Es war so ein typischer Move von Pal Dardai. Der ungarische Trainer von Hertha BSC, der “Männerfußball” dem normalen vorzieht und zu Hause gerne mal ein ganzes Schwein isst, verbot seinem Team nach 120 Minuten Leidensfußball im DFB-Pokal gegen die Bayern einfach mal das Jammern.
Der Jammer-Impuls war groß
Zum Mäuse melken: Rune Jarstein nach dem 2:3 gegen die Bayern. (TOBIAS SCHWARZ/AFP/Getty Images)
Vielleicht hatte er seinen mittlerweile nur noch selten genutzten Twitter-Account (letzter Tweet am Tag nach Heiligabend) am Abend vor dem Einschlafen dafür verwendet, mal in die blau-weiße Fanseele reinzuhören. Denn auch wenn es die Presseabteilung von Hertha BSC nach dem 2:3 gegen den Rekordmeister versucht hatte, anders darzustellen: Das Pokal-Aus wirkte aufgrund der Art und Weise, dass Hertha 117 Minuten nur hinterhergelaufen war, wie eine vertane Chance. Verbunden mit dem 0:1 gegen Wolfsburg ein paar Tage zuvor, war der Impuls zu Jammern, zumindest bei mir, wieder mal sehr groß.
Und während ich mir noch vorstellte, wie Valentino Lazaro sich nach gefühlten 400 Hüftwacklern und danach gelungenen Flanken von Kingsley Coman und später Franck Ribery in die Fötusstellung begibt und von Dardai einen Tag später unsanft in den Schnee geschmissen wird, da schwang sich die Mannschaft – ohne den gesperrten Lazaro, dafür mit einem aus dem Hut gezauberten Lukas Klünter – zu einem Auftritt auf, den ich ihr nicht mal in einer perfekten Parallelwelt zugetraut hatte. 3:0 in Gladbach?! Keinen Cent, nicht mal einen am Straßenrand liegenden Kiefernzapfen hätte ich darauf gesetzt. Ich hatte nach dem anstrengenden Pokalabend vielmehr das genaue Gegenteil erwartet.
Meilenweit drunter her
Aber ich schrieb es ja am Anfang der Saison: Die Sache mit den Erwartungen ist bei Hertha so eine Sache. Dieser Verein hat in den letzten zehn Jahren eine Kunst daraus entwickelt, Erwartungen, sobald sie auch nur über ein „Dit wird eh nix“ hinausgehen, meilenweit zu unterlaufen. Immer wenn man glaubt, jetzt sind sie stabil und sollten am Wochenende eigentlich gewinnen, verlieren sie 1:2 in Stuttgart oder 1:4 in Düsseldorf. Entspannt zurücklehnen? Das geht für Hertha-Fans nur noch außerhalb der Saison.
Aber dann gibt es auch wieder solche wie Spiele wie am Wochenende in Gladbach oder wie vor ein paar Monaten zu Hause gegen die Bayern. Spiele, vor denen du nicht mal Gegenwehr erwartest, weil Hertha nüchtern betrachtet gegen solche Gegner – entweder wegen ihrer individuellen Qualität oder wegen ihres Laufs – eigentlich keine Chance hat. Spiele, vor denen du dir genau überlegst, ob du sie dir überhaupt anschaust, weil Quälen lassen kannst du dich ja auch beim Zahnarzt.
Herrlich – und deprimierend
Gemeinsam erfolgreich: Hertha nach dem 3:0 in Gladbach. (Maja Hitij/Bongarts/Getty Images)
Und dann gewinnen sie nicht nur, nein, sie sind taktisch besser, sie lassen defensiv bis auf eine Aktion gar nichts zu, sie schenken einem Gegner drei Tore ein, der in diesem Jahr noch gar keins kassiert hat und holen drei Punkte aus einem Stadion, in das man zehn Jahre lang eigentlich nur gefahren ist, weil es halt auf dem Spielplan stand. Sie schießen Tore, die jedes für sich wunderschön sind, eine traumhafte Einzelleistung, ein Konter, bei dem Davie Selke mal zeigen konnte, was er eigentlich alles kann und endlich auch mal wieder ein Standard, der das Spiel zumachte. Herrlich!
Und gleichzeitig auch deprimierend. Denn solche Leistungen sind es, die dich drei Wochen später bei 5 Grad im Olympiastadion wieder verzweifeln lassen, wenn gegen Mainz gar nichts mehr funktioniert. Wenn sie wieder so spielen, als hätten sie sich monatelang nicht gesehen. Stockfehler hier, Verstolperer da. Na gut, dann verlieren wir halt …
Wie eine Affäre
Man muss diesen Verein schon sehr ins Herz geschlossen haben, um nicht an den Erwartungen zu zerbrechen. Hertha gibt sich wie diese eine Affäre, die dir an einem Abend Hoffnungen macht, dass sie wirklich eines Tages mit dir durchbrennen wird und dir an einem anderen Tag zwanzig Minuten vor dem gemeinsamen Karibik-Urlaub absagt, weil sie halt doch keine Lust hat. Völlig unzuverlässig. Eigentlich unliebbar. Und doch irgendwie geil.
Denn wenn man so will, ist Hertha auf sehr bescheidenem Niveau das, was im Fußball seit einigen Jahren alle suchen. Eine Mannschaft, bei der alles passieren kann, bei der auch manchmal alles passiert, aber sehr oft eben auch nichts. Ein sehr großer Haufen Unberechenbarkeit. Mehr kann man heutzutage nicht erwarten.
[Eine Kolumne von Daniel Otto]