Hat Tayfun Korkut als Hertha-Trainer fertig? „Wer will, wer will, wer hat noch nicht?“, fragt man sich als Hertha-Fan mittlerweile regelmäßig während der Spiele. Es ist völlig egal wer auf dem Rasen steht, es ist egal wie der Gegner heißt, am Ende bricht die Gruppe – und in diesem Fall traut man sich kaum noch von Mannschaft zu sprechen – immer wieder auseinander und zeigt regelrecht Auflösungserscheinungen. Der Blick richtet sich immer mehr auf den Trainerposten.
Viele Startelfänderungen von Korkut, kein Effekt
Aber der Reihe nach. In einem mit 25.000 Zuschauer unter den aktuellen Bedingungen gut gefüllten Olympiastadion spielte die „Alte Dame“ gegen die Frankfurter Eintracht und wollte ein weiteres Mal den Versuch unternehmen, endlich den ersten Dreier im Jahr 2022 einzufahren. Wie zuletzt in verlässlicher Regelmäßigkeit stellte Trainer Tayfun Korkut die Spieler in der 4-3-3-Formation auf und wollte damit über die Außen für Gefahr sorgen.
Beim Blick auf die Startelf gab es einige Änderungen, die zum Teil nachvollziehbar waren, zu einem gewissen Maße aber auch stutzig machten. Im Tor stand wie gegen den SC Freiburg Marcel Lotka, an Stelle des sich noch in Quarantäne befindenden Alexander Schwolow. Der im Breisgau schwer überforderte Fredrik André Björkan wurde ersetzt durch Maximilian Mittelstädt, der seine Corona-Infektion überstanden hatte.
In der Innenverteidigung macht der zuletzt meist überzeugende Youngster, aber möglicherweise noch angeschlagene Linus Gechter Platz für Marc-Oliver Kempf, der nach seiner Rot-Sperre wieder zurück in die Startelf rotierte. Kapitän Dedryck Boyata und Peter Pekarik komplettierten die Verteidigung. Während das zentrale Mittelfeld seit einigen Spielen unverändert bleibt, gab es eine Veränderung im Sturm, die durchaus für Aufsehen sorgte. Statt des nimmermüden und mit viel Einsatz zu gefallenen Ishak Belfodils durfte Neuzugang Dung-Jun Lee zum ersten Mal von Anfang an spielen.
Viel ändern sollten die neuen Kräfte im Vergleich zu den letzten Spielen allerdings nicht. Sang- und klanglos wurde man von Frankfurt zeitweise vorgeführt. Doch auch nach diesem Spiel gibt es noch einen Funken Hoffnung. Wir gehen heute auf die katastrophale Verteidigung ein, wer anscheinend völlig überfordert ist und auf wen und was man im Abstiegskampf setzen muss, um die Klasse zu halten.
Marc Oliver Kempf und Dedryck Boyata: Habt ihr euch schon einmal gesehen?
Kaum zu glauben, aber schon wieder musste Hertha eine neue Innenverteidigung bilden. Möglicherweise setzte der Pferdekuss aus dem Spiel gegen Freiburg Linus Gechter immer noch so sehr zu, dass für ihn nur ein Platz auf der Bank in Frage kam. Alles andere wäre fragwürdig gewesen, wo doch Gechter in den letzten Spielen der beste Verteidiger war und ein weiteres Zerreißen der Verteidigung nur für Unsicherheit sorgen würde.
Aber eigentlich handelt es sich bei Marc Oliver Kempf und Dedryck Boyata um gestandene Verteidiger, die schon viele Schlachten geschlagen haben, die Bundesliga kennen und zu Leistungsträgern des Vereins gehören. Dedryck Boyata ist Kapitän und belgischer Nationalspieler. Von all dem sah man herzlich wenig. Es wirkte, als hätten die beiden sich noch nie zuvor gesehen. Es war zwar auch das erste Spiel, welches die beiden gemeinsam absolviert hatten, doch auch von Spielern dieser Klasse sollte besseres abgerufen werden.
Die Kommunikation war nur selten vorhanden und beide leisteten sich haarsträubende Fehler, wie Kempf, als er schon in der 6. Minute einen völlig unnötigen Fehlpass spielte, den er zwar selbst wieder ausbügelte, doch solche Szenen zeigen auch seine Verunsicherung. Boyata leistete sich Ballverluste, wie in der 15. Minute gegen Borré und konnte in keiner Weise für die dringend notwendige Stabilität sorgen, die es gebraucht hätte. Beide haben mit 84 Prozent angekommener Pässe – in Boyatas Fall 77 Prozent – zwar ganz gute Passquoten, doch zu viel davon stammt vom ideenlosen Hintenrum-Spiel. Beide leisteten sich über zehn Ballverluste. Wie soll so eine Verteidigung im Spielaufbau die Mitspieler in Szene setzen können? Auch die Versuche mit langen Bällen die Angriffe zu starten, verpufften praktisch. Nur drei von acht langen Bällen kamen an.
Boyata selbst hatte seinen dunkelsten Moment des Tages als er in der 63. Minute in keiner Weise seine Klasse zeigen konnte, sich von Borré und Kamada völlig überspielen ließ und durch seinen Sturz zu Boden keinerlei Eingriffschance mehr beim endgültigen Todesstoß zum 1:4 hatte. Zusammen konnten sie zwar auch noch fünf Bälle klären, drei weitere Schüsse des Gegners blocken und somit eine noch höhere Klatsche verhindern, aber ihre Überforderung ist schwer in Worte zu fassen.
Dong-Jun Lee: Eine bemitleidenswerte Überforderung
Der Wechsel des Südkoreaners nach Berlin ist sicherlich eine interessante Perspektivverpflichtung, die Fredi Bobic da getätigt hat. Doch es muss noch viel passieren, bis Lee ein Bundesligaspieler wird und Hertha helfen kann. In der aktuellen Situation hat man Mitleid mit ihm.
Gegen eine Abwehrkante wie Evan N’Dicka hatte er praktisch keine Chance, war überfordert und konnte seinen einfach zu schmächtigen und leichten Körper kaum nutzen, um in Zweikämpfe zu gehen. In der 32. Minute hatte aber auch Lee Pech mit dem Schiedsrichter, als der Einsatz N’Dickas unbeachtet blieb. Für Freiburg gab es in der letzten Woche für weniger Elfmeter. Hier hätte der Einsatz des VAR durchaus für Fairness gestanden. Das Schiri-Pech gehört für die Hertha in dieser Saison dazu wie das blau-weiße Trikot. Es ist verrückt, wie viele brenzlige Aktionen immer gegen beziehungsweise nie für die Mannschaft gepfiffen werden.
Dong-Jun Lee hatte 22 Ballaktionen, immerhin konnte er alle seine sechs Pässe an den Mann bringen. Dazu kommen allerdings auch acht Ballverluste und nur ein gewonnener Zweikampf von acht. Sein Mehrwert für die Offensive ging gen null und es ist zu hinterfragen, weshalb er an Stelle von Ishak Belfodil spielen durfte. Seine überforderte Performance mündete letztendlich sogar darin, dass er mit zunehmender Spieldauer kaum noch ins Spiel der Hertha eingebunden wurde und die Offensive versuchte den Angriff ohne ihn aufzubauen. Nach 56 Minuten wurde er für Kevin-Prince Boateng ausgewechselt.
Marcel Lotka: Auf Teamniveau innerhalb eines Spiels
Gegen Freiburg war er noch als positives Beispiel zu sehen. Er zeigte, was im Team fehlte: Ehrgeiz, Bock auf Hertha, Motivation. Doch all das scheint innerhalb einer Woche weg zu sein. Dem nach Dortmund wechselnden Lotka ist nach diesem Spiel nun auch eine schwache Leistung vorzuwerfen.
Seine so hochgelobte Kommunikation ließ sehr schnell nach, seine Abwehr konnte er kaum noch pushen und auch im Tor konnte er sich dieses Mal nicht so auszeichnen wie noch gegen Freiburg. Immerhin war er 43 Mal am Ball, versuchte die Bälle gewissenhaft zu verteilen oder mal einen Angriff einzuleiten, doch es verpuffte nahezu alles wirkungslos. Während seine sehr gewagten Ausflüge aus dem Strafraum mit zusätzlichen Fehlpass gegen Freiburg noch unbestraft blieben, leistete er seiner Mannschaft gegen die Eintracht einen kapitalen Bärendienst.
In der 56. Minute lief er völlig ohne Not und in fehlender kommunikativer Absprache mit seiner Verteidigung, insbesondere Boyatas, aus dem Strafraum, um die Situation zu klären. Doch sein Fehlpass war die hervorragende Einladung an Lindström, der per feinen Heber das vorentscheidende 3:0 für Frankfurt erzielte. Marcel Lotka ist damit innerhalb einer Woche auf das verunsicherte Niveau der Mitspieler gefallen.
Davie Selke, Maxi Mittelstädt und Lucas Tousart: Die Einstellung stimmt
Irgendwo muss man die Hoffnung suchen. Immerhin geben sich nicht alle auf, das kann und muss man festhalten. Nach dem Spiel gaben Marc Oliver Kempf und Davie Selke bei Sky-Interviews, die einerseits voller Frust, aber eben auch voller Wahrheit waren. Es muss was geschehen, sonst wird es dunkel. Doch es stellt sich die Frage, ob sich ein Kempf, der eine mehr als schwache Leistung gegen Frankfurt zeigte, solch große Töne spucken und über Statisten reden sollte, während er selbst der Mannschaft in keiner Weise Stabilität bietet.
Davie Selke ist wahrlich kein Leistungsträger und auch keiner der in den letzten Jahren Bundesliganiveau zeigte. Weshalb es immer etwas bizarr anmutet, wenn er versucht, die Mannschaft anzufeuern. Aber immerhin tut er es. Sein Tor ist eines der schönsten Tore der Hertha in dieser Saison. Ein starker Volley. Der Ball ist ihm aber auch in dieser Situation sehr dankbar vor den Fuß gelegt worden. Es war ein Zufallsprodukt, wie wir es bei Hertha in dieser Saison so oft hatten. Er kam in der 56. Minute für Vladimir Darida in die Partie um noch irgendwas in der Offensive ausrichten zu können. Er rieb sich auf, könnte den einen oder anderen Ball verteilen. Immerhin brachte er sieben seiner elf Pässe zu den Mitspielern. Auch seine vier gewonnen Zweikämpfe zeigen, dass er sich kämpferisch gibt. Doch was nützt all das, wenn sich die Mannschaft nach dem einzigen Hoffnungsschimmer, direkt wieder niederringen lässt?
Lucas Tousart scheint die Situation und Lage verstanden zu haben. Immerhin kämpft er, wirkt wacher und nicht mehr so lethargisch und überfordert, wie in den vielen Wochen und Monaten zuvor. 12,11 km lief er, mehr als jeder andere. Doch auch seine Statistiken zeigen zu wenig Ertrag. 17 Ballverluste, nur fünf von elf gewonnenen Zweikämpfen. Das ist zu wenig. 57 Prozent seiner Pässe kamen an. Nur einer seiner sechs langen Bälle kam beim Mitspieler an. Statistisch war Tousart keine Hilfe, das muss man festhalten, aber er zeigt, was Einsatz ist und was Abstiegskampf bedeutet. Es wäre schön, wenn es ihm gelänge, das in Konstanz umzumünzen.
Maximilian Mittelstädt hatte zuletzt gefehlt. Und das sehr. Aktuell ist er das Herz der Mannschaft, so viel Leidenschaft, wie er noch versprüht. Und es gibt wenige bei Hertha, die die Fans gerade so mitreißen können, wie er. Er war wieder einer der aktivsten, hatte 69 Ballaktionen, gewann fünf Tacklings, 85 Prozent seiner 33 Pässe kamen beim richtigen Adressaten an. Er gewann neun seiner zwölf Zweikämpfe, eine vernünftige Quote. Doch auch er verlor wie seine Mitspieler zu viele Bälle. 13 an der Zahl waren es letztendlich.
Sein Ausraster vor der gelben Karte in der 74. Minute war die Gefühlswelt der Hertha-Fans, die den Frust im Abstiegskampf Woche für Woche spüren. Man merkt, wie nahe Mittelstädt die aktuelle Situation geht. Er ist in dieser Saison enorm gereift und zum Führungsspieler gewachsen und wird in den nächsten Wochen eine sehr wichtige Komponente im Abstiegskampf werden.
Korkut: Die Hoffnung stirbt zuletzt, doch sie schwindet
Von Anfang an lief die Hertha dem Ball hinterher. Die Spieler spielten, als hätten sie Zementsäcke an den Beinen, waren mit allem was sie taten überfordert und mit dem Kopf ganz weit weg. Es kamen schwerwiegende individuelle Fehler dazu. Aber was über allem steht, ist, dass diese Mannschaft keine Mannschaft ist und auch nicht die Qualität für ein gutes Bundesliga-Spiel hat.
Hertha hat mittlerweile die schlechteste Punkteausbeute der Rückrunde. Der VfB Stuttgart hat den Abstiegskampf angenommen und beginnt zu punkten, genauso wie alle anderen, die unten stehen. Nur noch einen Punkt sind die Schwaben dahinter und sind drauf und dran, die Lichter in Berlin immer dunkler zu schalten. Fredi Bobic wollte sich nach dem Spiel nicht äußern, weshalb, darf gemunkelt werden. Tayfun Korkut, der wieder einmal eine klägliche Figur im Interview abgab, hat keine Argumente auf seiner Seite, scheint gänzlich das Team verloren zu haben. Die Frage, ob er es jemals wirklich erreicht hatte, muss gestellt werden, bei einer Gegentorflut, die ihres Gleichen sucht. Hoffnung macht der Einsatz Einzelner.
Zusätzlich waren Spieler wie Marc Oliver Kempf und Davie Selke nach dem Spiel sehr offen und haben klar gesagt, dass sich etwas ändern muss. Allerdings befinden wir uns mittlerweile in einem Teil der Saison, wo Interviews rein gar nichts mehr bringen. Leistung und Einsatz müssen abgerufen werden und wenn das nur von einigen wenigen kommt, ist es zu wenig im Abstiegskampf.
[Titelbild Maja Hitij/Getty Images]