Ganz so teuer wurde dieses Jahr die Winter-Shoppingtour bei Hertha BSC nicht. 78 Millionen Euro gab man vergangene Wintertransferperiode für neue Spieler aus, darunter Matheus Cunha, Lucas Tousart, Santiago Ascacibar und Krzysztof Piatek. Dieses Mal gab die „alte Dame“ deutlich weniger Geld aus: Sami Khedira und Nemanja Radonjic sollten die dringend notwendigen Verstärkungen für die Rückrunde darstellen. Wir werfen einen Blick auf den deutlich weniger prominenten Serben, der aus dem krisengebeutelten Olympique de Marseille per Leihgeschäft kommt.
Dabei konnten wir auf die Eindrücke eines echten „OM“-Kenners zählen. Boris (auf Twitter @Marsilien) twittert seit einigen Jahren in deutscher Sprache über den südfranzösischen Verein. Er hat uns dabei geholfen, den jungen Serben besser einzuschätzen.
Radonjic in Marseille – Enttäuschte Erwartungen
Wirklich glücklich wurde Nemanja Radonjic in Marseille nie, wo er ab der Saison 2018/2019 spielte. Warum erklärt uns Boris: „Er kam als vermeintliches Riesentalent aus Belgrad, mit guten Referenzen als Flügelspieler der sowohl Tore als auch Assists schießen kann. Ich denke mal die Idee dahinter war einen Ersatz für (Florian) Thauvin zu haben, der eigentlich einen Wechsel in 2019 in Aussicht hatte.“
„Er hat sich aber nicht so richtig als Ersatz behaupten können“, musste unser Experte feststellen. „Zwar hat er eine gewisse Torgefährlichkeit zeigen können, besonders in schnellen Kontersituationen, aber seine Leistung im Spielaufbau hat Mängel aufgezeigt. Er kam auch dementsprechend zu sehr wenigen Assists. „ Tatsächlich konnte er in der verkürzten Spielzeit 2019/2020 in 21 Einsätzen nur eine Torvorlage abgeben, dafür immerhin fünf eigene Treffer erzielen.
So richtig rund lief es in der laufenden Saison auch nicht. Was ihm vorgeworfen wurde, verrät uns unser Experte: „Es mag hart klingen, aber am meisten wurde seine mangelnde Spielintelligenz kritisiert. Er ist noch ein bisschen unvollkommen, vergisst ein wenig seine Spielpartner. Seine Dribbelstärke und seine Schnelligkeit werden ihm oft zum Verhängnis, weil er oft versucht alleine durchzuziehen, anstatt im richtigen Moment zu passen.“
Allerdings muss Boris auch feststellen: „Die ganze Mannschaft hatte regelmäßige Probleme mit der Offensive, er war nicht der Einzige der es schwer hatte, unsere Stürmer zu finden.” Viel heftiger wurden die hochbezahlten Stars wie Florian Thauvin oder Dimitri Payet kritisiert, die ebenfalls immer wieder enttäuschten.
Von Chaosclub zu Chaosclub
Auch deshalb hinterlässt Radonjic trotz wenigen Einsatzminuten keine schlechten Erinnerungen in Marseille. Im Training sei er „nie schlecht aufgefallen, ich würde sagen dass er ziemlich spielfreudig ist und stets motiviert war“, sagt Boris. „Spielerisch wird er wohl keinen größeren Eindruck hinterlassen, aber er war den Leuten irgendwie sympathisch, er ist so eine Frohnatur. Ich denke mal, dass sich die Leute an ihn erinnern werden. Und er hat doch immerhin das eine oder andere Tor geschossen (sein Meisterwerk ist wahrscheinlich ein Siegestreffer in der Schlussminute gegen Brest).“
Radonjic spielte in der Hinrunde zwölf Partien in der Liga (zwei Tore, eine Vorlage) und zwei in der Champions League. Obwohl der 24-Jährige zuletzt wieder zum Einsatz kam und auch in der letzten Partie gegen Monaco treffen konnte, entschied er sich für den Neustart in Berlin. Dabei wird zusätzlich zur suboptimalen sportlichen und finanziellen Lage möglicherweise die Eskalation der Situation in Marseille zwischen Clubführung und Fans eine Rolle gespielt haben.
Mittlerweile befindet sich „OM“ in einer derart chaotischen Situation, dass selbst Hertha Fans in der Saison 2019/2020 schockiert wären. Am Wochenende stürmten Anhänger gewaltsam das Vereinszentrum und Anfang dieser Woche warf Trainer Vilas-Boas völlig überraschend das Handtuch. Was das angeht ist der serbische Nationalspieler also bestens gerüstet für seine Zeit in Berlin: mit großen Chaosclubs kennt er sich nun aus.
Radonjic – der nächste Serbe in der Hauptstadt
Hertha BSC und serbische Nationalspieler: da war doch was. Tatsächlich dürften einige Hertha-Fans noch schöne Spielszenen mit Marko Pantelic oder Gojko Kacar in emotionaler Erinnerung haben. In jüngerer Vergangenheit war es Marko Grujic, der als Serbe für Hertha BSC auf dem Platz stehen durfte. Letzterer soll tatsächlich auch eine Rolle im Transfer von Nemanja Radonjic gehabt haben.
Herthas Neuzugang erklärte, er sei sofort mit dem Ex-Herthaner in Kontakt getreten. „Marko war tatsächlich der Erste, den ich angerufen habe, nachdem klar war, dass Hertha Interesse hat (lacht). Er hat mir in unserem Gespräch nur das Beste über den Club und die Stadt erzählt, was mich in meinem guten Gefühl bestätigt hat!“, erzählte der 24-Jährige im Interview mit Hertha BSC.
Bis zum Sommer darf der junge Serbe für die „alte Dame“ zunächst auflaufen. Besonders teuer wird dieser Deal für Hertha BSC erstmal nicht. Die Leihgebühr ist wohl (auch mit Einsatz-Boni) unter einer Million geblieben und die Kaufoption sollte in dieser Höhe (12 Millionen Euro) eher eine Sicherheit für „OM“ darstellen. Hertha wird, sollte der junge Serbe überzeugen, am Ende der Spielzeit mit dem französischen Club sicherlich neu verhandeln. Eine ähnlich hohe Kaufoption gab es auch im Leihgeschäft mit Marius Wolf. Auch diese wurde nicht gezogen.
Was für ein Spielertyp ist Radonjic?
Das neue Umfeld scheint für den Serben jedenfalls nicht beunruhigend zu wirken: „Es ist für mich inzwischen auch nichts Neues mehr, an einen anderen Ort zu ziehen und dort anzukommen – daher denke ich, dass ich mich auch schnell an eine tolle Stadt wie Berlin gewöhnen kann und werde!“ Tatsächlich hat der 24-Jährige bereits einige Stationen in Europa hinter sich. Außerdem spielte er in der Champions League und bestritt 20 A-Länderspiele mit Serbien (4 Treffer).
Boris erwähnte bereits seine Schwächen, aber auch seine Stärken: Dribbelstärke, Torgefahr und Schnelligkeit. Letzteres sprach Radonjic in der Pressekonferenz selbst an, und erwähnte, dass er in Marseille bei Leistungstests im Training mit 37 Kilometer pro Stunde geblitzt wurde. Was Hertha sicher besonders helfen wird: der Flügelspieler ist beidfüßig und kann sowohl auf der favorisierten linken wie auch auf der rechten Außenbahn spielen.
Trotz der enttäuschenden Zeit in Marseille traut Boris dem Serben in Berlin etwas zu: „Es kann sich alles ändern, wenn er sich mit seinen Kollegen bei Hertha besser verträgt. Und ich meine auch, dass die Bundesliga ein besseres Spielfeld für solche Stürmerprofile ist, er wird wahrscheinlich nicht so eingeengt wie es in Frankreich der Fall ist.“
Dabei helfen könnte ihm seine Physis. Anders als sein Konkurrent auf der rechten Seite Dodi Lukebakio kann sich Radonjic durchaus auch körperlich durchsetzen. Das kann in der Bundesliga besonders wertvoll werden. So sieht es auch Arne Friedrich: „Er ist ein kleiner Bulle und hat die Robustheit für die Bundesliga”, und wenn Jemand über Robustheit sprechen kann, dann ist das sicherlich Herthas neuer Sportdirektor.
Nemanja Radonjic – für Hertha kein Risiko-Transfer
Obwohl er im Vergleich zu Sami Khedira für deutlich weniger Gesprächsstoff sorgt, sind die Chancen des Serben in den nächsten Wochen in der Startelf zu landen, deutlich größer. Dabei hilft ihm die personelle Situation bei Hertha BSC. Der verletzungsanfällige Javairo Dilrosun, der formschwache Dodi Lukebakio und der noch sehr junge Jessic Ngankam stellen seine stärkste Konkurrenz dar. Hertha hat schon seit dem Sommer 2020 zu wenig Optionen auf den Außenbahnen. Eine solche Alternative haben die Berliner jetzt mit dem Flügelstürmer endlich holen können.
So entschied sich Hertha also doch gegen die sehr teuren Alternativen. Eine Verpflichtung von Milot Rashica (an den Hertha Gerüchten zufolge interessiert war) hätte ähnliche Dimensionen eingenommen, wie vergangenen Winter ein Transfer von Matheus Cunha. Die Berliner gehen also eher einen Schritt zurück. Dieser Transfer erinnert eher an Zeiten vor den Tennor-Millionen. Doch genau das könnte der richtige Weg sein.
Schließlich stecken die Hauptstädter tief im Abstiegskampf und müssen mit Pal Dardai erstmal bis zum Sommer die Wende schaffen. Herthas Spiel wird in dieser Phase wohl nicht mehr revolutioniert werden. Mit Radonjic will man keinen Hurra-Fußball spielen, sondern so schnell wie möglich aus der roten Zone der Tabelle raus. Dabei könnten schnelle und robuste Spieler wie er möglicherweise noch sehr wertvoll werden.
Partygänger oder Instagram-Icon?
Wer den einen oder anderen Fan-Kommentar aus Marseille über Radonjic liest, dürfte sich etwas wundern. Ein Running-Joke scheint zu sein, dass der Serbe besonders feierwütig ist. Die Wahrheit sieht etwas anders aus, wie uns Boris erzählt. „Als er kam, hatte er eine Reputation als Partytyp, weil er in seiner Jugend deswegen vom Nachwuchszentrum von AS Rom geflogen ist. Es gab in Marseille zwar keine Vorfälle, aber er hat irgendwie diese Reputation behalten.“
Hertha-Affine Instagram-Nutzer:innen dürften auch gespannt sein: „Leute haben sich auch über ihn lustig gemacht, weil er auf Instagram einschlägige Frauenfotos geliked hat“, meint unser Experte. „Und dazu passend wäre auch dieses bizarre Video im US-Rapper/ModeIcon Style, das er im letzten Sommer gepostet hat. Ich kann mir vorstellen, dass er in Berlin bestimmt neuen Stoff für seinen Instagram-Account finden wird.”
Auf dem Platz wird Nemanja Radonjic Hertha BSC sofort weiterhelfen müssen. „Ich verspreche mir Tore und Torvorlagen”, hieß es von Arne Friedrich. Eine Garantie gibt es dafür natürlich nie. Ob Nemanja Radonjic wie sein Landsmann Marko Pantelic „die alte Dame“ langfristig prägt, ist vielleicht unwahrscheinlich. Das braucht Hertha BSC aber aktuell gar nicht primär.
Am Ende sind nicht die großen Namen, sondern die Zusammenstellung und die Breite des Kaders entscheidend. Hertha hat dringend einen fitten, schnellen und international erfahrenen Spieler gebraucht, der auf den Außenbahnen mit einer gewissen Sorglosigkeit für Entlastung sorgen kann. Genau einen solchen Spieler haben sich die Hauptstädter jetzt mit Nemanja Radonjic ins Boot geholt.
*Titelbild: IMAGO