aufgrund der Arbeit des gebürtigen Mainzers in Moskau ist Bobic sicher: „Ja, genau jetzt für diesen Zeitpunkt, für diese Situation bei Hertha BSC ist er der richtige Mann.“ Und führt weiter aus: „Ich brauche jemanden der 100 Prozent Überzeugung hat, diese nicht einfache Aufgabe hier bei der Hertha zu übernehmen.“ Zumindest überzeugt scheint Schwarz tatsächlich zu sein, laut eigener Aussage wäre er auch im Falle eines Abstiegs in die zweite Liga zum Hauptstadtklub gekommen.

Endlich ein klares Konzept

Das von Sandro Schwarz ausgerufene Saisonziel sieht auf den ersten Blick erst einmal recht ungewöhnlich aus: „Wenn unsere Zuschauer und Fans unabhängig vom Trikot sehen, dass es eine Hertha-Mannschaft ist, dann ist es eine erfolgreiche Saison.“ Bei genauerem Hinsehen ist dies jedoch genau das Ziel, welches Hertha BSC braucht. Im Vordergrund soll die sportliche Entwicklung stehen und nicht der Tabellenplatz. Realistisch betrachtet darf Europa eh keineswegs der Anspruch sein, dass man nicht absteigen darf, ergibt sich logischerweise von selbst.

Doch wie genau soll der sportliche Weg denn aussehen? Woran soll man die Mannschaft der „Alten Dame“ erkennen? „Es ist mir wichtig, dass wir sehr aktiv sind, dass wir eine sehr gute Struktur in der Arbeit gegen den Ball haben und dort auch mutig sind in unserer Verteidigung sind“, erläutert Schwarz. Nach vorne solle dann sehr zielstrebig gespielt werden. Und auch abseits des Spielerischen verfolgt der ehemalige Mainzer Coach eine klare Philosophie: „Wir wollen auch außerhalb des Platzes sehr geschlossen als Mannschaft auftreten“. Nachdem bei Hertha seit 2019 sieben verschiedene Trainer mit teils unterschiedlichen oder auch überhaupt nicht vorhandenen Konzepten tätig waren, könnte Schwarz die Grundlage für eine bessere Zukunft legen. Der konsequente Plan und die erkennbare Idee des neuen Übungsleiters sind ein elementarer Bestandteil dessen, wofür Hertha in Zukunft stehen soll.

Die Arbeitsweise von Sandro Schwarz

Um diesen Weg bestreiten zu können, wartet viel Arbeit auf den Chefcoach. Und auch dafür verfolgt er einen klaren Prozess: „Unser Anspruch ist es, vom ersten Tag sehr intensiv und fleißig zu sein. Nicht groß zu reden, sondern wirklich mit einer hohen Leistungsbereitschaft zu arbeiten.“ Zu Beginn der Sommervorbereitung stehen dabei klassischerweise die athletischen Grundlagen im Vordergrund, ehe es anschließend nach und nach an die taktischen Feinheiten geht.

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(Photo by Boris Streubel/Getty Images)

Grundsätzlich verfolgt Sandro Schwarz in seiner Arbeit einen sehr strukturierten Ansatz: „Ich bin ein sehr ordnungsliebender Mensch und ich bin der Überzeugung, dass eine gewisse Struktur Energie und Vertrauen gibt.“ Dies gelte sowohl fußballerisch als auch abseits des Feldes. Im Training sei vor allem eine hohe Wiederholungsrate der einzelnen Abläufe geplant. Dennoch will Schwarz seinen Schützlingen fußballerische Kreativität lassen und stellt klar: „Wir müssen den Jungs die Gewissheit geben wie das Spiel zu funktionieren hat, wie wir spielen wollen und dann aber auch es laufen zu lassen und die Freiheit zu geben“

Unterstützt wird er in seiner Arbeit dabei von Daniel Fischer, Volkan Bulut und Tamas Bodog, mit denen er zum Teil schon in Moskau zusammengearbeitet hat. Andres Menger und Vedad Ibisevic, über den Schwarz lobende Wort fand, sowie die bisherigen Athletiktrainer rund um Henrik Kuchno und Hendrik Vieth bleiben Hertha BSC erhalten.

Erneuter Kaderumbruch

Im Gegensatz zum Trainerteam steht der finale Kader derweil noch lange nicht fest. „Es wird wieder Zeit brauchen, bis der Kader komplett ist“, stellt Fredi Bobic klar. Der Markt sei noch relativ träge, insbesondere die Teams aus Südeuropa würden noch etwas Urlaub machen was die Kaderplanung angeht. Es ist als auch dieses Jahr damit zu rechnen, dass die Mannschaft nach Saisonbeginn im August weiter verändert wird und sich eine gewisse Unruhe dadurch nicht vermeiden lassen wird. Dass dies die Arbeit des Trainers erschwert, ist auch Bobic bewusst: „Es ist immer etwas unfair für das Trainerteam.“

Dennoch konnte der Manager heute etwas Einblick in die kommenden Transfers geben. So wird Santiago Ascacibar den Verein bei einem passenden Angebot verlassen dürfen, er wäre bereits während der Rückrunde auf Bobic zugekommen und hätte seinen Wechselwunsch für den Sommer geäußert. Auch Eduard Löwen ist momentan vom Training freigestellt, da er sich in Verhandlungen mit einem Verein befände. Auf der Torwartposition plane man fest mit Oliver Christensen als Stammspieler: „Da haben wir alle ein sehr gutes Gefühl dabei.“ Rune Jarstein ist Stand jetzt als Ersatztorhüter eingeplant, sollten dessen Fitnesswerte in den nächsten Wochen das nicht möglich machen, würde man sich gegebenenfalls auf dieser Position verstärken.

Bezüglich Kevin Prince Boateng konnte Bobic verkünden, dass dieser wohl bleiben wird, es hinge noch an ein paar vertraglichen Kleinigkeiten. Schwarz ist für einen persönliches Austausch mit Boateng sogar vor ein paar Tagen bereits einmal nach Berlin gekommen. Sein Fazit lautet: „Es war ein sehr gutes Gespräch, offen, klar und ehrlich von beiden Seiten aus und ich finde das ist eine gute Basis um weiter sehr gut zusammen zu arbeiten.“

Schwieriger Saisonstart

Dass gearbeitet werden muss, dürfte unzweifelhaft sein. Mit dem Zweitligisten Eintracht Braunschweig im DFB-Pokal und anschließenden Bundesligastart gegen den Stadtrivalen Union Berlin hätte das Auftaktprogramm knackiger kaum sein können. Angesprochen auf das Derby reagiert Schwarz mit der Aussage „Geiles Spiel“, bevor die Frage überhaupt zu Ende gestellt ist. Schon vor dem offiziellen Trainingsauftakt lebt er also vor, mit welcher Einstellung und Mentalität in Zukunft in Berlin-Charlottenburg gearbeitet werden soll.

Braunschweig

Photo by Martin Rose/Getty Images

Gleichzeitig macht er im Laufe der Pressekonferenz mehrmals klar, dass mit Braunschweig noch vor Union ein Gegner wartet, der mitnichten ein Selbstläufer ist. Es wird das bereits dritte Duell der beiden Mannschaften während der ersten Runde des DFB-Pokals in fünf Jahren sein. Mit Blick auf die letzte Begegnung im Sommer 2020, Hertha verlor in einer denkwürdigen Partie mit 4:5, sollte jedem klar sein, dass die von Schwarz gebotene Vorsicht mehr als nur eine Plattitüde ist. Der frische Cheftrainer hat noch sechs Wochen, um die Grundlagen seines Stils in eine vom erneuten Umbruch begleitete Mannschaft einzuarbeiten. Die Aufgabe, sie könnte kaum schwerer sein und dennoch gibt es auf dem Olympiagelände zum ersten Mal seit langem so etwas wie Aufbruchstimmung. Die Saison 2022/23, sie kann kommen.

[Titelbild: THOMAS KIENZLE/AFP via Getty Images]

Hertha BSC und Felix Magath – Eine Zweckgemeinschaft

Hertha BSC und Felix Magath – Eine Zweckgemeinschaft

Die Saison ist vorbei, die Mannschaft von Hertha BSC hat mit einem ungeahnten Kraftakt gegen den HSV über die Relegation die Klasse gehalten. Bereits unmittelbar nach Abpfiff des Rückspiels kündigte Trainer Felix Magath an, dass er bei Hertha nicht weiter machen wolle, das Projekt sei mit Ende des Spiels abgeschlossen. Auch der Nachfolger steht schon fest, Sandro Schwarz wird die Blau-Weißen in der nächsten Saison an der Seitenlinie betreuen. Grund genug, einen Rückblick auf Magath und dessen Zeit in der Hauptstadt zu werfen.

Als ich vor einigen Wochen beschlossen hatte, einen Rückblick über Magath schreiben zu wollen, ahnte ich noch nicht, welchen Rattenschwanz das nach sich ziehen würde. Zu diesem Zeitpunkt hatte Hertha gerade mit 2:0 gegen den VfB Stuttgart gewonnen und ich ging ziemlich sicher davon aus, dass wir mit Ende des 34. Spieltags über dem Strich stehen würden. Bekanntermaßen kam alles anders, Hertha musste zwei weitere Spiele im Kampf um den Platz in der Bundesliga absolvieren. Ausgerechnet gegen DEN Herzensklub von Magath, dem HSV. Ein Szenario, mit dem dieser seit Amtsantritt gerechnet hatte, wie er nach dem 1:1 bei Arminia Bielefeld zugab. Es würde ihn nicht überraschen, wenn es zu dieser Konstellation käme, sagte er. Und er sollte Recht behalten, wie so oft.

Eine überraschende Verkündung

Doch fangen wir vorne an. Also gut, ehrlich gesagt müsste man sehr weit vorne anfangen um zu verstehen, wieso Sportgeschäftsführer Fredi Bobic überhaupt in die Situation kam, Felix Magath an die Seitenlinie der Alten Dame holen zu müssen. Um es kurz zu machen: die bereits zweite Trainerlösung der Saison, Tayfun Korkut, scheiterte krachend, ein Verbleib des deutsch-türkischen Übungsleiters war nach der bis dato sieglosen Rückrunde acht Spieltage vor Schluss untragbar. Etliche Namen kursierten und die Fans stellten sich die berechtigte Frage, welcher Trainer sich die Gemengelage von sportlichem Misserfolg, schiefem Kader und ständigen externen Störgeräuschen freiwillig antun würde.

Photo by JOHN MACDOUGALL/AFP via Getty Images

Und so zauberte Bobic einen Namen aus dem Hut, mit dem niemand ernsthaft gerechnet hätte: Felix Magath. Der Aschaffenburger war zuletzt vor fast zehn Jahren in der Bundesliga tätig. Anschließend folgten eher abenteuerliche Jobs wie die des Global Sports Directors bei den Würzburgers Kickers und Admira Wacker sowie zweifelhafte Auftritte als Cheftrainer in China und bei Fulham. Wie sollte dieser aus der Zeit gefallene Trainer im modernen Fußball bestehen oder gar Hertha BSC vor dem Abstieg retten? Deutschlandweit prasselte Häme, Spott und große Skepsis auf Hertha ein. Und auch die Fans des Charlottenburger Traditionsvereins zeigten sich zu großen Teilen mittelschwer entsetzt, nach Korkut schien dies nun die Krönung der schlechten Leistung von Bobic in dieser Saison zu sein.

Gutes Händchen bei der Staff-Auswahl

Doch schon auf der Antrittspressekonferenz zeigte Magath, dass er keineswegs der senile Rentner ist, den man aus dem Ruhestand zurück ins Rampenlicht der Bundesliga gezerrt hat. Er wirkte sortiert, unaufgeregt und gut vorbereitet. „Ich kann nicht anders. Ich bin Fußballer, ich will Fußball, ich liebe Fußball“, waren eine seiner ersten Worte. Man merkte schnell, dass dieser Mann die Möglichkeit genießt, sich noch einmal beweisen zu können. Auch wenn er das nach seiner spektakulären Meistersaison 2009 und den zahlreichen Rettungsaktionen bei anderen Bundesligisten eigentlich gar nicht mehr nötig hatte. Man spürte, Magath nahm diesen Job aus Überzeugung an und nicht, weil er musste. Die fürstliche Entlohnung von angeblich zwei Millionen Euro bei geglücktem Klassenerhalt spielte sicher auch eine Rolle, war aber wahrscheinlich nicht der Hauptgrund für die Zusage des neuen Übungsleiters.

Der 68-jährige Cheftrainer kam jedoch nicht alleine, sondern brachte Werner Leuthard als Athletiktrainer und Mark Fotheringham als seinen Co mit. Fotheringham und Magath kannten sich aus gemeinsamen Zeiten bei FC Fulham, wo der Schotte damals noch als Spieler tätig war. Und es kam wie es kommen musste: in Berlin angekommen infizierte sich der neue Coach direkt mit Corona, durfte das erste Spiel unter seiner Amtszeit lediglich aus dem Hotel verfolgen. Die Verantwortung im Spiel gegen Hoffenheim kam vor Ort damit dem noch sehr unerfahrenen Mark Fotheringham zu.

Der Mann im Hintergrund

Was anschließend folgte, hätte märchenhafter nicht ablaufen können. Hertha gewann überraschend gegen die TSG mit 3:0, alle drei Tore folgten aus Freistößen von Marvin Plattenhardt. Jenem Plattenhardt, der die letzten Monate und Jahre über immer unsichtbarer wurde. Die vergangenen Glanzzeiten, welche ihm einen Platz bei der WM 2018 beschert hatten, waren längst vergessen. An der Seitenlinie pushte das Duo aus Fotheringham und Offensivtrainer Ibisevic die Mannschaft unermüdlich nach vorne, an Magath dachte während des Spiels niemand. Im Anschluss wurde sein Einfluss jedoch klar, er hatte vor dem Spiel und während der Halbzeit per Video zur Mannschaft gesprochen, war zudem das gesamte Spiel über Funk mit dem Trainerstab von Hertha verbunden.

Photo by ODD ANDERSEN/AFP via Getty Images

Felix Magath hatte damit geschafft, was seinem Vorgänger Korkut in neun Partien davor nicht gelungen war, nämlich einen Sieg in der Rückrunde zu holen. In Berlin war damit zumindest der Glaube an einen möglichen Klassenerhalt wieder da, auch wenn Hertha vor dem Spiel auf dem 17. Tabellenplatz stand. Magath hatte seine erste Duftmarke gesetzt.

Derbydebakel

Ein paar Tage später ging es für die Profis von Hertha in ein Kurztrainingslager. Der Spitzname „Quälix“ kommt schließlich nicht von ungefähr. In Harsewinkel sollten die konditionellen Grundlagen für den Abstiegskampf im Rest der Saison gelegt werden. Das anschließende Spiel in Leverkusen ging knapp, aber verdient verloren. Hertha zeigte sich zwar engagiert, allerdings fehlte schlussendlich die Qualität, um sich gegen einen Champions-League-Aspiranten ernsthaft wehren zu können.

Spätestens nach dem verlorenen Derby gegen Union war von der positiven Stimmung seit Magaths Amtsantritt jeglicher Hauch verflogen. Auch der dritte Trainer der Saison schaffte es nicht, die Mannschaft in Derbystimmung zu versetzen. Die Kulisse im erstmals seit über zwei Jahren wieder ausverkauften Olympiastadion hätte besser nicht sein können, doch die Herthaner enttäuschten auf ganzer Linie. Mit 1:4 ging man regelrecht unter, bei Magath offenbarte sich erstmals eine Schwäche, die bis zum Hinspiel der Relegation immer wieder vortreten sollte: Fragwürdige Personalentscheidungen. Trotz eines fitten Maxi Mittelstädts brachte Felix Magath den 18-jährigen Julian Eitschberger von Anfang an. Der Youngster feiert somit ausgerechnet in einem der mit Abstand wichtigsten Spiele sein Profidebüt. Und wenn das alleine schon nicht reichen würde, geschah dies noch dazu auf einer Position, auf der Eitschberger als nomineller Rechtsverteidiger normalerweise gar nicht spielt.

Photo by Boris Streubel/Getty Images

Magath hatte sich eindeutig verzockt, war er vielleicht doch nicht der richtige Mann in dieser Situation? Spätestens jetzt war klar, dass der Sieg gegen Hoffenheim nur bedingt mit dem neuen Cheftrainer zu tun hatte. Zu sehr zeigten sich altbekannte Probleme des Teams wie beispielsweise fehlende offensive Kreativität und defensive Instabilität. Ein Wunderheiler war Felix M. definitiv nicht, doch wirklich verübeln konnte man es ihm persönlich auch nicht. Kein Trainer der Welt ist in der Lage, einen komplett schief zusammengestellten Kader mitten in der Saison zum Funktionieren zu bringen, die Probleme lagen dafür viel zu tief. In der allgemeinen Katerstimmung inklusive der kritikwürdigen Trikotaktion einiger Fans verblieb lediglich der Funken Hoffnung, dass jede weitere Woche mehr Zeit bringt, damit Magath wenigstens kleine Stellschrauben verändern kann.

Erkennbare Fortschritte gegen die direkten Konkurrenten

Und er veränderte sie. In den richtungsweisenden Partien gegen die direkten Konkurrenten FC Augsburg, VfB Stuttgart und Arminia Bielefeld präsentierte sich das Team von Hertha BSC wie ausgewechselt. Kampf, Leidenschaft und Wille waren auf einmal erkennbar. Auch wenn die fußballerische Idee weiterhin sehr simpel war. Man verteidigte kompakt, legte den Fokus stark auf die Defensive. Durch gezielte Konter und Flanken auf Davie Selke sollte Nadelstiche nach vorne gesetzt werden. Auch Standardsituationen stellten ein Mittel zum Erzielen von Toren dar. Dabei half natürlich, dass die Qualität der Gegner sich näher an Hertha orientierte, als es in den Spielen gegen Leverkusen und Union der Fall war. Auch die Spielverläufe lagen Hertha teilweise zu Gunsten. In Augsburg half ein einziger genialer Moment von Richter und Serdar direkt nach der Pause, gegen Stuttgart ging Hertha bereits in der vierten Minute durch Selke in Führung. Das sehr späte 2:0 ändert nur noch die Höhe des Siegs. Beim Auswärtsspiel auf der Alm in Bielefeld schoss Hertha das Führungstor nach einem Standard durch den vorhin bereits erwähnten Marvin Plattenhardt.

Doch was hatte Magath damit zu tun? Welche Veränderungen halfen der stark verunsicherten Mannschaft? Auffällig sind vor allem drei Dinge: Die Konstanz der gewählten Startaufstellung, das Hauptaugenmerk auf defensive Stabilität und Kevin-Prince Boateng.

Die beiden ersten Punkte bedingen sich dabei ein Stück gegenseitig. Wenn die Spieler wissen, wer neben ihnen steht, fällt die Abstimmung und damit auch das gemeinsame Verteidigen leichter. Die fehlende Konstanz, vor allem in der Innenverteidigung, führte oft zu großen Unsicherheiten und individuellen Fehlern. Magath setzte durchgängig auf die beiden erfahrenen Spieler Marc-Oliver Kempf und Kapitän Dedryck Boyata. Beide zeigten sich von Spiel zu Spiel sicherer. Hinzu kam die Doppelsechs bestehend aus Santiago Ascacibar und Lucas Tousart. Hertha hielt das Zentrum in der Folge oftmals und stand somit deutlich stabiler als im gesamten bisherigen Saisonverlauf. Man hatte endlich den Eindruck, dass die Spieler wüssten, welche Rolle und Aufgaben sie auf dem Feld einzunehmen hatten. Ein Verdienst, der maßgeblich auf Magath zurückgehen dürfte.

Wie der Phoenix aus der Asche

Mit der Defensive alleine gewinnt man jedoch keine Partien. Und hier kommt Prince Boateng ins Spiel. Jener Prince, der in den 29 Spieltagen vor dem Augsburg-Spiel insgesamt lediglich 422 Minuten auf dem Feld stand. Im Saisonendspurt folgten hingegen 361 weitere Minuten. Boateng brachte viele Eigenschaften mit, die Hertha während der gesamten Saison fehlten: Ballsicherheit, Spielkontrolle, offensive Kreativität und Leidenschaft. Von Magath als einziger wirklicher Führungsspieler im Kader identifiziert, zeigte dieser, warum man ihn vor der Saison geholt hat. Von außen betrachtet muss sich die Frage aufdrängen, ob Dardai und Korkut zu zögerlich waren, um Boateng reinzuwerfen oder ob dieser tatsächlich erst zum Saisonende wirklich fit wurde. Es ist schwer diese Frage ohne Einblicke ins Training und die exakte Belastungssteuerung zu beantworten – auffällig ist dennoch, dass von allen Trainern in dieser Saison erst Felix Magath den Mut besaß, voll auf Boateng zu setzen. Und der Prince zahlte dieses Vertrauen zurück.

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Psychospielchen und vergebene Chancen

Nach dem so späten wie unnötigen Ausgleichstreffer in Bielefeld verblieben Hertha noch zwei Matchbälle um den Klassenerhalt aus eigener Kraft festzumachen. Auf der Pressekonferenz nach dem Spiel gab es vor allem zwei erwähnenswerte Äußerungen von Herthas Cheftrainer. Zum einen offenbarte er, dass er bereits mit Amtsantritt mit einer Relegation gegen den HSV rechnete. Ein Szenario, welches sich zwei Wochen später bewahrheiten sollte. Zum anderen stichelte Magath in Richtung seines ehemaligen Vereins Bayern München. Der feststehende Meister zeigte sich jedoch bis auf verbale Erwiderungen nicht wirklich beeindruckt, die Leistung gegen Stuttgart war weit von einer meisterwürdigen Form entfernt.

Da Hertha auf der anderen Seite bereits vor dem Spiel der Stuttgarter in der Allianz Arena selbst gegen Mainz verlor und auch das entscheidende Duell gegen den BVB am letzten Spieltag nicht für sich entscheiden konnte, musste der Weg in die Relegation gegangen werden. Dass der VfB Stuttgart sich selbst erst in der Nachspielzeit rettete, hinterlässt vor allem für Hertha-Fans einen faden Beigeschmack. Allerdings muss festgehalten werden, dass Hertha es über mehrere Spieltage selbst in der Hand hatte die Klasse zu halten. In den letzten drei Begegnungen am Stück kassierte man jeweils das entscheidende Gegentor in den letzten zehn Minuten. Ein Konzentrationsabfall, der nicht zum ersten Mal in dieser Spielzeit auftauchte, man erinnere sich an die Spiele gegen Wolfsburg, Leverkusen und Augsburg in der Hinrunde. Auch Magath zeigte sich in dieser Hinsicht recht machtlos. Er schaffte es nicht, der Mannschaft klar zu machen, dass ein Spiel 90 Minuten plus Nachspielzeit läuft. Ein Kritikpunkt, den sich der Coach gefallen lassen muss, dafür trat das Problem im Saisonschluss zu häufig auf.

Arbeitsverweigerung gegen den HSV

Und so ging es wie von Magath prophezeit gegen den Hamburger SV in die Relegation. Die Norddeutschen hatten ihre Hoffnung auf den Aufstieg eigentlich schon begraben, ehe sie mit fünf Siegen aus den letzten fünf Spielen überraschend noch auf den dritten Platz schafften. Die Mannschaft von Tim Walter stellt in gewisser Hinsicht das Gegenstück zu Hertha dar. Während die Berliner durch ihre defensive Spielweise auffielen, zeigte sich Hamburg während der Saison äußerst spielfreudig, kombinationsstark und offensiv ausgerichtet. Mit 64 Toren waren sie die drittgefährlichste Mannschaft im deutschen Unterhaus, gleichzeitig waren sie mit gerade einmal 35 Gegentoren das defensivstärkste Team.

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Im Hinspiel präsentierte sich Hertha vor ausverkauftem Olympiastadion äußerst ungefährlich und ambitionslos. Hamburg hatte mehr Aktionen, ohne dabei selbst jedoch wirklich zwingend zu werden. Durch eine missglückte Flanke erzielte Ludovit Reis eher zufällig das Siegtor für die Hanseaten. Magath schien es versäumt zu haben, der Mannschaft von Hertha klar zu machen, WIE wichtig die Relegationsspiele waren. Mit Wollschläger brachte Magath erneut wie schon gegen Union einen Nachwuchsspieler in einer Situation von Beginn an, die für ein solches Startelfdebüt gänzlich ungeeignet ist. Nachdem Wollschläger bereits in Bielefeld den Vorzug vor Belfodil erhalten hatte und maßgeblich am verpassten 2:0 beteiligt war, sollte er im ersten von zwei Endspielen um den Klassenerhalt die Sturmhoffnung darstellen. Man kann Wollschläger dafür keinen Vorwurf machen, genauso wenig wie für seine Einwechslung auf der Alm. Doch Magath steht für diese Entscheidungen zu 100 Prozent in der Verantwortung. Es entstand erneut der Eindruck, dass sich der Übungsleiter verschätzt hatte. In einer Situation in der ein solcher Fehler nicht zu tolerieren ist, noch dazu von jemanden, der die Erfahrung mehrerer Jahrzehnte als Spieler und Trainer vorzuweisen hat.

Am Ende reicht es

Doch im Rückspiel zeigte Magath dann, dass genau diese Erfahrung schlussendlich doch einer der entscheidende Faktoren zum Klassenerhalt war. Direkt nach Schlusspfiff gab er in einem Interview recht unumwunden zu, dass der von ihm so geschätzte Boateng zum Großteil für die Mannschaftsaufstellung verantwortlich war. Es erfordert eine gewisse Art der Größe seinen Spielern dermaßen zu vertrauen und eine der Kernaufgaben des Trainers, die Auswahl der Startelf, aus der Hand zu geben. Außerdem schien er vor dem Spiel die richtigen Worte gefunden zu haben, es war in vielen Belangen der vielleicht beste Auftritt der Hertha in dieser Saison. Plattenhardts Freistoß für die Ewigkeit steht symbolisch für das, was Magath in seinen zehn Wochen bei Hertha geschafft hat. Er hat den Spielern den Glauben an sich selbst zurück gegeben und diese zahlten es ihm mit den besten Leistungen der Spielzeit zurück. Boyata, Boateng, Selke, Tousart und ebenjener Plattenhardt stehen etwas symbolisch dafür, dass in diesem Team durchaus fähige Spieler vorhanden sind, es oftmals aber zusammen einfach nicht funktioniert hat. Diese über die letzten Monate im Großen und Ganzen gegangene Entwicklung, sowohl auf individueller als auch gesamtmannschaftlicher Ebene ist Magath hoch anzurechnen. Es lief nicht alles rund, auch die Trainerlegende konnte nicht alle Probleme des Kaders beheben. Doch dies ist auch nicht der Maßstab, an dem er zu messen ist. In Anbetracht der sportlichen Situation bei Magaths Amtsantritt und dem geschafften Klassenerhalt Ende Mai ist festzuhalten, dass Magath genug richtig gemacht hat, damit die Blau-Weißen auch im nächsten in der Bundesliga spielen dürfen.

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Keine Liebesgeschichte

Mit Schlusspfiff im Volksparkstadion war das Projekt Magaths beendet, dies bestätigte er vor den Mikrophonen selbst. Das sportliche Ende war jedoch noch nicht der endgültige Abschluss des gemeinsamen Kapitels. Wenige Tage später erschien beim Kicker ein Interview, in dem der Übungsleiter vergleichsweise offen über seine Zeit bei Hertha und die vielen tieferliegenden Probleme bei Hertha sprach. Er bemängelte die fehlende Hilfe im Verein, den schief zusammen gestellten Kader, welcher etliche Problemstellen aufweise und dass bei Hertha jeder zum größten Teil an sich selbst denken würde. Einen Eindruck, den vermutlich auch viele Fans von außen vorher schon hatten. Magath hat Hertha einmal mehr aufgezeigt, dass der geschaffte Verbleib in Deutschlands höchster Spielklasse lediglich den Anfang eines Prozesses darstellt. Ein Prozess den Hertha BSC dringend bedarf, um endlich langfristig besser aufgestellt zu sein. Das betrifft sowohl die Führungsebene als auch im Kader.

Magath scheint auch nach diesen zusammenschweißenden Wochen eine Distanz zum Charlottenburger Verein bewahrt zu haben. Am Ende war die Einstellung Magaths die richtige Entscheidung von Fredi Bobic, doch es scheint nicht als ob Magath langfristig viel positives mit diesem Intermezzo verbinden wird. Und so war es am Ende vor allem eins: eine Zweckgemeinschaft. Magath konnte es noch einmal allen beweisen, Hertha konnte in der Bundesliga bleiben. Eine Zusammenarbeit von der beide Seiten profitierten, doch nach nur drei Monaten gehen beide auch wieder getrennte Wege. Was sehr wahrscheinlich die richtige Entscheidung für jeden Beteiligten ist. Magath war bei Weitem nicht perfekt, aber er hat seine Aufgabe erfüllt und daher muss man vor allem eins sagen: DANKE Felix Magath.

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Hertha BSC – Das Grab für jeden Optimisten

Hertha BSC – Das Grab für jeden Optimisten

Es ist 18:24, ich sitze von Bergen umringt an einem kleinen See auf ca. 1.500m Höhe in den französischen Alpen. Die Abendsonne scheint, man hört Vogelgezwitscher und die Welt scheint wunderbar und friedlich. Doch der Kontrast zwischen äußerer Umgebung und innerer Gefühlslage könnte größer nicht sein. Ein kleiner Text über den heutigen Spieltag, die Saison von Hertha und dem Leid eines Menschen, der sich selbst als Optimisten bezeichnen würde.

Hertha, du tust weh

Eigentlich hatte ich nicht geplant, in diesen Wochen einen Text für Hertha BASE zu schreiben. Befinde ich mich immerhin in meinen Flitterwochen und bereise Europa mit dem Wohnmobil. Daher kommt es auch, dass ich das letzte Saisonspiel meiner Hertha nicht gucken kann. Und wenn ich ehrlich bin, war ich froh drum. Ich wusste seit Tagen, dass das heute ein emotionaler Krimi wird, gänzlich unabhängig vom Ergebnis. Das hat Fußball halt so an sich und macht ihn besonders. Wir können mit ihm und durch ihn emotionale Höhen erleben, wie es kaum eine andere Sache auf der Welt vermag. Doch auf der anderen Seite kann er einem das Herz brechen, wie es ebenfalls nur wenige andere Dinge können. Und ein solcher Tag ist heute.

Sisyphos – nur anders

Wer mich ein wenig kennt, sei es über Twitter, die Podcastfolgen, den Blog hier oder auch persönlich, merkt schnell, dass ich ein tendenziell positiv gestimmter und optimistischer Mensch bin. Das hat so seine Vorteile: Man kann oft mit einem Lächeln und schönen Gedanken durch die Welt spazieren, viel Vorfreude empfinden und sich gut gelaunt fühlen. Doch dem Optimist-Sein findet sich inhärent ein großes Problem wieder: Oft ist die Welt eben nicht so positiv, wie man annimmt oder zumindest annehmen möchte. Und in solchen Momenten wird man regelmäßig enttäuscht, auf den Boden der Tatsachen zurück geschleudert und muss danach versuchen, erneut aufzustehen.

Hertha BSC versteht es so gut wie niemand anders, diesen Kreislauf in rasanter Geschwindigkeit Woche für Woche aufs Neue in Schwung zu bringen. Am Wochenende spielt die Alte Dame scheiße und verliert, oft verdient Man ist den Abend nach dem Spiel geknickt, doch schon ab Sonntagmorgen rede ich mir ein, dass es ja nicht so schlimm sei. Irgendeine Ausrede oder Begründung findet man immer: Der Gegner ist ein Top-6-Klub, der Schiri hat schlecht gepfiffen, man hatte Alu-Pech beim Abschluss oder der Gegner macht das Tor seiner Karriere (looking at you, Vogelsammer im DfB-Pokal). Montag, spätestens Dienstag dann fängt man an sich auf das Spiel am nächsten Wochenende zu freuen, dröhnt sich die Woche über mit Hertha-Content zu und wartet am Morgen des Spieltags gespannt auf den Anpfiff. Nur um wieder zu verlieren. Und wieder, und wieder, und wieder.

Hingeworfene Brotkrumen

Bis irgendwann ein gutes Spiel oder gar ein Sieg dabei ist. Beispielsweise das 3:2 gegen den BVB kurz vor Weihnachten oder ein 3:0 gegen einem zu diesem Zeitpunkt extrem starke TSG aus Hoffenheim, die in den Vorwochen 13 von möglichen 15 Punkten geholt hat. Und so steigt das gesamte Grundniveau des Optimismus sprunghaft an, nur um die Wochen danach Stück für Stück wieder abzusinken.

Dabei fing die Saison im weiteren Sinne doch so gut an. Der Sieg gegen Liverpool im Testspiel ließ mein Fan-Herz höher schlagen. Ich dachte mir: Klar, war nur ein Testspiel. Aber es war halt doch immerhin Liverpool, die nicht mit ihrer C-Elf, sondern Spielern wie van Dijk und Mane gespielt haben. Dieser Neuzugang bei uns, der Jovetic, Mensch ist der gut. Und auch Serdar, wieso hat der nur acht Millionen Euro gekostet? Ich war mir sicher, dass wir mit Pal Dardai an der Seitenlinie, dem emotional und sportlich extrem gut verlaufenem Saisonabschluss 2020/21 unter ihm und dem neuen Sportdirektor Fredi Bobic nach zwei Chaosjahren eine vergleichsweise entspannte Saison erleben dürfen.

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(Photo by Frederic Scheidemann/Getty Images)

Doch schon die letzten Testspielen gegen Hannover 96 und St. Pauli ergaben nur Unentschieden, gegen Meppen quälte man sich 90 Minuten bis mich Davie Selke in der Nachspielzeit erlöste. Anschließend: Saisonauftakt gegen Köln. Die zwar einen neuen Trainer hatten, in der abgelaufenen Spielzeit jedoch erst in der Relegation die Klasse hielten, das Hinspiel gegen Kiel ging vor heimischem Publikum sogar verloren. Keine großen Sorgen also, man sollte das Spiel doch locker gewinnen können, dachte ich. Tja, ich lag falsch. Es sollte nicht das letzte Mal in dieser Saison bleiben.

Jovetic traf zwar bereits nach fünf Minuten zur Führung, doch das Spiel ging am Ende verdient und deutlich mit 1:3 verloren. Der Rest ist soweit bekannt, Derby-Niederlage, Dardai-Demission, Korkut-Installation, Derby-Niederlage, Korkut-Entlassung und Magath-Einstellung. Felix Magath. Das saß, ich brauchte mehrere Tage, um das wirklich zu verarbeiten. In meiner Kindheit Bayern-Trainer und Meistermacher bei Wolfsburg, in meinem Kopf war er eine Legende. Dieser Mann sollte MEINE Hertha trainieren? Unmöglich!

Aufschwung

Und Magath lieferte. Im ersten Spiel durch Corona verhindert und im Hotel, doch sein Co-Trainer Fotheringham war für ein paar Tage der Messias in Berlin. Ein Sieg gegen Hoffenheim und drei so dringend benötigte Punkte, gleichzeitig das erste gewonnene Spiel der Rückrunde. Der Optimist in mir erstrahlte. Die anschließend dritte und letzte Derby-Niederlage vor seit über zwei Jahren erstmals ausverkauftem Olympiastadion tat extrem weh und hinterließ tiefgehende Spuren im Verhältnis zwischen (sogenannten) Fans und Mannschaft. Es ist halt einfach so Hertha-like, das erste aufkeimende Gefühl der Hoffnung nach dem Sieg gegen die TSG unmittelbar im Anschluss niederzubrennen.

Sicher geglaubter Klassenerhalt

Das Spiel gegen Augsburg, das erste von drei Endspielen gegen direkte Konkurrenten ließ dann selbst mich staunend zurück. Entgegen meiner sonstigen Gepflogenheit ging ich fest von einer Niederlage aus. Und wurde dafür belohnt. Der große Vorteil eines Pessimisten, er kann nun mal im Worst Case bestätigt, im Best Case positiv überrascht werden. Gegen Stuttgart wählte ich einen ähnlichen Ansatz, wurde wieder belohnt. Und auf was für eine Art und Weise. Das 2:0 von Belfodil in der Nachspielzeit emotionalisierte mich und gefühlt das komplette Olympiastadion wie kaum ein anderes Tor der letzten Jahre. Es fühlte sich nach Klassenerhalt, nach Rettung an. Wie sollte Stuttgart nach diesem Spiel, lust- und kraftlos, jetzt zusätzlich endgültig gebrochen, noch einmal zurück kommen?

Magath mahnte

Trainer Magath zeigte sich schon vor Bielefeld vorsichtig, mahnte Fans und Presse und sagte, er habe schon die seltsamsten Dinge an den letzten Spieltagen erlebt. Ich war so blöd und glaubte ihm nicht, dachte mir: „jaja, lass ihn mal reden, wir schaffen das schon.“ Ich war wieder zum Optimisten geworden. Was danach folgte ist ein Saisonendspurt, wie ihn nur Hertha hinbekommt.

Führung in Bielefeld, Stuttgart gleichzeitig gegen Wolfsburg hinten. Der Klassenerhalt war rechnerisch sicher. Bin man in der Nachspielzeit ein Gegentor kassierte, zusätzlich glich Stuttgart in der 87. Minute ebenfalls aus. Heimspiel Mainz, schmeichelhaftes Unentschieden bis zu 82. Minute. Mir war scheißegal, dass der Punkt absolut unverdient gewesen wäre, was macht das in dieser Situation für einen Unterschied. Doch die Mannschaft zeigte sich erneut in den Schlussminuten unkonzentriert. Wie schon in Bielefeld. Wie schon gegen Augsburg in der Hinrunde. Und wie schon gegen Leverkusen in der Hinrunde.

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(Photo by Maja Hitij/Getty Images)

Dass Bayern nicht in der Lage ist, die Normalform gegen Stuttgart am nächsten Tag abzurufen? In Anbetracht der Umstände leider keine Überraschung, und dennoch massiv ärgerlich. Klar, man soll nicht auf die Konkurrenz hoffen, aber mal ehrlich, wer tut das nicht im Abstiegskampf? Denn wie gesagt, ob man Spiele am Ende verdient gewinnt oder verliert, verdient absteigt oder nicht, interessiert schlussendlich doch keinen.

Showdown in Dortmund und Stuttgart

Kommen wir zum Samstag. Und ich merke, dass der Text um einiges länger geworden ist als geplant. Wenn du, wenn Sie noch lesen, herzlichen Glückwunsch und vielen Dank.

Die Spieltage 32 und 33 haben mich konditioniert. So, wie jahrelang vor mir Hertha-Fans konditioniert wurden. Ich bin zum Pessimisten geworden. Alles andere als eine Niederlage beim BVB und gleichzeitigem Sieg der Stuttgarter gegen Köln hätte mich gewundert. Wie passend, ausgerechnet das Köln, welches uns am ersten Spieltag vor Augen geführt hat, dass auch diese Saison ein Krampf werden wird, hatte es mit in der eigenen Hand, ebenjene Saison für uns trotz aller Umstände tabellarisch zu retten. Das Führungstor von Belfodil kam überraschend, änderte jedoch nichts an meiner mentalen Verfassung, ich blieb pessimistisch. Auch weil Stuttgart zu diesem Zeitpunkt bereits führte.

Um die 60. Minute rum sagte ich zu meiner Frau, Köln hatte mittlerweile ausgeglichen: „Hey, es bräuchte noch drei Tore in 2 Spielen, damit wir in die Relegation müssen. Aber das wird auch passieren.“ Innerlich keimte dennoch eine Hoffnung auf. Wie so oft in dieser Saison. Tja, was folgte ist bekannt. 84. Minute Führung für Dortmund, 90+2 in Stuttgart erneute Führung für die Schwaben. Relegationsplatz für uns.

Zweite Liga, wir kommen!

Und ich? Ich hatte den großen Fehler begangen, für ein paar Minuten, insbesondere ab der 90. Minute in Stuttgart, zum Optimisten zu werden. Ich wollte es ein letztes Mal in dieser Saison sein, der Optimist. Vier Minuten? Ach das wird Köln schon hinbekommen. Wie gesagt, großer Fehler. Wäre ich Pessimist geblieben, vielleicht wäre der Fall nicht so tief gewesen. So habe ich eine Leere gespürt, die seit 2012 nicht mehr da war. Die vermutlich jeder Hertha-Fan gerade spürt. Wie soll man damit klar kommen? Ich weiß es momentan nicht und kann keine Lösung bieten. Ich kann nur darauf hoffen, dass die Zeit hilft die Wunden zu heilen.

(Photo by INA FASSBENDER/AFP via Getty Images)

Und so bleibe ich jetzt dabei und bin für die Relegationsspiele pessimistisch. Wir werden verlieren, egal gegen wen. Und wir werden in die zweite Liga gehen. Das steht für mich fest. Doch wir haben heute den Morgen nach dem Spiel. Ich kenne mich, leider. Ich werde spätestens ab Montag davon ausgehen, dass wir gewinnen. Ein ewiger Kreislauf, den Hertha auch noch ein letztes Mal in dieser Saison weiterführt. Und egal wie es ausgeht, ob 1. oder 2. Liga. Ich werde mich auf die neue Saison freuen. Und vom bestmöglichen Szenario ausgehen. Weil ich das nun mal bin. Und Hertha wird mir erneut wehtun und mich erneut enttäuschen. Und es wird ok sein. Wahrscheinlich. Denn es geht weiter immer weiter, wird für immer Hertha bleiben.

HaHoHe, auf eine bessere Zukunft!

Hertha BSC – Arminia Bielefeld: Silber sicherstellen

Hertha BSC – Arminia Bielefeld: Silber sicherstellen

Die Stimmung rund um Hertha BSC könnte unter Würdigung der Gesamtumstände kaum besser sein. Mit dem zweiten Sieg in Folge gegen einen direkten Abstiegskonkurrenten hat man sich in eine hervorragende Ausgangslage für die Klassenerhalt gebracht. Doch die Saison ist nicht vorbei, ein Verbleib in der Bundesliga noch lange nicht sicher. Es gilt daher, auch gegen die Arminia aus Bielefeld an die letzten Leistungen unbedingt anzuknüpfen.

Unser Artikel zur Pressekonferenz vor dem Spiel.

Magath mahnt bei Hertha zur Vorsicht

Die pure Erleichterung und Freude, die im gesamten Stadion nach dem Tor von Belfodil zum 2:0-Endstand gegen Stuttgart zu spüren war, dürfte bei vielen Fans von Hertha auch noch tagelang danach angehalten haben. Alle wussten: dieser Moment könnte der Entscheidende im Hinblick auf den Klassenerhalt werden.

Doch Cheftrainer Felix Magath stellt klar, dass man sich noch keinesfalls am Ziel befinde: „Wir sind auf dem Weg und haben jetzt vielleicht Bronze erreicht. Wir können jetzt in Bielefeld noch Silber holen und nur darauf werden wir uns fokussieren.“ Er wäre schon zu lange dabei und hätte zu oft Dinge erlebt, die sich dann völlig verkehrt haben. Fest steht: Rechnerisch hat Hertha den Klassenerhalt nicht sicher, selbst mit einem Sieg gegen Bielefeld könnte man sich unter Umständen „nur“ das Erreichen der Relegation sichern.

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(Photo by JOHN MACDOUGALL/AFP via Getty Images)

„Es geht um drei Punkte in Bielefeld, die wollen wir holen, dann haben wir wahrscheinlich wieder einen großen Schritt in Richtung Klassenerhalt, aber für was es dann reicht, werden wir hinterher auf der Tabelle ablesen können“, arbeitet Magath heraus. Der Fokus auf das eigene Spiel wurde somit noch einmal betont, auch wenn es auf der Bank sicher den einen oder anderen Blick nach Stuttgart geben dürfte, unabhängig vom eigenen Spielstand.

Nahezu unveränderte Personallage und Tousart-Lob

Was die Aufstellung angeht, lässt der Übungsleiter die Frage nach einer möglichen neuen Doppelspitze aus Selke und Belfodil schmunzelnd offen: „Lassen Sie mich heute und morgen noch ein bisschen spielen mit dem Gedanken, dass die beiden auch mal beginnen könnten, aber sicher bin ich mir dahingehend noch nicht.“

Es wäre durchaus überraschend, sollte sich die zuletzt erfolgreiche Aufstellung ändern, lediglich der nach Gelbsperre zurückgekehrte Marco Richter wird den jetzt gesperrten Vladimir Darida ersetzen. Es darf davon ausgegangen werden, dass die exakt gleiche Elf wie gegen den FC Augsburg beginnen wird. Was die weiteren fehlenden Spieler angeht, hat sich im Vergleich zur letzten Woche nichts geändert, Stevan Jovetic, Lukas Klünter, Dong-Jun Lee, Kelian Nsona und Alexander Schwolow stehen weiterhin nicht zur Verfügung.

Ein besonderes Lob erfuhr derweil Rekordeinkauf Lucas Tousart: „Er ist ein echter Mannschaftssportler.“ Tousart sei ein kompletter Mittelfeldspieler, sowohl defensiv als auch offensiv. Gleichzeitig denkt Magath, das Problem für Tousarts bisherigen Schwierigkeiten in dieser Saison gefunden zu haben. Die Olympiateilnahme im letzten Sommer habe dazu geführt, dass er nicht die notwendige Pause gehabt hätte, um richtig frisch in der Saison anzukommen.

(Photo by Maja Hitij/Getty Images)

Und auch die ungünstige sportliche Situation sei beim Einleben nicht förderlich gewesen. Eine Aussage, die man so sicher auf den Großteil der Neuzugänge in den letzten Jahren anwenden kann.

Kampfbereiter Gegner auf der Alm

Was das kommende Spiel angeht, weiß der Trainer genau, was ihn erwartet: „Das wird eine ganze harte Nuss in Bielefeld, denn auf der Alm ist es sowieso schwierig zu spielen.“ Und schiebt hinterher: „Mir braucht keiner was zu erzählen, freudig fahre ich da nicht hin, sondern konzentriert und fokussiert auf diese Aufgabe, es wird 90 Minuten ein harter Kampf, denn Bielefeld kämpft natürlich gegen uns um ihre letzte Chance uns in diesen Abstiegskampf mit reinzunehmen und daher erwarte ich eine ganz heiße und harte Partie und es wird eng werden.“

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(Photo by Matthias Kern/Getty Images)

Etwas überraschend kam es vor gut einer Woche beim kommenden Gegner zu einem Trainerwechsel. Der Torwarttrainer Marco Kostmann übernahm für den freigestellten Frank Kramer. Als Co-Trainer steht im Michael Henke zur Seite, der in dieser Rolle unter anderem schon für Ottmar Hitzfeld tätig war.

Magath zeigte sich ob der neuen möglichen taktischen und personellen Marschroute der Bielefelder allerdings nicht sonderlich besorgt: „Nach der Analyse kann man sagen, es hat sich ja nicht viel verändert bei der Arminia durch den Trainerwechsel, insofern denke ich können wir auf die Erfahrung, die wir im Laufe der Saison mit und über die Arminia gesammelt haben auch für uns kalkulieren am Wochenende.“ Klar ist aber, freiwillig wird Bielefeld keine Punkte in die Hauptstadt ziehen lassen, eine Selbstläufer wird die Partie für Hertha unter keinen Umständen.

Ungeklärte Situation zwischen Mannschaft und Fans

Der Trikot-Aktion nach dem Derby zog deutschlandweit Aufmerksamkeit auf sich. Nach den letzten zwei Spielen kam die Mannschaft aufgrund der Vorkommnisse jeweils nicht in die Kurve zum Feiern. Darauf angesprochen, ob es mittlerweile einen Dialog zwischen Mannschaft und Fans gäbe, sagte Magath: „Es gab dahingehend noch keinen Austausch, wir werden uns auch jetzt nicht vor diesem Auswärtsspiel mit dieser Problematik ablenken lassen, sondern wir werden uns auf die Partie fokussieren, damit wir da die Punkte holen. Aber rechtzeitig zum letzten Heimspiel werden wir sicher dann Gespräche geführt haben und sehen, wie wir das lösen können.“

Im Idealfall kann man zu diesem Zeitpunkt gegen Mainz bereits den Klassenerhalt feiern. Es wäre schade, wenn die Saison mit solch einem faden Beigeschmack endet. Eine Versöhnung zwischen den Beteiligten wäre daher sicher wünschenswert. Klar ist, dass die Unterstützung am kommenden Wochenende gesichert ist – das Auswärtskontingent in Bielefeld ist vollkommen ausgeschöpft. Fast 3.000 Fans werden der Mannschaft von Hertha BSC somit dabei helfen, auch den dritten Abstiegskracher in Folge zu gewinnen.

[Titelbild: Maja Hitij/Getty Images]