Herthas Abstieg 2012: Eine Achterbahn der Gefühle

von Mai 18, 2022

Raffaels Solo, Pyrotechnik, geklaute Elfmeterpunkte und eine schier endlose Ungewissheit in welcher Liga Hertha BSC denn im August starten würde. Die Monate Mai und Juni im Jahre 2012 glichen im Hertha-Kosmos eines jeden Fans einer vollkommen verrückten Achterbahn der Gefühle. Vieles gleicht heutzutage bei Hertha BSC der Situation von 2012. Doch auch interessante Entwicklungen in der gesamten Debatte um Fans, Pyrotechnik und Platzstürme sind im Vergleich zu damals festzustellen.

Markus Babbel, Michael Skibbe und Otto Rehhagel – Ähnlichkeiten zu heute sind vorhanden

Im Sommer 2011 feierte die Hertha den Wiederaufstieg in die Bundesliga. Der Abstieg ein Jahr zuvor galt als unglücklicher Unfall, der mit dem direkten Wiederaufstieg wieder gutgemacht wurde. Und auch die Hinrunde zeigte, die Berliner sind wettbewerbsfähig. Sie spielten sicherlich nicht die Sterne vom Himmel, doch mit einem stabilen Abwehrverbund sammelte man genügend Punkte, um sich im Mittelfeld der Tabelle festzusetzen. Doch Aufstiegstrainer Markus Babbel musste um Weihnachten rum die Koffer packen. Fehden mit der Vereinsführung ließen eine weitere Zusammenarbeit nicht zu. Ein sportlich nicht zu rechtfertigender Schritt, der die Berliner vor viele Fragezeichen stellte.

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Michael Skibbe, seines Zeichens damals ein Trainer, dessen Erfolge schon einige Jahre her waren, sollte die Mannschaft übernehmen und langfristig zum Erfolg führen. Doch den über Zweieinhalb Jahre laufenden Vertrag konnte der nicht ansatzweise erfüllen. Nach vier Bundesliga-Niederlagen und einer weiteren im Pokal verabschiedete sich der ehemalige Co-Trainer der deutschen Nationalmannschaft nach nur 50 Tagen im Amt. Die Hertha, mittlerweile tief im Abstiegskampf angekommen, brauchte eine große Lösung. Einen Namen, eine Person, die das Mediengewitter auf sich zog und dafür sorgen konnte, dass die weiteren Störfeuer im Verein keine Beachtung fanden. Mit der Hilfe von René Tretschok und Ante Covic wollte die Trainer-Legende Otto Rehhagel das Ruder rumreißen und die Mannschaft in der Bundesliga halten. Bei der Trainer-Wahl und den jeweiligen Begleitumständen lässt sich eine gewisse Gemeinsamkeit zur Situation 10 Jahre später nicht leugnen.

Die Wochen unter Rehhagel waren ein Schlagzeilen-Feuerwerk für die Berliner Medienlandschaft. Der Altmeister lieferte Sprüche für die Gazetten, erzählte von privaten Geschichten und versuchte gute Laune zu verbreiten. Das Spiel der Hertha sollte er allerdings nicht nennenswert verbessern. Doch trotz allem gelang es der Mannschaft um Raffael, Patrick Ebert und Co das Rennen um den Klassenerhalt offen zu halten. Am 34. Spieltag kam es zum Fernduell gegen den auf Platz 16 stehenden 1. FC Köln um den Relegationsplatz. Während die Mannschaft um Lukas Podolski gegen den FC Bayern München eine deutliche 1:4-Klatsche einstecken musste, hatte Hertha BSC die TSG 1899 Hoffenheim zu Gast. Die über 50.000 Fans bekamen im Berliner Olympiastadion ein Spiel zu sehen, welches von einer konzentrierten Hertha-Mannschaft dominiert wurde. Die TSG, die sich im Tabellen-Mittelfeld festgesetzt hatte und mit der Saison durch war, spielte trotzdem fleißig mit. Änis Ben-Hatira sorgte mit einem Doppelpack nach 78 Minuten für eine komfortable 2:0-Führung. Doch Hertha bewies, weshalb man um den Klassenerhalt bangte und kassierte in der 85. Minute unnötiger Weise den Gegentreffer zum 1:2 durch Marvin Compper. Die letzten Minuten des Spiels zogen sich hin, in den letzten Sekunden des Spiels sollten die Sinsheimer noch eine Ecke bekommen. Würde die zu einem Torerfolg führen, wäre die Hertha trotz der Kölner Niederlage gegen die Bayern abgestiegen. Doch die zu hoch getretene Ecke leitete Herthas Konter auf das leere Hoffenheimer Tor ein. Raffaels Lauf über 50 Meter, sein Abschluss ins leere Tor, die feiernde Mannschaft und die eskalierende Stimmung im Olympiastadion sind bis heute unvergessen und hatten das Potential eine Energie freizusetzen, die die Mannschaft durch die folgende Relegation hätte tragen können, schließlich war die Mannschaft deutlich besser aufgestellt als der kommende Gegner aus Düsseldorf.

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Hertha verliert in klassischer Hertha-Manier das Hinspiel

Über 68.000 Fans fanden sich am jenen Donnerstag-Abend im Olympiastadion zusammen. Die Stimmung kochte, wieder einmal war alles dafür angerichtet, das wohl wichtigste Spiel der jüngeren Vereinsgeschichte zu einem positiven Ergebnis zu führen. Und zunächst sah es auch danach aus. Die Hertha dominierte den Beginn der Partie und feierte nach 19 Minuten dank des damaligen Kopfballungeheuers Roman Hubnik die Führung. Nach einer Ecke von Ben-Hatira nickte der tschechische Innenverteidiger ein und ebnete so den Weg.

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Doch als wäre so etwas bis heute in der Hertha-DNA, schafften es die Berliner schon damals nicht, etwas Positives aus dem frühen Führungstreffer herauszuholen. Zwar erarbeitete sich das Team weiterhin zahlreiche Chancen, doch ein zweites Tor sollte nicht gelingen. Und für die vielen ausgelassenen Möglichkeiten wurde die Hertha – natürlich, so will es das Fußballgesetz – eiskalt bestraft. In der 64. Minute musste auch Torhüter Thomas Kraft hinter sich greifen und wenige Minuten später, in der 71. Spielminute, verlängerte Adrian Ramos eine Freistoßflanke der Düsseldorfer unglücklich ins eigene Tor. Die geschockten Berliner konnten die Niederlage nicht mehr abwenden, Ronny scheiterte mit einem wuchtigen Distanzschuss noch am Pfosten. Die kalte Dusche war perfekt, es war die psychologisch denkbar schlechteste Ausgangsposition, in die sich die Spieler gebracht hatten. Die gute Stimmung aus dem Hoffenheim-Spiel war vollkommen verloren gegangen.

Vier Tore, ein Platzverweis und Pyrotechnik: Ein denkwürdiges Rückspiel

In den folgenden Tagen gelang es der Hertha zumindest etwas zur Ruhe zu kommen. Am Wochenende fand in Berlin das DFB-Pokalfinale statt. Borussia Dortmund, das zuvor zum zweiten Mal in Folge den Meistertitel feierte, besiegte in einem denkwürdigen Spiel den FC Bayern München mit 5:2 und durfte sich damit auch Double-Sieger nennen. Die Medien hatten dieser Tage andere Themen als Hertha. Es ging um eine mögliche Wachablösung im deutschen Fußball, um die große Krise der Bayern und darum, was Jürgen Klopp und Mario Götze für riesige Typen waren.

Konzentriert und fokussiert ging es nach Düsseldorf in die Esprit-Arena. Und dort herrschte eine gewaltige Stimmung. Eine laute, geladene und heiße Stimmung. Die Düsseldorfer Fans, unter ihnen Edel-Fan Campino, wollten den Aufstieg ihrer Fortuna nach 15 Jahren Bundesliga-Abstinenz sehen. Mit 51.000 verkauften Karten war die Arena restlos ausverkauft. Und die Düsseldorfer Spieler schafften das, was den Hertha-Spielern im Hinspiel nicht gelungen war. Die Stimmung auf das eigene Spiel zu übertragen. Und das zeigten sie eindrucksvoll von Beginn an. Das Spiel war keine halbe Minute alt, als Maximilian Beister mit einem wuchtigen Distanzschuss das Führungstor für die Düsseldorfer erzielte.

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Die Hertha zeigte sich sichtlich beeindruckt, doch es gelang der Mannschaft einen offenen Schlagabtausch zu gestalten. Das Spiel wurde körperbetonter und emotionaler. Nach 22 Minuten köpfte Änis Ben-Hatira nach einem Freistoß Ronnys zum Ausgleich ein. Die Hiobsbotschaft sollte in der 54. Minute folgen, als der Torschütze wegen eines gelbwürdigen Fouls mit gelb-rot vom Platz flog.

Die Fans feiern zu früh: Das Spiel steht vor dem Abbruch

Es war die Eröffnung der großen und denkwürdigen Szenen, die sich in die Köpfe aller Zuschauer*Innen bis heute gebrannt haben. Denn nur fünf Minuten später konnten die Düsseldorfer ihre Überzahl ausnutzen und erneut in Führung gehen. Es folgte eine riesige Explosion der Gefühle in alle Richtungen. Auf beiden Seiten wurde fleißig Pyrotechnik gezündet, Feuerwerkskörper krachten laut unter dem Dach der Düsseldorfer Arena, viele Bengalos landeten auf dem Spielfeld. Das Spiel drohte abgebrochen zu werden, man entschied sich für eine Fortsetzung.

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Und die Spieler beider Mannschaften kämpften. 85. Minute, Raffael und Adrian Ramos kombinieren sich durch den Düsseldorfer Strafraum. Der Brasilianer schießt flach auf das Tor und schafft es die Düsseldorfer zumindest für einen Moment zum Schweigen zu bringen. Das Spiel war ausgeglichen und auf des Messers Schneide. Es war vollkommen offen, in welche Richtung es gehen sollte. Die Fans machten weiterhin Stimmung, eine ganze Hundertschaft der Polizei stellte sich bereits vor dem Block der Herthaner auf.

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Dass das keine wirklich deeskalierende Maßnahme war, hätte auch damals schon allen bewusst sein müssen und bekanntlich sollten wenige Minuten später nicht die Hertha-Fans der Grund für die nächste Unterbrechung sein. Ab Anbruch der sieben-minütigen Nachspielzeit war an eine geregelte Durchführung des Spiels kaum noch zu denken. Düsseldorfer Fans standen dicht gedrängt bereits am Spielfeldrand, an den Spielerbänken, in den Coachingzonen und sprangen praktisch im Sekundentakt von der Tribüne in den Innenraum. Man will es ihnen zehn Jahre später mit Blick auf die damaligen Szenen nicht verdenken, schließlich ging es um das größte Ereignis der jüngeren Düsseldorfer Vereinsgeschichte, allerdings hatte die Situation einen bedeutenden Einfluss auf den Spielverlauf. Fünf Minuten der Nachspielzeit waren abgelaufen, als sämtlichen Beteiligten die Situation vollkommen entglitt. Die zahlreichen Fans, die siegestrunken am Spielfeldrand standen, missverstanden einen Pfiff von Schiedsrichter Wolfgang Stark als Abpfiff. Die Menge war unaufhaltsam, stürmte den Platz und wollte den vermeintlich soeben gesicherten Aufstieg ihrer Mannschaft feiern.

Die Szenen überschlugen sich. Spieler und Schiedsrichter, Journalisten und Fotografen und Funktionäre suchten so schnell es ging den Innenraum des Stadions, Fans feierten, zündeten Bengalos auf dem Feld, während der Stadionsprecher die Fans per Mikrofon zurück auf die Tribüne bat. Ordner und Polizisten versuchten die Leute unter Kontrolle zu bringen und die Eingänge der Stadioninnenräume abzusichern, um so schnell es geht wieder für Ruhe zu sorgen.

Nach knapp 20 Minuten Unterbrechung fanden sich die Mannschaften wieder auf dem Feld ein, dessen Rasen mittlerweile stark ramponiert war. Einige der Fans, die sich zumindest friedlich wieder hinter die Werbebanden begeben haben, hatten sich bereits Andenken mitgenommen. Ein Elfmeterpunkt war bereits verschwunden. Die restliche Spielzeit sollte keine Wende mehr bringen, nach nicht einmal zwei Minuten beendete Schiedsrichter Stark die Partie beim Stand von 2:2. Fortuna Düsseldorf war aufgestiegen, die Emotionen der Fans fanden erneut kein Halten mehr. Der nächste und nun auch geduldete Platzsturm folgte. Der Aufstieg wurde gebührend gefeiert, auf der Tribüne sang Campino seinen Hit „An Tagen wie diesen“, der aus allen Stadionboxen dröhnte, begeistert mit.

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Die Nachwirkungen verstummten lange nicht

Bereits in den nächsten Minuten und Stunden des Abends und vor allem in den folgenden Tagen überschlugen sich die Ereignisse. Hertha BSC wollte sich nicht einfach geschlagen geben, vor sämtliche juristischen Instanzen ziehen und die Ungerechtigkeit und Störung der Fans nicht einfach hinnehmen. Gegen Herthas Spieler Christian Lell und Levan Kobiashvili wurde ermittelt, in den Katakomben soll es während der Unruhe zu einer Auseinandersetzung mit dem Schiedsrichtergespann gekommen sein. Kobiashvili soll Wolfang Stark gar geschlagen haben. Die Folge war eine Sperre über ein halbes Jahr. Bis heute handelt es sich um die längste Strafe, die im deutschen Profifußball verhängt wurde.

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Trainer Otto Rehhagel sprach in den Tagen danach von Todesängsten, die seine Spieler hatten, als man vor den Fans flüchtete. Aussagen, die in Anbetracht der relativ friedlichen Partystimmung unter den Fans, für Schmunzeln sorgten. Hertha BSC kämpfte um Gehör und Recht. Es dauerte über einen Monat, bis Herthas Verantwortliche Mitte Juni den Abstieg endgültig akzeptierten. Hertha hatte da bereits mit Jos Luhukay einen neuen Trainer, Fortuna Düsseldorf unterbrach gar die Sommerpause und fing wieder mit dem Training an, weil eine Wiederholung des Rückspiels ernsthaft zur Debatte stand. Diese schier endlose Posse vor sämtlichen Gerichten ließ den Abstieg als ein surreales Ereignis erscheinen. Schließlich war das entscheidende Spiel schon einige Wochen her und als Fan konnte man sich bereits damit abfinden, welche Entscheidung wohl gefällt werden würde.

In den letzten zehn Jahren haben viele Debatten gefruchtet

Wer sich noch an die Szenen von damals erinnern kann oder sich eben jene bei YouTube zum Teil in voller Länge anschaut, wird feststellen, dass sich in den letzten zehn Jahren viel verändert hat in der deutschen Debattenkultur. Die Fangruppierungen in Deutschland haben mit viel Geduld und ebenso vielen Diskussionen mittlerweile für ein Umdenken gesorgt. Die Fankultur wird weniger pauschal kriminalisiert, Polizeieinsätze sind bei weitem noch nicht im gewünschten Intensitätsbereich, aber auch da wurden entsprechende Instanzen sensibilisiert. Pyrotechnik gilt nicht mehr als die Waffe der „Taliban des Fußballs“, wie früher auch gerne Ultra-Gruppierungen in klassischen deutschen Talkshows bezeichnet wurden. Sie ist zwar noch immer nicht erlaubt, doch die zündelnden Personen zeigen, dass sie in der Lage sind, die Fackeln ohne andere Menschen zu verletzen, zu nutzen.

Fanausschreitungen gibt es immer noch und sie wird es auch vermutlich immer geben, doch pauschale Kollektivstrafen gehören in den allermeisten Fällen ebenfalls der Vergangenheit an. Der damalige Platzsturm war aufgrund der Umstände hochproblematisch und hätte entsprechend hart sanktioniert werden müssen. Allerdings und das war auch damals ein Diskussionspunkt, es handelte sich um keine kriminellen Gestalten, die dort ihre Freude zum Ausdruck brachten. Es waren Fans aller Altersklasse, jeden Geschlechts und mit einem einzigen Gedanken: Die Düsseldorfer Aufstiegsfeier. Gerade in den letzten Wochen haben wir in zahlreichen Stadien Platzstürme dieser Art gesehen. Sie werden in keiner Weise mehr kriminalisiert. Zurecht. Es droht eher, dass der nächste Platzsturm mit einem müden Lächeln abgetan wird und schon bald als verpönt gilt

[Titelbild: PATRIK STOLLARZ/AFP/GettyImages]

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ÜBER DEN AUTOR

Johannes Boldt

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