Trotz im Ergebnis verdienter Niederlage hat Pál Dárdai schon im Spiel gegen Eintracht Frankfurt gezeigt, dass die von Nostalgie angefeuerte Euphorie der Hertha-Fans nicht ganz unberechtigt war. Das Auftreten der Mannschaft gegen formstarke Frankfurter machte durchaus Hoffnung für die Zukunft. Aber Herthas größter Feind scheint jetzt der Spielplan. Denn in den nächsten Spielen trifft man auf die großen Namen des deutschen Fußballs und RaBa Leipzig. Am Freitagabend wartet zu ungewöhnlicher Anstoßzeit schon um 20 Uhr der FC Bayern München.
Wir haben Bayern-Experte Justin Kraft von FC-Bayern-Blog Miasanrot.de gefragt, wie es um den FC Bayern steht und wo sich Hertha Chancen bieten könnten.
„Formschwach“ zur Meisterschaft
30-maliger Deutscher Meister, mittlerweile 20-facher Pokalsieger, amtierender Champions League-Sieger. Viel mehr braucht es nicht, um den FC Bayern München zu beschreiben. Auch in dieser eng getakteten Corona-Saison stehen die Bayern schon wieder mit sieben Punkten Vorsprung uneinholbar an der Spitze, es winkt die neunte Meisterschaft in Folge.
Dabei war in den letzten Wochen und Monaten doch immer wieder von einer Formschwäche die Rede? Davon weiß die Tabelle nichts. Neben zugegeben glanzloseren, aber eben doch siegreichen Partien, wurden zuletzt die Gegner aus Herthas Tabellenregion auch wieder etwas deutlicher in die Schranken gewiesen.
Bayern-Experte Justin Kraft sagt dazu: „Es stimmt, dass die letzten Gegner nicht zu den Top-Teams der Liga gehören. Hertha gehört im Moment aber auch nicht dazu. Demnach erwarte ich schon, dass die Bayern dieses Spiel mit viel Raumkontrolle und einem klaren Chancenplus abschließen werden. […] Gegen Hoffenheim gab es einige Momente, in denen das Spiel hätte anders laufen können.”
“Und warum sollte Hertha das nicht auch gelingen? Bayern ist zwar auf gutem Wege, sich in eine Art Flow zu spielen und Stück für Stück das nötige Selbstverständnis zurückzuerlangen, um Spiele (auch deutlich) zu gewinnen, aber sie sind noch ein Stück entfernt von der Souveränität des vergangenen Sommers, wo sie in nahezu keinem Bundesliga-Spiel Momente aufkamen ließen, in denen der Gegner sich ernsthafte Hoffnungen machen konnte.“
Unruhen? Ärger?! Spannungen?!? Eher nicht
Im neuen Jahr begleiten den Verein dazu (vermeintliche) Unruhen. So tauchte Corentin Tolisso mitten im Lockdown plötzlich mit einem neuem Tattoo auf – das kommt Hertha-Fans doch bekannt vor. „Selbstverständlich ist die Aktion von Tolisso […] mehr als ärgerlich. Ein Klub wie der FC Bayern wird damit aber umgehen können und das auch verkraften“, sieht Justin keine atmosphärischen Probleme.
Zu guter Letzt kamen Gerüchte zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Sportdirektor Hasan Salihamidzic und Trainer Hansi Flick[1] auf. Hasan vs. Hansi – hapert‘s heftig? Eher nicht, verrät uns Justin: „Wie so oft wird die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegen. Ich bin ganz sicher, dass Salihamidzic und Flick unterschiedliche Ansichten haben, was den Kader angeht. Das liegt größtenteils auch an der Perspektive. Natürlich schaut der eine eher auf die wirtschaftlichen Aspekte, während der andere vor allem auf das sportliche Geschehen schaut. Dafür ist man schließlich auch ein Team: […] Wichtig ist, dass beide trotzdem in eine Richtung arbeiten und ich habe nicht das Gefühl, dass das beim FC Bayern aktuell nicht der Fall ist. […] Den Umständen entsprechend macht der FC Bayern aber einen richtig guten Job. Ich rechne deshalb nicht damit, dass die kleinen Reibereien zu größeren Konsequenzen führen.“
Also doch keine störenden Unruhen beim FC Hollywood. Dafür schürten die Münchner bei den Hertha-Fans kurzzeitig Panik, als bekannt wurde, dass die Bayern auf die Idee gekommen seien, dass mit dem Herthaner Eigengewächs Luca Netz ein guter Fang für die Zukunft gelingen könne.
Doch das scheint vorerst vom Tisch, weiß auch Justin: „Netz ist ein toller Spieler und hat das Talent, es weit zu bringen. Dass der FC Bayern da interessiert ist, wundert mich nicht. Mit Torben Rhein konnte man ja vor einigen Jahren schon einen talentierten Herthaner abwerben. […] Aus meinem Berliner Umfeld höre ich schon seit einigen Wochen, dass Netz‘ Vertrag kurz vor der Verlängerung stehe und meinen Informationen nach ist Bayern schon mal bei ihm abgeblitzt. Aber so ist das Geschäft. Bayern wird nicht jeden Spieler verpflichten können und das ist auch gut so. Ich denke, Netz wird bei Hertha gute nächste Schritte machen.“ Vielleicht auch schon wieder gegen den FC Bayern.
Bayern scheint sportlich also aus dem kleineren Tal gelangt zu sein und auch von Unruhe dürfte angesichts des kürzlich vollzogenen Komplettaustauschs der handelnden Personen eher bei Hertha etwas zu spüren sein. Darf man sich dennoch Hoffnung auf Zählbares gegen die Bayern machen?
Angstgegner Dárdai?
Rückkehrer Dárdai konnte der Alten Dame trotz Niederlage gegen Frankfurt durchaus schon wieder Leben einhauchen. Außerdem sieht seine Bilanz gegen den FC Bayern gar nicht mal so schlecht aus – in vier der letzten sechs Partien verließ Hertha dabei nicht als Verlierer den Platz. Bayern-Experte Justin: „Das ist eine interessante Statistik, die ich so zunächst gar nicht mehr auf dem Schirm hatte. Allerdings muss man einschränken, dass Dárdai aus seinen zehn Duellen mit Bayern nur eines gewinnen konnte und die letzten beiden verloren wurden. Der Angstgegner-Ruf muss also neu bewiesen werden. Grundsätzlich sind Spiele bei Hertha BSC aber fast immer kompliziert gewesen für die Bayern.“
Dardais Fußball stand in der Vergangenheit für Solidität statt Spektakel. Das sieht auch Justin so: „Aggressivität, defensive Stabilität, schnörkelloses Umschaltspiel und mitunter eine absurde Effizienz vor dem Tor. Teilweise hat Hertha aus 0 Abschlüssen ein Tor gemacht – Hoffenheim lässt grüßen. […]
Bayern darf die Qualität Herthas keinesfalls unterschätzen. Es wird darum gehen, den kompakten Block des Gegners ständig in Bewegung zu halten. Ein Schlüsselspieler dafür ist Thomas Müller, der mit seinen Läufen und Pässen aktuell nahezu jede Defensive fast im Alleingang aushebeln kann. Er wird auch gegen Hertha viel unterwegs sein, immer wieder Räume für sich selbst oder seine Mitspieler öffnen und dann kommt es darauf an, mit welcher Schärfe und Präzision die Bayern diese bespielen.“ Für den Primus bahnt sich also ein Geduldspiel an. Für Hertha wird es auf der anderen Seite darum gehen, die Konzentration hochzuhalten und so möglichst keine Fehler zu machen.
Offensiv dürfte Hertha wie schon gegen Frankfurt größtenteils auf Konter über die schnellen Stürmer setzen. Damit hatte die Bayern-Abwehr in der Hinrunde ab und an Probleme und auch Dodi Lukébakio dürfte sich mit einem Lächeln an eine vogelwilde Münchener Hintermannschaft zu Düsseldorfer Zeiten erinnern.
Bayerns Abwehrprobleme – Ein Prozess
Justin fasst mögliche Schwächen der bajuwarischen Defensive zusammen: „Es gab eine Phase in der Hinrunde, da war die ganze Mannschaft nicht gut aufeinander abgestimmt und dementsprechend kam es auch zu Missverständnissen in der Innenverteidigung. Das lag aber auch an der ständigen Rotation. Seit Flick wieder auf das Duo Alaba/Boateng setzt, hat sich das reduziert. Beide werden meinem Eindruck nach von Spiel zu Spiel stabiler und sind für sich genommen in guter Verfassung.
Viel problematischer sehe ich die Außenverteidiger-Positionen. Hier sind Pavard und Davies nach wie vor in einer Formkrise. Gegen Hoffenheim schafften die Bayern es kaum, auch nur eine Flanke oder Kombination von außen im Ansatz zu verteidigen. Wenn dann in 90 Minuten der Ball zehn Mal gefährlich in deinen Strafraum fliegt, hast du als Innenverteidiger zwangsweise irgendwann einen schwachen Moment. Egal, ob du Alaba, van Dijk oder Beckenbauer bist.
Es ging von Anfang an darum, die Mannschaft zu stabilisieren und dann sehen die Innenverteidiger automatisch wieder besser aus. Zu diesem Prozess zählt, dass einer der beiden Außenverteidiger (meistens der Rechtsverteidiger) nun konsequenter in einer Art Dreierkette absichert. Dadurch gab es weniger Momente, in denen ein langer Ball die ganze Abwehr ausgehebelt hat. Für Hertha wird es demnach vor allem darauf ankommen, die Außenverteidiger in Eins-gegen-eins-Duelle zu bringen und von den Flügeln nach innen durchzubrechen oder per Flanke erfolgreich zu sein. Drei-Tore-Lukébakio kann mit seinem Tempo, seiner Physis und seinem Gespür für Tore gegen die Bayern natürlich trotzdem eine große Gefahr darstellen.“
Aussichtslos ist die Lage für Hertha also auch nicht. Zugutekommen könnte dabei auch der Corona-bedingte Ausfall Leon Goretzkas.
Wie wird Goretzka ersetzt?
Wird Goretzka wie in der letzten Woche wieder von Sommer-Verpflichtung Marc Roca vertreten oder darf Tolisso nach seinem Tattoo-Fauxpas ran? Und wie schlagen sich die anderen Sommerneuzugänge?
Justin hat für uns eine ausführlichere Antwort auf diese Fragen gefunden: „Gegen Hoffenheim konnte Roca durchaus überzeugen – allerdings im Kontext seiner aktuellen Situation. […] Mit 24 Jahren ist er immer noch ein junger Spieler, von dem man nicht uneingeschränkt erwarten sollte, dass er sofort ankommt. […] Roca hat vor allem gegen den Ball Probleme, sich an Intensität und Laufwege anzupassen. Er rückt oft zu schnell oder zu langsam heraus, verpasst es, Druck auf den Ball auszuüben oder lässt sich einfach überrennen. Das liegt nicht daran, dass er es nicht besser kann, sondern schlicht daran, dass ihm und Flick die Zeit fehlen. […]
Tolisso konnte als Goretzka-Ersatz zwar auch nicht überzeugen, hat aber immerhin die wichtigsten taktischen Abläufe verinnerlicht und macht weniger Fehler, was die Orientierung gegen den Ball und in Umschaltmomenten angeht. Das wird den Unterschied gemacht haben. Gegen Hertha könnte Roca aber tatsächlich erneut eine Chance bekommen, wenn Tolisso nach seinem Tattoo-Gate zurückkehren sollte.
Bayerns Neuzugänge – Noch nicht angekommen
Was für Roca gilt, gilt natürlich für alle Neuen. Je mehr Zeit vergeht, umso besser funktionieren auch einzelne Abläufe. […] Nüchtern betrachtet hat keiner von den Last-Minute-Einkäufen bisher funktioniert. Das ist für den Status-quo ein großes Problem, weil Flick nur dann unbesorgt im größeren Stil wechseln kann, wenn seine Mannschaft hoch führt. Mittelfristig sollte man Spieler wie Roca oder Choupo-Moting aber nicht fallen lassen. Letzterer ist ohnehin nur für die wenigen Augenblicke gedacht, in denen Lewandowski mal pausiert, während ersterer sich noch weiterentwickeln wird.
Von Costa hat man sich eine Art Perišić-Effekt erhofft – also dass der Spieler ohne große Eingewöhnung sofort auf Bundesliga-Niveau funktioniert. Das trat nicht ein, aber die Leihe wird sowieso im Sommer beendet und dann redet kaum mehr jemand darüber. Vom vierten Flügelspieler ist der Erfolg des FCB nicht abhängig.
Sarr ist tatsächlich der einzige Transfer, der mich mit vielen Fragezeichen zurücklässt. Zwar bin ich nach wie vor der Meinung, dass auch er weiterhin eine faire Chance erhalten sollte, aber ich sehe noch nicht die nötige Qualität, die ein Rechtsverteidiger bei den Bayern braucht. Das ist deshalb so ärgerlich, weil Pavard schon länger in einem Formtief ist.
Sané ist der Neuzugang, den ich am unkritischsten sehe. […] Wenn das aktuell der Sané ist, der noch lange nicht bei 100 % ist, dann freue ich mich umso mehr auf den Top-Sané. […] Die meisten seiner Schwächen resultieren aus Momenten, in denen er eine falsche Entscheidung auf den Platz trifft. […] Bei den Bayern spielt er meist stark eingerückt im Halbraum, muss viele Bälle mit dem Rücken zum Tor kontrollieren und kann seltener sein Tempo von außen einbringen. Darüber hinaus fehlt ihm meist die Unterstützung eines hinter- oder vorderlaufenden Rechtsverteidigers. Ich denke, dass ihn die aktuelle Phase stärker und besser machen wird. […] Und wenn wir ganz ehrlich sind, ist das auch Kritik auf sehr hohem Niveau. Seine Torbeteiligungsquote ist jetzt schon sehr stark und spätestens wenn er eine ganze Vorbereitung mit dem Team hatte, wird er einen Sprung nach vorn machen. Da bin ich sicher.“
Die meisten Bayern-Neuzugänge haben also noch nicht wirklich überzeugt, kommen aber so langsam ins Rollen.
Kurzfristig ist der bisher mäßige Erfolg aber ohnehin noch nicht ins Kontor geschlagen. Denn die Bayern-Achse der letzten Jahre liefert noch immer Spiel für Spiel ab – trotz anstehender Klub-WM auch gegen Hertha, vermutet Justin: „Flick hat im neuen Jahr recht konsequent an der Achse seines Teams festgehalten. Wenn er rotiert hat, dann auf den Außenbahnen. Hier könnte ich mir vorstellen, dass Hernández für Davies beginnt. Vorne wird vermutlich der Würfel darüber entscheiden, welcher der drei Flügelspieler startet und hinten rechts rechne ich eher mit Pavard als mit Süle, wobei letzterer bewiesen hat, dass er eine Option ist. Insbesondere die so wichtige Achse aus Neuer, Innenverteidigern, Kimmich, Müller und Lewandowski wird Flick tendenziell aber nicht verändern.“
Und bei Hertha?
Und wie geht Hertha die Partie an? Am Deadline Day wurden mit Sami Khedira und Leihspieler Nemanja Radonjić noch zwei Last-Minute-Neuzugänge präsentiert, die offensichtliche Schwachstellen beheben sollen. Während Radonjić aufgrund des verletzungsbedingten Ausfalls Javairo Dilrosuns der einzige gelernte Linksaußen im Kader ist, tummeln sich auf Khediras Position im zentralen Mittelfeld einige Konkurrenten. Der deutsche, spanische, italienische und Weltmeister könnte deswegen vor allem als Leader und Mentalitätsspieler gefragt sein.
Fraglich, ob die beiden Wintertransfers nach weniger als einer Trainingswoche schon gegen München beginnen dürfen. Abseits davon hat Dárdai eigentlich wenig Grund, System oder Personal zu wechseln. So fällt Jhon Córdoba weiterhin aus, weswegen Krzysztof Piątek seinen ordentlichen Auftritt gegen Frankfurt und die lobenden Worte Dárdais bestätigen darf. Auch Trainerliebling Marvin Plattenhardt fehlt weiter. Maxi Mittelstädt könnte diesmal gegenüber dem jungen und unerfahrenen Luca Netz den Vorzug und so die Möglichkeit bekommen, seine unglückliche Aktion in der Schlussminute des Hinspiels vergessen zu machen.
Die dárdaische Euphorie ist noch nicht verflogen, die Bayern scheinen in dieser Saison schlagbar und Dárdai sah gegen Bayern sowieso immer wieder gut aus. Aber es bleibt der FC Bayern. Und so warnt uns Justin eindrücklich: „Prozente rausnehmen werden die Bayern […] keinesfalls.“
[Titelbild: Photo by Sebastian Widmann/Getty Images]