Pal Dardai ist seit dem 29. November 2021 nicht mehr Cheftrainer der Profimannschaft von Hertha BSC. An diesem Montagmorgen ist etwas zu Ende gegangen und auch zerbrochen. Doch noch besteht die Hoffnung, dass die Legende dieses Mannes so groß ist, dass der Bruch reparabel ist und man wie am Ende einer Liebesbeziehung versucht ein vernünftiges Miteinander zu ermöglichen und in romantischen Erinnerungen zu schwelgen.
Der verwirrte Blick aufs Handy
An jenem Morgen setzte ich mich gerade an meinen Rechner im Homeoffice, um der allwöchentlichen Germanistik-Vorlesung zu lauschen. Während ich den Worten meines Profs folgte, vibrierte mein Smartphone. Mein bester Freund schickte mir einen Screenshot von einem Artikel, der von der Homepage von Hertha BSC stammen sollte. Pal Dardai sei nicht mehr länger Trainer von Hertha BSC und Tayfun Korkut würde mit sofortiger Wirkung übernehmen war die Quintessenz dieses Textes. Ich schmunzelte ein wenig und beschloss später zu antworten.
Als netten Spaß abstempelnd wollte ich mich wieder meiner Vorlesung widmen. Doch so richtig ließ mich das Thema nicht los. Ich griff direkt wieder zum Smartphone fragte nach der Quelle und ob das ein Spaß oder Fake oder etwas in der Art sei. Denn auch meine parallele Internetrecherche brachte noch keinen Treffer. Mein alter Freund aus Kindestagen war bekannt für Scherze dieser Art, doch leider bestätigte er mir die Echtheit dieses Artikels.
Wo warst du, als…?
Verwundert und mit einem Anflug von Panik startete ich eine zweite Recherche. Und diese sollte ein Volltreffer sein. Innerhalb weniger Minuten gingen sämtliche einschlägigen Medienhäuser mit dieser Meldung raus, manche zum Teil per Eilmeldung und Push-Benachrichtigungen auf mein Smartphone. Eins war klar, die Vorlesung war für den heutigen Tag durch.
Am späten Abend noch desillusioniert sein, keine Worte für die Situation zu finden und einfach nur das warum und weshalb in Frage stellen – alles Reaktionen, die die Trainerentlassung hervorriefen. Es gibt diese „Wo warst du, als…“-Momente im Leben. Jener Montag am Ende des Novembers 2021 gehört freilich für jeden Fan von Hertha BSC dazu.
In den letzten Jahren hatte man als Herthaner leider einige dieser Momente. Ob es die Klinsmann-Tagebücher waren, das Kalou-Video oder der Moment, als klar war, dass sich die Mannschaft im Saisonendspurt 2020/2021 und im tiefen Abstiegskampf steckend in Quarantäne begeben musste. Immerhin hatte dieses Himmelfahrtskommando ein positives Ende. Entscheidender Akteur dabei: Pal Dardai.
Wie der Spieler, so der Trainer
Als Pal Dardai 1997 sein erstes Spiel für Hertha BSC bestritt, hätte niemand gedacht, dass der FC Augsburg mal so eine feste Größe in der Karriere des Ungarn werden würde. Doch am letzten Spieltag der Saison 2010/2011 wurde er nach 297 Pflichtspielen und damit als Rekordspieler der Hertha verabschiedet. Der FC Augsburg war im restlos ausverkauften Olympiastadion zu Gast.
Gemeinsam stiegen beide Vereine nach einem 2:1 Heimsieg der Hertha in die Bundesliga auf. Dardai erzählte einige Jahre später von seiner Ehrenrunde mit Sohn Bence auf den Schultern. Michael Preetz empfahl ihm damals seinen Sohn mitzunehmen, um zu verhindern, vor der riesigen Masse an Fans in Tränen auszubrechen.
Irgendwie beschreibt genau das Pal Dardai. Ein emotionaler Mann, dem vieles nahegeht, der motivieren kann, mit seinen Ausbrüchen auch gerne über die Stränge schlägt und in kleineren Runden, wie im Team und auf Pressekonferenzen, den witzigen und nahbaren Pal zeigt. Doch je größer die Versammlung, desto anonymer möchte er sein. Er ist nicht interessiert an dem großen Brimborium um seine Person. Er möchte nicht die Aufmerksamkeit durch Tränen bekommen.
Genau diese hätte man ihm nach seinem vorerst letzten Spiel als Trainer von Hertha BSC aber durchaus zugestanden. Wieder war es der FC Augsburg, der zu seinem letzten Spiel zu Gast war. Doch die Zeiten sind andere. Das Stadion war wegen der Corona-Pandemie nur spärlich gefüllt, Hertha steckt im Abstiegskampf und ist auf der Suche nach sich selbst.
Pal Dardai: Das Herzstück
In seiner Zeit bei Hertha ist Dardai mehr gewesen, als nur Spieler und Trainer. Er war das Herzstück in einem sich zunehmend verändernden Verein. Als Spieler war er hinter den Zauberern und Genies wie Marcelinho, Gilberto oder Pantelic nicht wegzudenken. Jemand musste schließlich als Malocher fungieren.
Mit seinem Siegtreffer beim Spiel gegen die Bayern 2001 machte er sich unsterblich. In jenem Spiel traf mit Andreas „Zecke“ Neuendorf eine weitere Vereinsikone und Teil des entlassenen Trainerteams. Er machte in den vielen Jahren praktisch alles mit, was im Profifußball möglich war. Mit Hertha spielte er Champions League, im Uefa Cup, später in der Europa League; Er stieg ab und nach einem Jahr in der 2. Bundesliga zum Abschied seiner Karriere wieder auf.
2009 hatte er in der legendären Fast-Meistersaison am 33. Spieltag gegen den FC Schalke 04 den Siegtreffer auf dem Fuß. Nicht auszudenken, was möglich gewesen wäre, wenn ihm der Schuss und das Tor geglückt wären.
Ohne sich anzubiedern, sich selbst und Hertha treu geblieben
Als Spieler hatte er es nie nötig hochtrabende Sprüche über sich selbst zu liefern. Er war eher der Mitspieler, der mit Körpereinsatz Bälle und Gegner abräumte. Der arbeitete. Nach dem Spiel ging es nach Hause ins private, wo allerhöchstens noch eine Flasche Rotwein geöffnet wurde.
Wirklich launisch und pointiert wurde er erst als Trainer. Pressekonferenzen und Interviews entwickelten sich gerne mal zu Plauschs mit den Journalisten und es gab genügend markige Sprüche von ihm, die Schlagzeilen und Stoff für die Medienwelt bedeuteten. Von Milchreis-Anekdoten in Hoffenheim, über Alligatoren in der Kabine, bis hin zum Vergleich zwischen Dodi Lukebakio und dem australischen Riesenkänguru bot er zahlreiche witzige Momente.
Wer dachte, dass Pál Dárdai willkürlich Tiervergleiche zieht, der irrt.
— Steven Redetzki (@sogenannter) February 11, 2021
Nächste Woche dann: Wie Pál einmal Pyrotechniker werden wollte und deswegen genau weiß, was eine Blitzkugel ist. Weltklasse! #hahohe pic.twitter.com/5PBBsXHjGy
Mit seiner offenen Art schien er im durchgescripteten Fußball-Business etwas aus der Zeit zu fallen, ebenso wie mit seinem Ballonseide-Trainingsanzug. Während immer mehr Trainer in der Bundesliga im feinen Zwirn an der Seitenlinie ihre Teams coachen, betonte er seine Funktion als arbeitender Trainer.
Aber auch nur als für Hertha arbeitender Trainer. Als er 2019 nach 4,5 Jahren als Cheftrainer der Alten Dame in ein Sabbatjahr ging, hielt er sein Wort, nach seiner Pause in die Jugendakademie der Berliner zurückzukehren. Und das trotz einiger Angebote aus der Bundesliga.
Die Balance zwischen Witz und Frust verloren
Pal Dardai blieb sich, seinem Charakter und Hertha BSC immer treu. Allerdings veränderte sich etwas. Es wirkte manchmal wie das Auseinanderleben in einer Beziehung. Hertha wollte mehr als den Malocher-Fußball, der zwar temporär erfolgreich war, aber nichts langfristiges bot. Der Abschied 2019 war ein sauberer Schnitt. Der zweite Abschied vom Profi-Fußball. Er war müde und ausgelaugt, musste dringend seinen Akku aufladen.
Das Verhältnis zum damaligen Manager Michael Preetz galt als schwer angeschlagen. Journalist:innen watschte er auf Pressekonferenzen ab, er verrannte sich zunehmend in wirren Aussagen, deren Wahrheitsgehalt praktisch gen null ging und warf mit Schuldzuweisungen wild um sich. Während das Team damals wieder einmal in der Rückrunde komplett einbrach, besaß Dardai nicht mehr die Kraft, das Ruder rumzureißen und es zu einem sportlich versöhnlichen Ende zu bringen.
Doch persönlich sollte er das bekommen. Am 34. Spieltag der Saison 2018/2019 kassierte Hertha – wie sollte es anders sein – zwar zum Saisonabschluss eine herbe 1:5-Klatsche gegen Bayer 04 Leverkusen, doch das Spiel war zweitrangig. Denn mit Fabian Lustenberger und Pal Dardai wurden zwei der größten Legenden des Vereins von den Fans mit schier endloser Liebe verabschiedet. Es war das einvernehmliche Ende einer langen Beziehung.
Ohne Dardai fehlte es an Bodenständigkeit und Nahbarkeit
Zwischen dem Abschied im Sommer 2019 und der Rückkehr ins Profigeschäft im Januar 2021 schien eine endlos lange Zeit vergangen zu sein. Die Hertha, die praktisch seit dem Abgang Dardais in einer Selbstfindungsphase war und endlich wieder zur Ruhe kommen wollte, hatte sich beim Versuch mehr als nur die graue Maus der Bundesliga zu sein, ordentlich verhoben.
Der Windhorst-Einstieg, Jürgen Klinsmann als Trainer, die Transferphase im Winter 2020 und ein nie dagewesenes Mediengewitter ließen dem Verein keine Zeit zum Durchatmen. Der Verein hatte sich in seiner Außendarstellung stark verändert und auch innen wurde vor allem mit Carsten Schmidt ein Mann installiert, der Hertha BSC von Grund auf umkrempeln wollte.
Doch Ende 2020 steckte man mit Bruno Labbadia an der Seitenlinie im Abstiegskampf, der nach einem 1:4 gegen Werder Bremen nach dem 18. Spieltag entlassen wurde. Auch mit Michael Preetz, dessen letzte Patrone verschossen war, musste ein Gesicht der Hertha nach 25 Jahre den Verein verlassen. Es war das Ende der Gemütlichkeit und der Akzeptanz im Mittelfeld zu versinken.
Am Ende benötigte man im Frühjahr also wieder die Hilfe des Ungarn, der in der Jugendakademie seine Berufung gefunden zu haben schien. Zusammen mit seinen Co-Trainern Admir Hamzagic und „Zecke“ Neuendorf kamen altbekannte Gesichter mit ihm zurück und verliehen Hertha wieder eine gewisse Bodenständigkeit und Retro-Look, der in den windigen Zeiten guttat.
Die Rückkehr wird zur Achterbahn der Gefühle
Pal Dardai wieder auf dem Trainingsplatz, auf Pressekonferenzen und auf der Trainerbank zu sehen, tat gut. Nicht unbedingt wegen des Fußballs auf dem Rasen, der nur in seltenen Momenten wirklich ansehnlich war. Vielmehr hatten die Fans wieder jemanden, mit denen man sich identifizieren konnte.
Endlich wurde nicht mehr von Big City Club, Low-Hanging Fruits und der Champions League gequatscht, sondern über das, was den Verein so viele Jahre ausgemacht hatte: Identifizierung, Arbeit und der Teamgedanke. Die Liebe war zurück. Es war, als würde man es nochmal miteinander probieren, nachdem sich jeder in der Beziehungspause ausgetobt hatte.
Die Mannschaft steckte bis zum Ende der Saison im tiefen Abstiegskampf. Pal Dardai und dem Trainerteam kann es nicht hoch genug angerechnet werden, wie sie aus einem Haufen von hochtalentierten Fußballern, aber etlichen Ich-AGs, den nötigen Teamgeist gekitzelt und den Klassenerhalt geschafft haben.
Nach der Corona-bedingten Quarantäne musste das Team innerhalb von drei Wochen sieben Spiele absolvieren. Die Mannschaft nahm den Kampf an. Das Ende vom Lied war ein strahlender Pal Dardai, der mit Zigarre im Mund dem aktuellen Sportstudio ein Interview gab und damit Bilder für die Ewigkeit lieferte.
Heiße Liebe, die schnell abkühlte
Es folgte eine Sommerpause und Vorbereitung, in der Dardai bemüht war, seine alten Tugenden einfließen zu lassen. Er gab vielen Jugendspielern Chancen, führte sie an den Kader heran. Spielern, wie dem chronisch glücklosen Davie Selke, ermöglichte er etliche Einsätze, die er zumindest in der Vorbereitung auch dankend nutzte.
Doch ein unterirdischer Saisonstart zeigte altbekannte Probleme und Abnutzungserscheinungen zwischen Trainer und Verein. Durch den neuen Sportvorstand Fredi Bobic war die Leine für Dardai viel kürzer als noch vor zwei Jahren unter Michael Preetz. Die Leistungen des Teams und insbesondere sein Anteil wurden kritischer beäugt als zuvor. Seine Äußerungen wurden von nun an kommentiert und bewertet. Fredi Bobic sprach offen darüber, dass er Pal Dardai hätte entlassen müssen.
Dieser verfiel wieder in altbekannte Muster. Wie schon 2019 in den Wochen vor dem Ende seiner ersten Amtszeit äußerte sich Dardai auf Pressekonferenzen extrem Ruf-schädigend. Er bot mehrfach seinen Rücktritt an, sprach von sich selbst in der dritten Person und redete sich und seine Leistungen klein, sowie die angebliche Erwartungshaltung von außen unermesslich groß.
Der Eindruck, einfach so schnell es geht wieder aus der Schusslinie der Medien zu gelangen, festigte sich und machte ihn angreifbar. Hertha BSC und Pal Dardai hatten sich in gewisser Weise voneinander distanziert, die Gefühle füreinander waren schon lange abgekühlt.
Eine Rückkehr für Dardai muss möglich sein
Auch wenn die Entlassung nach dem Spiel gegen den FC Augsburg recht überraschend kam, ist sie durchaus vertretbar. Die Frage, wie Pal Dardai selbst das sieht, muss gestellt werden. Aber wahrscheinlich hat er es nicht nötig, die Antwort der Öffentlichkeit zu geben.
Es bleibt zu hoffen, dass das Verhältnis zu Fredi Bobic soweit intakt ist, dass beide Seiten bereit wären, es nochmal miteinander zu versuchen. Auf absehbare Zeit bestimmt nicht als Cheftrainer der Profimannschaft. Sicherlich wäre aber für Pal Dardai, dem Rekordspieler Hertha BSCs, einer lebenden Vereinslegende, beispielsweise ein Platz im Jugendbereich, seinem Wunschort, frei.
Doch bis es dazu wieder kommt muss Zeit vergehen. Man muss sich wieder vermissen lernen, um einen neuen Versuch miteinander zu starten. Zusätzlich muss sich Hertha BSC endlich komplett von Dardai unabhängig machen. Eine Situation, wie die im Früher 2021, in der er der einzige Ausweg zu sein schien, darf es nicht noch einmal geben. Um das zu realisieren muss aber an ganz anderen Punkten im Verein angegriffen werden.
Im Frühjahr sollen laut Fredi Bobic Verhandlungen über die Zukunft geführt werden. Pal Dardai ist Hertha und Hertha ist Pal Dardai, aber bitte nie wieder unter Zwang.
[Titelbild: Thomas Eisenhuth/Getty Images]