Endlich ist die Alptraum-Saison 2020/2021 vorbei. Nach einer hochemotionalen Schlussphase gab es doch noch ein „Happy End“ für Hertha BSC. Diese verrückte Spielzeit haben wir sehr ausführlich in unserer Saisonrückblick-Podcastfolge besprochen. Doch jetzt wollen wir uns der Kaderanalyse widmen. Dabei gehen wir nicht nur auf die abgelaufene Saison ein, sondern werfen auch einen Blick nach vorne. Welche Kaderstellen müssen Bobic, Dufner, Friedrich und co. noch dringend bearbeiten? Wo hat man Bedarf, welche Spieler werden wohl den Verein verlassen?
Nachdem wir bereits die Torhüter die Innen– und Außenverteidiger ins Visier genommen haben, widmen wir uns jetzt dem zentralen Mittelfeld
Niklas Stark – über die Sechs zu mehr Sicherheit
Blicken wir zunächst an den Anfang der Saison zurück. Bruno Labbadia hatte die Aufgabe, das Team fußballerisch weiterzuentwickeln. Dazu wählte er häufig eine 4-3-3-Formation mit einem Sechser und zwei Achtern davor, ganz ähnlich zu seiner Amtszeit in Wolfsburg. Eine Schlüsselfigur in diesem System war Niklas Stark, der normalerweise eine Reihe weiter hinten in der Innenverteidigung spielt. Er sollte der Mannschaft Stabilität geben und auch selbst wieder Sicherheit gewinnen. Denn die Vorsaison war für ihn von Verletzungen und schwache Leistungen geprägt. Er sollte als „Abräumer“ vor der Abwehr für eine bessere defensive Stabilität sorgen und seine Vorderleute etwas von ihren Defensivaufgaben entlasten.
Stark machte seine Aufgabe dabei sehr solide und wurde von Spiel zu Spiel etwas sicherer. Er war nicht mehr der Risikofaktor, den er in der vorherigen Saison noch zu oft verkörperte. Robustes Zweikampfverhalten, Kopfballstärke und Ballgewinne brachte er in das Hertha-Mittelfeld. Jedoch konnte man sich auch mit Niklas Stark auf der Sechs nie defensiv stabilisieren. Das lag aber weniger an ihm selbst als an mannschaftstaktischen Nachlässigkeiten. Hinzukommt aber, dass Stark das Spiel mit dem Ball in keiner Weise positiv beeinflussen konnte. Er zeigte sich im Mittelfeld mit dem Ball am Fuß teilweise etwas überfordert. Für diesen Bereich des Spiels ist er schlicht nicht der ideale Spielertyp. So entschied sich Bruno Labbadia zum Ende der Hinrunde dazu, Stark wieder in der Innenverteidigung einzusetzen.
Lucas Tousart – Da muss noch mehr kommen
An den vielen Problemen mit und gegen den Ball in der letzten Saison konnte auch Lucas Tousart, der mit sehr hohen Erwartungen nach Berlin kam, wenig ändern. Seine persönliche Saison lief sicherlich nicht katastrophal schlecht, aber es bleibt das Gefühl, dass er ein absolutes Leistungsniveau, das auch seine hohe Ablösesumme von 25 Millionen Euro rechtfertigen könnte, noch nicht erreicht hat.
Zu Beginn der Saison merkte man ihm noch sehr stark an, dass er sich eingewöhnen musste. Ein neues Land, eine neue Sprache und eine lange Phase ohne Training werden die Gründe für diese Startschwierigkeiten gewesen sein. Nach einiger Zeit wurden die Leistungen dann zwar besser, aber immer noch nicht durchgehend zufriedenstellend.
Einsatz und Laufbereitschaft konnte man ihm definitiv nicht absprechen. Auch seine starken Ballgewinne und diagonalen Verlagerungen konnte er immer wieder zeigen. Man hatte auch über bestimmte Phasen das Gefühl, dass er von der Erfahrung, die ein Sami Khedira mitbringt, sehr profitiert. Insgesamt war aber in zu vielen Spielen zu unauffällig, um an dieser Stelle ein positiveres Fazit ziehen zu können. Kann er seine Leistung in der kommenden Saison aber steigern, kann er für Hertha der entscheidende Stabilisator im Mittelfeld werden.
Santiago Ascacibar – Erst außen vor, dann kämpferisch
Ascacibar spielte in der ersten Saisonhälfte überhaupt keine Rolle. 13 der 17 Hinrundenspiele verpasste er verletzungsbedingt, die anderen vier, weil Bruno Labbadia nicht auf ihn setzte. Mit Niklas Stark und Lucas Tousart hatte Labbadia bereits zwei defensivstarke Optionen für das Mittelfeld und so musste sich Ascacibar hintenanstellen.
Zwei entscheidende Faktoren sorgten neben seiner eigenen Fitness und Leistung dafür, dass sich das zur Rückrunde änderte. Der eine war sicherlich, dass Stark nun wieder in der Innenverteidigung gefragt war. Der andere, vermutlich noch wichtigere Punkt für Ascacibar, war die Rückkehr von Pal Dardai.
Dieser versuchte seine Mannschaft schnellstmöglich zu stabilisieren und die Zahl der Gegentore endlich zu senken. Ascacibar passte gut in dieses Anforderungsprofil. Solide bis gute Leistungen konnte er in der Endphase der Saison zeigen. Mit seiner kämpferischen Art und seiner Stärke Bälle zu gewinnen, war er mit dafür verantwortlich, dass man sich dieser Stabilität in der Rückrunde immer mehr annäherte.
Es wird spannend zu sehen sein, wo sich in der kommenden Saison Platz für den Argentinier ergeben wird. In der Rückrunde konnte sich “Santi” durchaus empfehlen, ein bedingungsloser Stammplatz wird dennoch nicht drin sein. Eins ist klar: Ascacibar darf man niemals abschreiben.
Vladimir Darida – dauerhafter Dauerläufer
Vladimir Darida ist und bleibt ein faszinierender, aber auch unterschätzter Spieler. Er ist keiner, der im Alleingang ein Spiel entscheiden kann und drei Tore schießt, aber jemand, der so viele andere Qualitäten mitbringt und sie ziemlich konstant abrufen kann. So war er in der vergangenen Saison einer der Schlüsselspieler und vielleicht der konstanteste Mittelfeldspieler.
In 28 Bundesligaspielen kam er zum Einsatz, häufiger als jeder andere Mittelfeldspieler bei Hertha. Das ist schon erstaunlich, wenn man bedenkt, wie intensiv Daridas Spielweise ist. Schaut man auf die gelaufenen Kilometer pro Spiel der vergangenen Saison und berücksichtigt nur Spieler, die auf mindestens 1000 Spielminuten kamen, war Darida der durchschnittlich laufstärkste Spieler der gesamten Liga. 12,88 Kilometer lief er durchschnittlich pro Spiel. Neben seiner sehr fleißigen Spielweise ist Darida aber auch ein überdurchschnittlicher Offensivspieler. In seinen Offensivaktionen ist er aber meist sehr direkt und schnörkellos, sodass das nicht unbedingt auf den ersten Blick auffällt. 6 Vorlagen (Topwert bei Hertha), die zweit meisten Torschussvorlagen und die meisten angekommen Pässe in den Strafraum spielte Darida über die letzte Spielzeit.
Da bleibt eigentlich wenig Raum für Kritik. Zwei Aspekte fehlen ihm aber wohl leider, um absolut unverzichtbar für Hertha zu sein. Einerseits ist das die Torgefahr, die ihm seit seiner Zeit bei Freiburg immer mehr verloren ging. Anderseits konnte auch die Darida nicht der tonangebende Akteur im Mittelfeld sein, den Hertha erst in Sami Khedira fand. Er ist ein Spieler, der mit guter und konstanter Leistung vorangeht, nicht aber durch verbale Führungsstärke. So fehlt ein wenig die Präsenz.
Auch unter Pal Dardai war Darida zuletzt mehr Stammspieler. Das wird in der kommenden Saison vermutlich ähnlich sein. Für die möglichst ruhige Saison, die man anstrebt, könnte Darida genau der passende Spieler sein.
Die Zehner-Position
Auf der Zehn hat Hertha mit Vladimir Darida und Matheus Cunha zwei Spieler, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Der eine dribbelstark, ein guter Distanzschütze und häufig sehr verspielt, der andere mit einem riesigen Aktionsradius, einer unglaublichen Lautstärke und Disziplin sowie einem schnörkellosem, aber effektivem Offensivspiel. Der eine hatte in der vergangenen Saison eine sehr schwankende Formkurve mit vielen Formtiefs, der andere hat stets ein solides. Gemeinsam haben Cunha und Darida aber mit Blick auf die vergangene Saison aber, dass sie beide mehrfach auf den Flügel ausweichen mussten, weil Hertha dort sonst kaum Alternativen hatte. Cunha unterlag diesem Schicksal aber noch etwas häufiger als Darida, der meistens in der Schlussphase auf dem Flügel aushelfen musste.
Auch damit lässt sich sicherlich Cunhas Formtief in der Saison erklären. Auf dem Flügel kann er seine Stärken weniger gut auf den Platz bringen. Cunha bleibt der herausstechendste Spieler bei Hertha und kann das Spiel aus dem Zentrum noch mehr beeinflussen. Zu oft war Hertha auch von seiner Kreativität abhängig und erhöhte so den Druck auf den 22-Jährigen. Dennoch war Matheus Cunha in der vergangenen Saison mit acht Toren und acht Vorlagen Herthas Topscorer und hat sich so eine Vertragsverlängerung verdient. Sollte man ein entsprechendes Angebot bekommen, würde man Cunha wohl dennoch gehen lassen.
Ziel für die kommende Saison sollte hier sein, Cunha einerseits wieder in Form zu bringen, gleichzeitig aber die Abhängigkeit im Offensivspiel von ihm zu verringern. Keine einfache Aufgabe für Pal Dardai und sein Trainerteam.
Wie ist Hertha für die kommende Saison aufgestellt?
In diesem Sommer werden wohl insgesamt drei Mittelfeldspieler den Verein verlassen. Die Leihe von Matteo Guendouzi endet, Sami Khedira hat seine Karriere beendet und Eduard Löwen hat keine Perspektive bei Hertha. Den Kader verstärken werden hingegen Arne Maier, der nach seiner Leihe zu Bielefeld wohl zur Hertha zurückkehren wird und Suat Serdar, der vom Schalke 04 kommt und Kevin-Prince Boateng. Somit besteht Herthas Mittelfeld-Gerüst für die kommende Saison aus zwei defensivstarken Sechsern (Ascacibar und Tousart), einem torgefährlichen Box-to-box-Spieler (Serdar), einen guten Passgeber (Maier) und einen sehr umtriebigen Achter (Darida). Grundsätzlich ist man damit nicht schlecht aufgestellt und jede Position im zentralen Mittelfeld kann besetzt werden.
Einige Probleme der vergangenen Saison lassen sich auch mit der Kaderstruktur fürs zentrale Mittelfeld zurückführen. Anhand derer lässt sich auch ganz gut einordnen, wie Hertha aktuell für die kommende Saison aufgestellt ist und an welchen Ecken es vielleicht noch fehlt. So fehlte zum Beispiel ein Spieler, der aus dem zentralen Mittelfeld heraus sowohl gefährliche Situationen kreieren kann, aber auch selbst torgefährlich ist. Bei diesem Problem soll in der kommenden Saison Suat Serdar Abhilfe schaffen. Phasenweise konnte er genau diese Qualitäten auch bei Schalke zeigen. Es ist aber gut vorstellbar, dass Serdar zunächst etwas Zeit braucht, um wieder an frühere Leistungen, die ihm auch zum Nationalspieler gemacht haben, anzuknüpfen.
Noch viel schwerwiegender war aber, dass der Mannschaft auch ein bestimmter Spielertyp fehlte, der eine spielerische Weiterentwicklung deutlich erleichtert hätte. Ein kontrollgebender, sicherer pressingresistenter Passgeber, der das Ballbesitzspiel strukturieren kann, aber auch ein kreatives Element mitbringt. Diese Lücke im Kader könnte Rückkehrer Arne Maier schließen. Er ist jedoch aktuell der einzige Sechser, der durch spielerische Elemente herausragt. Man wünscht ihm, dass er diese Chance endlich richtig nutzen kann und an seine zuletzt guten Leistungen bei der U21-EM und bei Bielefeld anknüpfen kann. Gelingt ihm das unter seinem größten Förderer (Pal Dardai), kann er eine wichtige Rolle spielen. Man kann aber zumindest hinterfragen, ob es vielleicht nicht noch eine spielstarke Alternative bräuchte, falls sich Maier erneut verletzen sollte oder sein Leistungsniveau nicht halten kann. Es fehlt in der breite an guten Passgebern im Mittelfeld.
Außerdem fehlen Führungsspieler im Mittelfeld. Das kann auch in der kommenden Saison ein Problem werden. Sami Khedira ist nicht mehr da und hinterlässt damit vor allem als Persönlichkeit eine Lücke. Ob der 34-Jährige Kevin-Prince Boateng allein für dieses Problem eine gute Lösung sein kann, wird man abwarten müssen. So richtig scheint man diese Aufgabe aber auch aktuell keinem anderen Mittelfeldspieler zuzutrauen.
[Titelbild: IMAGO]